
In seinem Lexikonartikel „Leiden/Theodizee“ aus dem Praktischen Lexikon der Spiritualität (hg. von Christian Schütz, Freiburg 1988) schreibt Jürgen Moltmann:
Von Jürgen Moltmann
Die Gottesfrage ist mit der Erfahrung von Leiden zutiefst verbunden. Auf der einen Seite rufen Menschen im Leiden nach Gott und fragen nach Sinn im Sinnlosen. Auf der anderen Seite macht der Glaube an Gott das Leiden zum bewußten Schmerz, so daß man sich nicht länger mit ihm abfinden kann. Läßt Gott das Leiden der Menschen zu? Nimmt der Mensch in seinem Leiden am Schmerz Gottes teil? Die erste Frage ist die metaphysische Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens (Theodizee). Die zweite Frage ist die mystische Frage nach der Gottesgemeinschaft im Leiden.
Der Begriff der Theodizee geht auf G. W. v. Leibniz zurück. Klassisch hatten jedoch schon die Philosophen der Stoa die Theodizeefrage formuliert: Si Deus – unde malum? und geantwortet: Entweder will Gott das Böse verhindern, kann es aber nicht, dann ist er gut, aber nicht allmächtig, oder Gott kann das Böse verhindern, will es aber nicht, dann ist er allmächtig, aber nicht gut. Solange Gott als der allmächtige Herr über Leben und Tod und als der Lenker der Geschichte und jedes einzelnen Menschenlebens begriffen wird, bleibt die Theodizeefrage unbeantwortbar. I. Kant faßte sie allgemein und verstand sie als die Frage nach der „Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt“. Er wies mit Vernunftgründen nach, daß jede Theodizee zum Scheitern verurteilt ist, weil sie die Grenzen der endlichen Vernunft der Menschen übersteigt.
In der Geschichte der Religionen und Philosophien finden wir immer wieder zwei Lösungen:
- die dualistische Vorstellung von einem guten und einem bösen Prinzip, die in der Welt miteinander ringen. In diesem Kampf müssen sich die Menschen auf die Seite des guten Prinzips stellen. Alles Gute kommt von Gott, alles Böse und alle Übel kommen vom Gegengott. Dieser Dualismus war im Parsismus, im Manichäismus und im jüdischen und christlichen Apokalyptizismus lebendig.
- Die monistische Vorstellung: Nur das Gute ist, das Böse ist nicht. Alles Seiende ist gut. Das Böse ist ein Mangel an Sein oder eine Vernichtung von Sein. Es hat keine Qualität des Seins, sondern nur die Qualität der Negation des Seins. Es dient in der Geschichte auf die eine oder andere Weise dem Guten. Das Gute beweist seine Qualität des Seins in der Negation des Negativen. Diese Auffassung findet sich im Platonismus und im jüdischen und christlichen Schöpfungsglauben.
In den biblischen Traditionen, besonders in den Psalmen, in Ijob, den Klageliedern und in den Passionsgeschichten der synoptischen Evangelien wird die Theodizeefrage nicht theoretisch, sondern existentiell gestellt. Ist Gott der Gerechte, warum muß der Fromme leiden, und warum geht es dem Gottlosen gut? Ist Gott der Treue, warum wird sein Volk Israel an die Gewalt der Heidenvölker dahingegeben? Ist Gott „der Vater“, warum hat er seinen geliebten Sohn Jesus Christus in seinem Sterben am Kreuz der Römer „verlassen“ (Mk 15,34) und ihn „dahingegeben“ (Röm 8,32)? Wir finden in den biblischen Schriften Antworten auf verschiedenen Ebenen:
- Es gibt ein Böses, das sich die Menschen selbst zuzuschreiben haben. Böses Tun trägt in den bösen Folgen seine Strafe schon in sich selbst. Dieser Tun-Ergehens-Zusammenhang ist selbst Teil der göttlichen Gerechtigkeit. Gott ist für das Eintreten der bösen Folgen, aber nicht für das böse Tun der Menschen verantwortlich. Der „Zorn Gottes“ wird nicht in besonderen himmlischen Strafen offenbar, sondern darin, daß die Sünder an ihren selbstgewählten Weg ins zeitliche und ewige Verderben „dahingegeben“ werden (Röm 1,18ff). Wer Gott verläßt, der ist von Gott verlassen. Diese Auffassung findet sich vornehmlich in den alttestamentlichen Geschichtswerken, bei Matthäus und bei Paulus.
- Es gibt aber auch ein Leiden, das nicht der ungerechte, sondern der gerechte Mensch erfährt. Auf das Leiden der Gerechten ist der Tun-Ergehens-Zusammenhang nicht anwendbar. Wie das Buch Ijob zeigt, kann Gottvertrauen von dem Gerechten in seinem unschuldigen Leiden nur in der anhaltenden Gottesklage festgehalten werden. Gottes Handeln ist unerforschlich, dem Menschen bleibt nur die beharrliche Anklage oder die schweigende Demut übrig (Röm 9,20).
- Endlich gibt es ein Leiden, das nicht nur Menschen, sondern mit ihnen gemeinsam auch Gott selbst erleidet. Durch seinen Bund mit Israel läßt Gott seinen Namen und seinen Geist in seinem Volk wohnen. Wird Israel geschlagen, dann wird auch Gott geschlagen. Wird Israel verfolgt, dann nimmt Gott selbst durch seine „Einwohnung“ (schechinah) daran teil und wandert mit Israel in die Gefangenschaft. Der Gott des Bundes ist auch der „Leidensgefährte“ seines Volkes. Israel wird darum erst erlöst, wenn der mit ihm leidende Gott sich selbst erlöst und sich durch die Befreiung seines Volkes selbst verherrlicht. Diese rabbinische und kabbalistische Vorstellung vom Mitleiden Gottes hat ihre Parallele in der christlichen Vorstellung, daß in der Passionsgeschichte Jesu Christi die Passion Gottes offenbar wird. Der Schmerz der Liebe Gottes wird allen leidenden und verlorenen Menschen am Kreuz Christi offenbar. Trinitätstheologisch ausgedrückt: Der Vater folgt dem Sohn seiner Liebe durch die Entäußerung seines Geistes an das Kreuz, um allen Menschen seine ewige Gemeinschaft zu bringen. Christus ist der barmherzige, mitleidende und „für viele“ sterbende Gottesknecht. Sein Leiden ist göttliches, solidarisches und erlösendes Leiden.
Die Kirchenväter Irenäus und Augustinus haben das Theodizeeproblem mit Hilfe der Philosophie des mittleren Platonismus zu lösen versucht: Das Böse ist ein Nichtseiendes und ein Mangel des Guten. Weil Gott das Seiende gut geschaffen hat, ist er nicht die Ursache des Bösen. Das moralische Böse ist Tat der Menschen und also Sünde. Das physische Übel wird von Gott als Mittel der Erziehung zum Guten und zur Läuterung der Seelen zugelassen. Auch das metaphysische Übel – der Teufel – muß letztendlich den Plänen Gottes dienen. Die Reformatoren haben solche Rechtfertigungen Gottes vor dem Forum der Menschen zurückgestellt, weil für sie die Rechtfertigung des Menschen vor dem Forum Gottes wichtiger war. Indem Gott den rechtlosen Sünder aus Gnaden gerecht macht, erweist er an ihm Gerechtigkeit als seine schöpferische, rechtfertigende und zurechtbringende Gerechtigkeit. Gott erweist sich als der gerechte Gott, indem er Sünder rechtfertigt. Vergebung ist die göttliche Antwort auf die Sünde, und Heilung ist die göttliche Antwort auf die Krankheit. Darum wird Auferstehung die göttliche Antwort auf den Tod sein. Die Rechtfertigungslehre war die reformatorische Antwort auf die Theodizeefrage. Erst in der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie und der Aufklärung wurden die Fragen nach dem Bösen und dem Leiden wieder im Rahmen der allgemeinen Weltregierung Gottes gestellt und die folgenden Antworten gegeben: Gott läßt das Böse zu, ohne es zu billigen. Gott lenkt das Böse so daß es den Glaubenden zum Guten dienen muß. Gott setzt dem Bösen seine Grenzen und wird es am Ende der Welt in seinem Reich der Herrlichkeit ganz überwinden. Es ist verständlich, daß der lutherische Philosoph Leibniz daraus seine optimistische Vorstellung von dieser Welt als der „besten aller möglichen Welten“ formte. Auch er lehrte, daß Gott das moralische Böse um der Willensfreiheit der Menschen willen zuläßt und das physische Übel als Strafe zur Erziehung und Läuterung der Menschen benutzt. Dieses fromme Vertrauen in die gütige Vorsehung Gottes und diese optimistische Weltanschauung der Aufklärungszeit brach in der Erfahrung des Erdbebens von Lissabon 1755 zusammen. Zehntausende starben in einer Nacht. Welchen Sinn kann diese Naturkatastrophe haben? Ist der Gott, der solches zuläßt, ein gütiger Gott oder nicht vielmehr ein grausames Ungeheuer? Ist diese Welt seine Schöpfung, oder ist sie ein gottverlassenes Chaos?
Mit dem Erdbeben von Lissabon zerbrach im 18. Jahrhundert das Vertrauen in einen gütigen Weltenlenker und in die Weltharmonie. „Gott ist tot“ wurde zum sprechenden Symbol für einen weitreichenden theologischen Zusammenbruch und für den europäischen Protestatheismus. In den unaussprechlichen Verbrechen und in den unsagbaren Leiden des Holocaust in Auschwitz zerbrach im 20. Jahrhundert auch das Selbstvertrauen der Menschen. Seit Hiroshima 1945 ist die Menschheit in ihre Endzeit eingetreten, d. h. in diejenige Zeit, in der das nukleare Ende der Menschheit jederzeit möglich ist. „Der Tod des Menschen“ ist das sprechende Symbol für den folgenreichen humanistischen Zusammenbruch und für den europäischen Nihilismus. „Auschwitz“ und „Hiroshima“ sind das Ende jeder Theodizee und Anthropodizee. Wie kann man nach Auschwitz noch vertrauensvoll von Gott reden? Wie kann man nach Hiroshima noch mit Selbstvertrauen vom Menschen reden? Aus der jüdischen und der christlichen Diskussion über Theologie nach Auschwitz sind drei Punkte wichtig geworden:
- Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes durch eine gerechte Welt ist in der Geschichte nicht zu beantworten, aber sie kann auch niemals aufgegeben werden, denn sie ist identisch mit der Gottesfrage selbst. Nach Gott zu fragen heißt: nach der Gerechtigkeit zu schreien, damit „der Mörder nicht endgültig über seine Opfer triumphiert“ (M. Horkheimer). Im Hunger nach Gerechtigkeit lebt die Gottesfrage.
- Es kann keine Theologie „nach Auschwitz“ geben, die nicht die Theologie in Auschwitz aufnimmt, d. h. die Gebete und die Schreie der Opfer. Gott war gegenwärtig, wo das Schema Israel und das Vaterunser gebetet wurden. Als der Leidensgefährte gab er Trost, wo in jener Hölle menschlich nichts zu hoffen war. Die unaussprechlichen Leiden in Auschwitz waren auch die Leiden Gottes selbst.
- Die aus dem Leiden entspringende Gottesfrage kann und darf keine theoretische, metaphysische Antwort bekommen. Wie Ijob weist jeder unschuldig Leidende religiöse Erklärungen, warum er leiden muß, empört von sich. Es gibt aber die mystische Antwort, nach der Gott uns im Schmerz verbunden ist. Unser wahres Leiden ist auch sein Leiden, unsere Trauer ist auch seine Trauer, unsere Schmerzen sind auch die Schmerzen seiner Liebe. Als Caterina von Siena einst aufschrie: Mein Gott, wo warst du, als mein Herz in Finsternis und Todesschatten war?“, hörte sie die Antwort: „Meine Tochter, hast du es nicht gespürt? Ich war in deinem Herzen.“
Wer in seinem Schmerz nach Gott schreit, der stimmt bewußt oder unbewußt in den Todesschrei Jesu Christi ein: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wer dies erkennt, der spürt sofort, daß Gott nicht jenes unerforschliche Gegenüber im Himmel ist, sondern in einem sehr persönlichen Sinne der menschliche Christus ist, der mit ihm schreit, und der einfühlende Geist, der in ihm ruft und für ihn rufen wird, wenn er selbst verstummt. Es ist der Trost des gekreuzigten Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des ewigen Geistes in die Abgründe unserer Leiden und in unsere Höllen des Bösen zu bringen.
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