Von Edith Stein
Man nennt St. Benedikts hl. Regel discretione perspicua, ausgezeichnet durch Diskretion. Die Diskretion gilt als besonderes Siegel benediktinischer Heiligkeit. Aber im Grunde gibt es ohne sie überhaupt keine Heiligkeit, ja, wenn man sie tief und weit genug faßt, fällt sie mit der Heiligkeit selbst zusammen.
Man vertraut jemandem etwas an »unter Diskretion«, d. h. man erwartet, daß er darüber schweigen wird. Aber Diskretion ist mehr als Verschwiegenheit. Der Diskrete weiß, ohne daß man ihn darum bittet, worüber er nicht sprechen darf. Er hat die Gabe zu unterscheiden, was im Schweigen gehütet und was offenbart werden muß, wann es Zeit ist zu reden und wann zu schweigen, wem man etwas anvertrauen darf und wem nicht. All das gilt für seine eigenen Angelegenheiten und für die anderer. Wir empfinden es ja auch als »Indiskretion«, wenn jemand über das, was ihn selbst betrifft, spricht, wo es nicht angebracht ist. Der Diskrete rührt auch nicht mit Fragen an etwas, was nicht berührt werden will. Aber er weiß auch, wann und wo eine Frage angebracht ist und wann es verletzend wäre, sie zu unterlassen.
Man schenkt uns eine Summe »à discrétion«, d. h. zu unserer freien Verfügung. Das bedeutet nicht, daß wir nach Willkür damit umgehen dürfen. Der Geber überläßt uns die Anwendung, weil er überzeugt ist, daß wir am besten unterscheiden können, was damit anzufangen ist. Auch hier ist also Diskretion Gabe der Unterscheidung.
In besonderem Maße bedarf ihrer, wer Seelen zu leiten hat. St. Benedikt spricht davon im Zusammenhang dessen, was vom Abt zu fordern ist (S. Regula, Kap. 64): er soll bei seinen Anordnungen »vorausschauend und überlegt sein, ob es eine göttliche oder eine weltliche Arbeit ist, die er aufträgt – er soll unterscheiden und abwägen, jener Unterscheidung Jakobs gedenkend, der sprach: »Wenn ich meinen Herden auf dem Weg zuviel zumute, werden sie alle an einem Tage sterben.« (Gen. 33,13) Diese und andere Zeugnisse für die Unterscheidung, die Mutter der Tugenden, soll er sich zu Herzen nehmen und alles so abwägen, daß er das trifft, wonach die Starkmütigen verlangen und wovon die Schwachen nicht zurückschrecken …« Man könnte »discretio« hier mit »weiser Maßhaltung« wiedergeben. Aber die Quelle solchen weisen Maßhaltens ist doch die Gabe zu unterscheiden, was einem jeden angemessen ist.
Woher kommt uns diese Gabe? Es gibt etwas Natürliches, das bis zu einem gewissen Grade dazu befähigt. Wir nennen es Takt oder Feinfühligkeit, eine Frucht ererbter und durch mancherlei Bildungsarbeit und Lebenserfahrung erworbener seelischer Kultur und Weisheit. Kardinal Newman sagt, der vollendete gentleman sehe dem Heiligen zum Verwechseln ähnlich. Aber das reicht doch nur bis zu einer gewissen Belastungsprobe. Darüber hinaus bricht dieses natürliche Ausgewogensein der Seele zusammen. Die natürliche discretio dringt auch nicht in die Tiefe. Sie weiß wohl »mit den Menschen umzugehen« und gleich mildem Öl den Reibungen im Räderwerk des gesellschaftlichen Lebens zuvorzukommen. Aber die Gedanken des Herzens, das Innerste der Seele bleibt ihr verborgen. Dorthin dringt nur der Geist, der alles durchforscht, selbst die Tiefen der Gottheit. Die echte discretio ist übernatürlich. Sie findet sich nur dort, wo der Heilige Geist herrscht, wo eine Seele in ungeteilter Hingabe und ungehemmter Beweglichkeit auf die leise Stimme des holden Gastes lauscht und seines Winkes gewärtig ist.
Ist die discretio als Gabe des Heiligen Geistes anzusehen? Nicht als eine der bekannten 7 Gaben ist sie aufzufassen, noch als eine neue 8te. Sie gehört wesentlich zu jeder Gabe, ja man darf wohl sagen, die 7 Gaben seien verschiedene Ausprägungen dieser einen Gabe. Die Gabe der Furcht »unterscheidet« in Gott die divina maiestas und ermißt den unendlichen Abstand zwischen Gottes Heiligkeit und eigener Unreinheit. Die Gabe der Frömmigkeit unterscheidet in Gott die pietas, die Vatergüte, und schaut mit kindlich-ehrfürchtiger Liebe zu Ihm auf – mit einer Liebe, die zu unterscheiden weiß, was dem Vater im Himmel gebührt.
Bei der Klugheit leuchtet es vielleicht am ehesten ein, daß sie Unterscheidungsgabe ist – Unterscheidung dessen, was in einer jeden Lebenslage das Angemessene ist. Bei der Stärke könnte man geneigt sein zu denken, daß es sich hier um etwas rein Willensmäßiges handle. Aber die Trennung zwischen der Klugheit, die den rechten Weg erkennt, ohne ihn zu gehen, und einer Stärke, die sich blind durchsetzt, ist nur im rein Natürlichen möglich. Wo der Heilige Geist herrscht, da wird der Menschengeist lenksam ohne Widerstreben. Die Klugheit bestimmt ohne Hemmung das praktische Verhalten, die Kraft ist von der Klugheit erleuchtet. Beide zusammen ermöglichen es dem Menschengeist, sich geschmeidig allen Verhältnissen anzumessen. Weil er widerstandslos dem Heiligen Geist hingegeben ist, ist er allem gewachsen, was an ihn herantritt. Dieses himmlische Licht läßt ihn als Gabe der Wissenschaft in aller Klarheit alles Geschaffene und alles Geschehen in seiner Ordnung zum Ewigen unterscheiden, in seinem Aufbau verstehen und ihm den gebührenden Platz und das ihm zukommende Gewicht anweisen. Ja, es gibt ihm als Gabe des Verstandes Einblick in die Tiefen der Gottheit selbst und läßt die offenbarte Wahrheit hell vor ihm aufleuchten. In seiner Vollendung als Gabe der Weisheit eint es ihn mit dem Dreifaltigen selbst und läßt ihn gleichsam den ewigen Urquell selbst und alles, was von Ihm ausgeht und gehalten wird, in jener göttlichen Lebensbewegung, die Erkennen und Lieben in eins ist, durchdringen.
Die sancta discretio ist demnach radikal unterschieden von menschlichem Scharfsinn. Sie unterscheidet nicht durch schrittweise vorgehendes Denken wie der forschende Menschengeist, nicht durch Zergliedern und Zusammenfassen durch Vergleichen und Sammeln, durch Schließen und Beweisen. Sie unterscheidet, wie das Auge im klaren Tageslicht mühelos die scharfen Umrisse der Dinge vor sich sieht. Das Eindringen in Einzelheiten läßt den Überblick über die Zusammenhänge nicht verlieren. Je höher der Wanderer steigt, desto mehr weitet sich der Blick, bis vom Gipfel die ganze Rundsicht frei wird. Das von himmlischem Licht erleuchtete Geistesauge reicht in die weiteste Ferne, nichts verschwimmt, nichts wird ununterscheidbar. Mit der Einheit wächst die Fülle, bis im einfachen Strahl des göttlichen Lichtes die ganze Welt sichtbar wird wie bei St. Benedikt in der magna visio.
Verfasst am 15. Oktober 1938.