Christ, der Retter, ist da. Predigt über Lukas 2,11
Von Walter Lüthi
Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Lukas 2,11.
«Euch ist heute der Heiland geboren»; so also lautet in ihrer kürzesten Fassung die Weihnachtsbotschaft, die uns da durch den Nachrichtendienst Gottes übermittelt wird. Und diese Mitteilung, so groß und schlicht, entgegenzunehmen, sind wir jetzt da. Würden wir etwas anderes erwarten als den «Heiland, der euch heute geboren ist», dann hätten wir die falsche Nummer gewählt, wären in den unrichtigen Zug eingestiegen und könnten uns darum jetzt nur ärgern. Es versteht sich eben nicht von selber, daß wir in der Lage sind, jetzt diese und nicht eine andere Nachricht zu vernehmen. Wir sind Menschen; wir sind sogar heutige Menschen, wir alle ausnahmslos. Und wenn auch wir nun dieses Gotteshaus aufgesucht haben, dann konnten wir doch die Welt, in der wir leben, nicht vor der Kirchentür stehen lassen wie den Regenschirm. Daß uns «heute der Heiland geboren ist», kann nicht gut anders als uns stotzig (steil) vorkommen; die Nachricht selber erreicht uns senkrecht vom Himmel herab. «Gott ist im Himmel, und wir sind auf der Erde.» Man kann das nicht gut übersehen. Wer aber ist dieser Heiland?
Es gibt außer und neben ihm keinen, mit dem man ihn vergleichen könnte. Der Heiland ist der Heiland. Er ist eben derjenige, den der jenseitige Nachrichtenträger meint, wenn er in jener Nacht südöstlich der vorderasiatischen Kleinstadt Bethlehem auf dem freien Feld einigen Schafhütern mitteilt: «Euch ist heute der Heiland geboren.» Es ist unter Umständen ganz gut, wenn man nicht zu hurtig meint, man wisse, wer er ist. Vielleicht hätte es uns jener Unbekannte vom letzten Freitag sagen können. Es war anläßlich einer Weihnachtsfeier im Nachtasyl, bei den wohl Elendsten unter den Armen dieser Stadt. Es ereigneten sich dabei einige kleine Zwischenfälle. Ich meine jetzt nicht jenen offenbar Übermüdeten, dem während des ganzen Abends immer wieder die Augen zufielen, so daß er laut zu schnarchen anfing, was seine Kameraden in erstaunlichem Gleichmut und ohne jede Nervosität hinnahmen. Ich meine auch nicht jenen Unglücklichen, der mitten in die Ansprache hinein auf begehrte: «Wenn der dort nicht bald aufhört, dann pfuse ich ein.» Es war ein Fremdling, ein Neuer; niemand kannte ihn. Als gegen Schluß der Feier jemand das «Stille Nacht» anstimmte, da, nach der zweiten Strophe, rief der Unbekannte über die Tische hin: «Christ, der Retter, ist da, wiederholen bitte!» Der Zwischenruf wurde überhört. Nach der dritten Strophe brachte er sein Anliegen ein zweites Mal vor: «Christ, der Retter, ist da — bitte wiederholen!» Man hat ihm seinen etwas eigenartigen Wunsch erfüllt. War das ein Verlorener?, einer, der nach dem Retter schrie? Oder war es ein Geretteter? redete der Heilige Geist aus ihm? Ich vermute, der Unbekannte wußte, wer der Heiland ist; und einige von seinen Schicksalsgenossen an den langen Tischen wußten es auch: Der Heiland ist die Hoffnung derer, die einen Retter brauchen; er ist der Retter der Verlorenen. Und vielleicht gibt es auch unter uns sonntäglich Gekleideten einige, die so verloren sind, daß sie jetzt aufhorchen, wenn ihnen die Nachricht zukommt: «Euch ist heute der Heiland geboren.» — Und so wiederholen wir sie denn, alle Jahre wieder und auch dieses Jahr. Sie ist es wert und ist wichtig genug: «Euch ist heute der Heiland geboren» — der Retter!
Sie ist nun schon bald zweitausend Jahre lang wiederholt worden. Menschlich gesprochen könnte man der Meinung jenes Kaufmanns sein, zweitausend Jahre seien etwas lang, sie sei recht alt, diese Geschichte, eine Art Ladenhüter, man habe nur noch nicht allseitig den Mut aufgebracht, ihn abzustoßen. Man könnte diesen Hinweis auf die zweitausend wirkungslosen Jahre mit jenem lutherischen Bischof beantworten, der kurzerhand und stramm erklärt: «Dummes Geschwätz von den zweitausend Jahren; so dumm, wie wenn einer sagen würde, seit zweitausend Jahren regnet es schon auf Erden, und es gibt immer noch Schmutzfinke!» Aber wir wollen die Klage über die zweitausend nutzlosen Jahre nicht zu selbstsicher verhöhnen. Es könnte ja ein Leidtragender sein, einer, der hungert und dürstet nach der besseren Gerechtigkeit, einer, der bekümmert nach dem Ertrag der nun schon bald zweitausendmal wiederholten Weihnachtsbotschaft fragt. Müßte sich nach so mancher Weihnacht nicht doch einiges geändert haben auf dieser Welt? Man erwarte jetzt nicht eine Verteidigung des Christentums. Dieses kann und soll nicht verteidigt werden. Wenn wir auf den Lauf der Welt schauen, dann hat sich seit zweitausend Jahren, seitdem es Weihnacht geworden ist, nichts geändert. Die Menschen werden schuldig und sterben, Mensch ist Mensch, und Welt ist Welt geblieben. Christus hat aber auch nirgends zugesagt, er sei gekommen, die Welt zu ändern. Nicht als Weltverbesserer, noch als Weltflicker ist er gekommen, sondern als Weltheiland; die Nachricht lautet: «Euch ist heute der Heiland geboren — der Heiland.» Das hat geändert, das nun allerdings schon: Die immer noch verlorene Welt hat seither einen Heiland. Sie weiß das jetzt, vorher hat sie es nicht gewußt. Seither ist es um diesen Heiland herum nicht mehr still geworden, die Nachricht ist nicht mehr verstummt. Und es haben sie seither viele gehört und geglaubt. Und es gibt bis auf diesen Morgen Menschen, die das nun glauben, aus diesem Glauben leben, und in diesem Glauben sterben. Und wer im Glauben an Christus stirbt und lebt, der ist nicht mehr verloren. Darum werden wir nicht müde, es zu wiederholen: «Euch ist heute der Heiland geboren.» Und das hat wohl auch jener Unbekannte an der Heimatlosen-Weihnacht gemeint, als er so beharrlich über die Tische rief: «Christ, der Retter, ist da — wiederholen bitte!» Es gibt seit zweitausend Jahren auf der Erde Menschen, die wissen, daß sie Gerettete sind. Das ist anders geworden.
Wie sehen diese Geretteten aus? Die Frage kann nur so beantwortet werden, daß wir uns vergegenwärtigen, wie der Heiland selber aussieht. Der Heiland ist nämlich gar nicht so, wie wir uns einen Geretteten gern vorstellen. Die Retter und Helfer der Menschheit, die wir gern als solche gelten lassen, achten und lieben, pflegen anders auszusehen als er. Es bleibt eines der großen Geheimnisse, daß der eine Heiland der Welt eher aussieht wie ein Verlorener. Jenes alte Prophetenwort, daß er «weder Gestalt noch Schöne hat», trifft nicht erst auf den Gekreuzigten zu, es gilt in vollem Umfang schon für den Neugeborenen, für das Kind, das in Windeln gewickelt in der Futterkrippe liegt. Und dann zieht er durchs Land, predigt das Evangelium vom Reich, richtet einige Zeichen auf, indem er Kranke heilt, wird des Hochverrats und der Gotteslästerung angeklagt, verurteilt, ausgeschieden, gekreuzigt, verscheidet mit einem lauten Schrei und wird begraben. So sieht der «Heiland aus, der euch heute geboren ist». Und etwas von diesem Genre, etwas von dieser Art des Retters, tragen auch diejenigen an sich, die nicht mehr verloren sind, die Geretteten. Man könnte auf den ersten Anblick auch von den Geretteten eher meinen, sie seien Verlorene. Aber so täuschend ähnlich sie den Verlorenen sein können, sie sind Gerettete. Ihnen «ist heute der Heiland geboren». Er ist der Heiland der Verlorenen.
Umgekehrt sieht man es der Welt nicht ohne weiteres an, daß sie verloren ist und des Heilandes, des Retters, bedarf. Wir haben versucht, uns in dieser Welt einzurichten, als ob wir nicht verloren wären. Und das ist uns in erstaunlichem Ausmaß gelungen. Wir haben Ordnungen geschaffen. Man kann sich auch auf einem untergehenden Schiff so einrichten, daß jedermann der Illusion lebt, es gehe nicht unter, es trage und schwimme. Fred Wagner, der Cook-Reisebegleiter, schildert in seinen Lebenserinnerungen «Große Welt, kleine Menschen», wie er jeweilen die Vorbereitungen für eine Seereise um die Welt zu treffen pflegte. Dabei nahm er in weiser Voraussicht auch ein Dutzend Särge mit. Diese aber schaffte er heimlich an Bord und verstaute sie sorgsam im hintersten Winkel des Schiffsrumpfs, so daß keiner der Reisegesellschaft es bemerkte. Er macht sich über die Passagiere, die getäuscht sein wollen und nicht dulden, daß man sie an den Tod erinnert, ein wenig lustig. Dabei vergißt er, daß ja das ganze Schiff mitsamt den Särgen und ihm selber untergehen könnte. So wollen auch wir nicht daran erinnert sein, daß wir verloren sind und des Heilandes bedürfen. Aber auch euch, die ihr’s nicht wißt und nicht wahrhaben wollt, auch «euch ist heute der Heiland geboren».
Der Heiland und Retter ist nun zugestiegen und eingestiegen ins Schiff, auf dem wir unsere Lebensreise zubringen. Das hat er nicht heimlich getan. Es ist «allem Volk» mitgeteilt, daß der Heiland auf die untergehende Welt gekommen ist. Er ist nun da an Bord wie ein Rettungsring an der Wand, den niemand braucht und von dem jedermann heimlich hofft, daß er ihn nicht nötig haben werde. Aber ob wir es gern hören oder nicht, wir haben ihn alle nötig, den zugestiegenen Heiland, wir sind alle verloren ohne ihn. Mag unser Leben von der Wiege bis zur Bahre in weisen Ordnungen verlaufen, in all diesen Ordnungen drin ist nun der Heiland, der Retter, dabei. Und diese seine bloße Existenz auf Erden wirkt nun als Störung und Beunruhigung der Passagiere. All unsere noch so weisen Einrichtungen sind als Notordnungen entlarvt, seitdem der Nachrichtenengel der Erde bekanntgab: «Euch ist heute der Heiland geboren.» Euch, Armen und Reichen, Hohen und Niedrigen, Frommen und Gottlosen, Guten und Bösen, Gerechten und Ungerechten, euch allen «ist heute der Heiland geboren», weil ihr alle, ihr Menschen in den Ordnungen der Familie, des Staates und der Kirche, des Heilandes bedürft.
Er ist der Heiland der Welt, auch wenn er ein kaum beachtetes Kind in der Krippe, auch wenn er ein Schmerzensmann am Kreuz ist, gemartert und zerschlagen. Es ist uns ja heutzutage bekannt, daß Kleinheit nicht Bedeutungslosigkeit sein muß. Vom Kleinen und Kleinsten kann maximale Wirkung ausgehen. Von kleinsten Einheiten, sogar wenn sie zerspalten und zertrümmert werden, können Kräfte ausgehen, von deren Wirkung wir immer noch nur mangelhafte Vorstellungen haben. So geht von diesem Kindlein da in der Krippe, von diesem ans Holz gehängten, zerschlagenen und zertretenen Heiland eine Kraft und Wirkung aus, die schlechterdings unvorstellbar ist. Diese Wirkung ist nicht nur global, sie ist auch nicht nur kosmisch, sie umfaßt die Erde, die Welträume und reicht bis in die jenseitigen Orte. Die Gräber sind dem Heiland zugänglich, ja die Hölle vermag sich ihm nicht zu verschließen. Ihm sind die Schlüssel des Himmels übergeben. Er schließt auf, und niemand schließt zu. Von solcher Tragweite ist die Botschaft, daß «euch heute der Heiland geboren ist».
«Heute». Was das wohl heißen mag? Was ist «heute»? In welcher Verfassung befinden sich die Heutigen? Werden sie in der Lage sein, die Nachricht, die senkrecht vom Himmel auf die Erde gekommen ist, zu fassen? Wie es um die Ansprechbarkeit des heutigen Menschen für die Weihnachtsbotschaft steht, darüber gibt jener geistreiche Scherz Aufschluß, den sich ein bekanntes Blatt geleistet hat, indem die Redaktion eine Anzahl ihrer Mitarbeiter auf forderte, jeder von ihnen möchte wie seinerzeit in den Kindheitstagen einen Wunschzettel schreiben, gleichsam einen Männerwunschzettel fürs Christkind. Diese zeitgenössischen Männerweihnachtswünsche geben einen ungefähren Durchschnitt durch das, was so allgemein an Weihnachtsgedanken unter uns heute vorhanden ist. Natürlich wünscht sich der erste unter ihnen einen Wagen — Traum unseres Geschlechts —, einen mit guten Bremsen. Ein anderer unterbreitet dem Christkind den Wunsch, es möchte doch auch dafür besorgt sein, daß die eidgenössischen Räte alle ihre Versprechen, die sie in der Dezember-Sitzung ihren Wählern gemacht haben, nun auch wirklich halten, andernfalls es dem Samichlaus einen Wink geben möge, daß er von der Rute Gebrauch mache. Drei weitere Zeitgenossen äußern Wünsche, die manch einem unter uns auch schon in den Sinn gekommen sind: Einer bittet das Christkind, daß es ihn für alle Stunden seines ihm noch verbliebenen Lebens von der Melancholie befreie und mit etwas Humor beschenke; der andere bittet um Schlaf, Schlaf ohne Töff und Wagentürschletzen; und einer hätte vom Christkind gern Zeit, mehr Zeit, ein paar zusätzliche Stunden pro Tag, um seinen Pflichten nachkommen zu können. Humor, Schlaf und Zeit, das wären gewiß nicht Luxusgeschenke für Menschen unserer Generation. Einer fügt in einem Nachsatz wie verschämt hinzu, das große «L» sei auch schon lange sein Wunsch. Was er damit meint, das zu erraten überläßt er dem Leser. Es könnte das große Leben sein (anstelle eines kleinen, ach, oft so kleinen Daseins!). Oder das große Licht (vor dem die kleinen Lichter verblassen müßten). Oder meint er die große Liebe? (jene Liebe, von der es heißt, sie höre nimmer auf und sie sei die größte unter ihnen?). Vielleicht ist es aber naiv von uns, so hoch zu greifen. Es kann hinter dem geheimnisvollen großen «L» auch nur das große Los der nächsten fälligen Ziehung stecken (an dem der Gewinner jeweilen als ersten Ärger erlebt, daß er es versteuern muß). Welchen Inhalt unser Heute bei einem jeglichen von uns haben mag, ob einen mehr tiefsinnigen oder eher leichtfertigen: «Euch ist heute der Heiland geboren.» Heute. Es liegt verhaltene Dringlichkeit darin; es ist offenbar ein Ruf zur Entscheidung. «Heute, so ihr meine Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht.» Es haben vor zweitausend Jahren, als es vom Himmel her rief: «Heute!», auffällig wenige gemerkt, daß der Heiland geboren war; an den meisten ging das Ereignis unbemerkt vorbei, die große Welt hat es verschlafen, und die Frommen haben es verpaßt. Jedermann war schon damals mit seinen Wünschen beschäftigt. So könnte bald Weihnacht gewesen sein, und man hätte es nicht gemerkt, man lebte weiter als ein Verlorener, als ein Ungeretteter — nur um’s Himmels willen das nicht! «Euch ist heute der Heiland geboren» — heute! Das gibt es jetzt zu hören.
«Euch», heißt es. Der Heiland will offenbar nicht mir geboren sein, sondern uns. Heiland heißt Gemeinschaft. «Was bringt das Christkind mir?» ist darum keine gute Weihnachtsfrage. Der Heiland will nicht mich retten, sondern uns. Daß das Christkind nicht mein, sondern unser Heiland ist, das merken ja bekanntlich gerade auf Weihnachten hin viel mehr Menschen, als man meint. Nirgends wie um die Weihnachtszeit geht ein Seufzen und ein Schluchzen durch die Tage und Nächte, ein großes stilles Leid darüber, daß die Gemeinschaft fehlt. Daher kommt es auch, daß so viele Menschen Angst haben auf Weihnachten hin, Angst davor, die Gemeinschaftslosigkeit, der Riß in der Ehe, in der Familie, am Arbeitsplatz werde offenbar. Das kommt daher, daß es heißt: «euch ist heute der Heiland geboren», daher, daß der Heiland nicht allein den einzelnen meint, sondern immer auch die Gemeinschaft. Dieses weihnachtliche «Euch» ist als Tisch in unsere Mitte gestellt. Wenn jetzt auch in der evangelischen Christenheit wieder Christnachtfeiern aufkommen, dann sollte deren Mitte nicht ein Krippenspiel sein, sondern das Abendmahl: «für euch gebrochen, für euch vergossen», für euch! «Euch ist heute der Heiland geboren.»
So laßt uns nun hingehen und, wie es in einem alten Psalmwort heißt, «das Fest mit Maien schmücken bis an die Hörner des Altars». Einer jener vorhin erwähnten Wunschmänner, derjenige, der sich am kürzesten faßt, hat uns aufhorchen lassen; er schreibt: «Liebes Christkind, ich habe nur einen Wunsch: Weihnachten!» Das sei in der Tat unser vordringlicher Weihnachtswunsch: Weihnachten! Und Weihnachten wird es überall dort auf dieser Erde, wo zwei oder drei vernehmen, daß «euch heute der Heiland geboren ist». Dieses Weihnachten kann und soll auch jenes alte Ehepaar mitfeiern, das kürzlich seinen einzigen Sohn hat hergeben müssen. Auch euch, gerade «euch ist heute der Heiland geboren». Amen.
Quelle: Walter Lüthi/Eduard Thurneysen, Der Erlöser. Predigten, Basel: Friedrich Reinhardt, o.J. [1961], S. 46-52.