Als sich in Berlin 1942 die Suizide unter Juden angesichts der bevorstehenden Deportationen in Ghettos bzw. Vernichtungslager häuften, wandte sich der ledige Jurist Georg Hamburger (geboren 1891 in Berlin, verstorben 1944 in Theresienstadt) brieflich an Helmut Gollwitzer, der seit 1940 als Soldat zur Wehrmacht eingezogen worden war. Hamburger wurde als »nichtarischer« Christ Ende 1941 von der Bekennenden Gemeinde in Berlin-Dahlem zum Laienprediger ordiniert und betreute als Seelsorger Juden, die den Deportationsbefehl erhalten haben. Im Brief vom 11. Juni 1942 schreibt Hamburger an Gollwitzer:
»Heute muß ich einmal mit einem Anliegen zu Ihnen kommen, das mich schon die letzten Monate bedrückt, und über das Sie mir, wie ich hoffe, Klarheit geben können. Sie können sich denken, daß in letzter Zeit sehr viele Menschen zu mir kommen, die mir erklären, daß sie keinesfalls nach dem Osten abwandern würden, sondern vorher Schluß machen würden. Soweit es sich um junge, gesunde Menschen handelt, gibt es natürlich genug menschliche Gründe, von einem solchen Schritt abraten zu können. Vielfach handelt es sich aber um alte, kränkliche Leute, wo menschlich gesprochen gar keine Gegengründe vorhanden sind, ja, wo ich mit dem Verstande zugeben muß, daß der Selbstmord die vernünftigste Lösung ist. […]
Aber wenn unser christlicher Glaube darin besteht, daß wir glauben, daß Gott uns gnädig ist, auch wenn er uns ein so schweres Kreuz schickt, so bedeutet es m. E. einen schweren Abfall, wenn wir nicht empfinden, daß Gott uns auch in den Osten ruft, und wenn wir in einem solchen Fall ungehorsam sind und uns durch eine unwiderrufliche Tat dem Ruf und der Nachfolge entziehen. Was hat unser Glauben eigentlich noch für einen Sinn, wenn wir im entscheidenden Augenblick eben nicht glauben, sondern für uns handeln. […]
Was soll man dazu sagen, wenn eine Dame, die regelmäßig seit Jahren Bibelstunden besucht und eine regelmäßige Kirchgängerin ist, sich das Leben nimmt und einen Brief hinterläßt, in dem sie schreibt, sie glaube fest an Gott, und er werde ihr sicher verzeihen […] Was heißt an Gott glauben, wenn man sich das Leben nimmt?«
Gollwitzers Antwortbrief vom 19. Juli, auf einer alten Schreibmaschine geschrieben, kursierte als »Selbstmordbrief« in der Dahlemer Gemeinde:
Über den Selbstmord. Brief an Georg Hamburger von 1942
Von Helmut Gollwitzer
Berlin, den 19.7.1942
Lieber Herr Hamburger,
verzeihen Sie bitte, dass ich diesen Brief auf der Maschine schreibe – noch dazu auf einer sehr wenig intakten Maschine -, aber die Frage Ihres letzten Briefes ist mir so wichtig, dass ich Ihnen nicht den Versuch einer Antwort schreiben möchte, ohne mir selbst einen Durchschlag hier zu behalten, um die Frage wieder und wieder vor Augen zu haben.
Seit ich meinen Brief an die mit Ihnen Betroffenen geschrieben habe, habe ich erfahren, dass auch diejenigen Aussichten und Aufgaben, an die ich damals noch glaubte erinnern zu dürfen, sehr unwahrscheinlich geworden sind und dass der Tod, der uns vor allen Menschen rettet, die einzige tröstende Aussicht für die Meisten geworden ist, was das bedeutet, wird keiner ganz ermessen können, der nicht unmittelbar davon betroffen ist, nur die Betroffenen selbst wissen es – und der Ewige, der durch Christus, den Messias und Gottessohn, sich allen diesen verbunden hat und in den einsamsten Stunden der lähmenden Angst und der auszehrenden Bitterkeit gegenwärtig ist und der mit leidet, wie kein anderer Mensch mitleiden kann. Er hört die bitteren Fragen und Anklagen, die vielen Herzen an ihn richten, er ist nicht taub, er hört sie. Aber wenn er sie hört, warum tut er nichts? Warum sagt er nicht wenigstens etwas?
Er tut viel. Nicht das wohl, was wir für das Dringlichste halten, aber sicher das, was ihm das Dringlichste ist. Erst wenn wir am Ziel sind und wenn das Lamm, das erwürgt ist, von Anbeginn der Welt, das Buch mit den sieben Siegeln öffnet, wird uns sichtbar werden, wie viel in diesen Zeiten, die nur von seiner Ohnmacht zu zeugen schienen, von ihm getan worden ist, in dem, was ihm, der alles besser weiß als wir, das Dringlichste für uns war. Oft genug in äußeren Errettungen, öfter noch in den unsichtbaren, den inneren Errettungen, den Stärkungen, dem Durch-Scheinen-Lassen von Kraft für die anderen, – oft dann auch in dem Tod, der ,schleuset das Tor der bittern Leiden und macht Bahn, dass man kann gehen zu Himmelsfreuden‘. Unser Leben hängt jetzt sehr real davon ab, dass wirs ihm glauben, aufs Wort glauben, dass er jetzt, jetzt am Werk ist, an mir, mitten in meiner Hilflosigkeit, im Verkommen im Elend, im Entblösstsein von allen, ‚ob ich auch gleich nichts fühle von seiner Macht‘. Es lebt jeder davon, dass er auch dann, wo er auch sei, wo er auch sei, sich vor Augen hält: ‚Er ist nicht fern, steht in der Mitten.‘ ‚Du lässt mich erfahren, viel und große Angst und machst mich wieder lebendig und holest mich wieder aus der Tiefe der Erde herauf.‘ (Ps. 71,20)
Er spricht doch auch. Er ist nicht stumm, sowenig wie er ohnmächtig und untätig ist in diesen Jahren und Monaten. Eben dies, was er tut, das sagt er uns auch. Christus ist nichts als sein für jede Zeit, für jeden von uns zu jeder Zeit geltendes lautes, bindendes Wort. ‚Ich bin nicht fern, steh in der Mitte.‘
Dass wir daran denken, dass wir auf dieses Wort horchen, gerade dann, wenn die Stimmen von Angst, Verzweiflung und Vernunft es ganz übertönen möchten, – und dass wir dann diese Zusagen in Rechnung setzen und wahr sein lassen vor und über allem dem, was uns Vernunft und Voraussicht sagen, – das heisst doch: Glauben. Glauben ist doch kein Besitztum, nichts was einer zum Neid der anderen, Ärmeren ‚hat‘, sondern er ist etwas was jeder nur hat, indem er es tut. Jeden Morgen neu ist dieser Schritt zum Hören und zum Geltenlassen zu tun und jeden Morgen neu wird der Mensch durch ihn gerettet. Zu allererst gerettet vor dem Vorausbeurteilen des Morgigen, das uns in Wirklichkeit doch noch ganz unbekannt ist. Und nicht wahr: es geht bei diesem Horchen doch nicht ‚nur‘ um ein ‚Wort‘, sondern wirklich um seine lebendige, wirksame Gegenwart, die aber im Wort uns kundgemacht wird und den Nebel unserer Gedenken und Sorgen zerteil. Viele haben das erlebt und bezeugen es uns so deutlich und nachdrücklich, dass wir wohl wagen dürfen, es damit zu wagen und also wieder und wieder Nein zu sagen zur Verzweiflung, den letzten Schritt nicht zu tun, nicht ins Nichtsein zu fliehen aus der Hölle des Seins, sondern zur Last des heutigen Tages auch die noch viel grösser scheinende Last des morgigen Tages uns auflegen lassen und Ihn aus der Tiefe loben.
Warum ich Ihnen das alles schreibe? Ach Sie haben wohl verstanden, dass das alles schon Antwort auf Ihren Brief ist. Wenn das wahr ist, dann ist es wirklich ganz unsinnig, ausbrechen zu wollen, indem ich mich selber ermorde. Ich habe dann ja gerade im entscheidenden Akt meines Lebens nicht geglaubt, nicht auf die Stimme des Ewigen gehört, ihm nichts zugetraut und mich, nicht ihn für den Herrn der Zukunft gehalten. Und sicher ist es wahrhaft gefährlich, sich für dieses Unterlassen des Glaubens und Hörens gerade in der Stunde, wo es nötiger denn je gewesen wäre, mit der göttlichen Verzeihung zu trösten, Gott sei Dank ist sie unermesslich, Gott sei Dank dürfen wir sie auch für die glauben, die aus Unglauben sich selbst das Leben nehmen. Aber ich bin sicher, dass ihnen in der anderen Welt, in die sie gehen, nichts so schwer und bitter sein wird, als dass sie mit dieser Hoffnung auf Gottes Verzeihung Hand an sich legten. Wie eine schreckliche Lästerung wird ihnen das in der Klarheit der anderen Welt erscheinen: dass sie sich mit seiner Verzeihung getröstet haben, ohne sich mit seiner Hilfe und Zusage zu trösten, dass sie ihn halb, aber nicht ganz ernst genommen haben. Wenn sie da drüben dann das Ziel erkennen, zu dem der schwere Weg führen sollte, wenn sie den Sinn des bitteren Leidens sehen und die ganze Wahrheit seines Wortes, dann werden sie wissen, wie sie in ihrem Selbstmord Gott das Bitterste zugefügt haben und nicht nur an sich selbst, sondern an Christus Hand angelegt haben. Das wird ein Schmerz sein, in Vergleich zu dem alle hiesigen Leiden gering sind. Wie bitter werde sie wünschen, die unwiderrufliche Tat rückgängig machen zu können. Wer sich der Verzeihung tröstet und es trotzdem tut, wie wenig ahnt der noch, aus welcher unvergleichlichen bitteren Not der Reue dann, in der nächsten Sekunde der Ewigkeit, der wirkliche Schrei nach Verzeihung aus seinem trostlos erschrockenen Herzen kommen wird. ‚Es ist kein Friede in meinen Gebeinen vor meiner Sünde … Meine Wunden stinken und eitern vor meiner Torheit Es ist mit mir gar anders denn zuvor und bin sehr zerstossen.‘ (Ps. 38)
Und die Verzeihung wird dann nicht das Gewisse sein, womit man sich vorher getröstet hat, als könne es an ihr gar nicht fehlen, sondern sie wird das Wunder der letzten Errettung sein, die ich durch meinen Selbstmord gerade endgültig verspielt hatte.
‚Die Narren, so geplagt waren um ihrer Übertretung willen und um ihrer Sünde willen, dass ihnen ekelte vor aller Speise und sie todkrank wurden.‘ (Ps. 107)
So werden sie dran sein. Wenn nur jeder, der angefochten ist von Selbstmordgedanken, es verstehen möchte: nicht wir anderen sind es, die verurteilen, sondern er selbst mehr als jeder andere wird danach sich so verurteilen und erkennen, wie er sich nicht befreit, sondern einem viel bitteren Schmerz ausgeliefert hat. Von mir selbst kann ich nur gestehen, dass ich in diesen Monaten keinen lieberen Trost gegeben hätte als den Rat: Ja, du darfst Schluss machen, wenn es gar zu schwer wird. Aber das ist doch nichts als unsere furchtbare menschliche Torheit. Wenn ich weiss, dass mein Nächster sich eine augenblickliche Erleichterung verschafft, die er sofort danach bitter bereuen wird, was kann ich dann anderes tun als ihn warnen, warnen, warnen. Nicht weil er Gefahr läuft, eine von aussen kommende Bestrafung eines unbarmherzigen und verständnislosen Gottes auf sich zu ziehen. Ach ja, so werden die biblischen Worte vom Gericht ja immer missverstanden und ihres wirklichen Ernstes beraubt. Nein, sondern weil dies das Gericht sein wird, dass ich Gott in seinem Licht und seiner Liebe von Angesichts sehe – und dann keinen Ort mehr sehe, wo ich vor ihm bleiben könnte. Ich, der ich seinen Worten nicht geglaubt habe, obwohl ich wusste, dass sie wahr sind. Ich, der ich seinen Christus den Weg durch Schande, Einsamkeit und Qual bis ans Ende für mich gehen sah und ihm nicht nachgefolgt bin. ‚Wo soll ich denn fliehen hin, dass ich könnte bleiben.‘
Darum bete ich, wenn ich jetzt an Sie schreibe, dass Sie jedem mit dem Sie davon sprechen, dies alles als Warnung sagen können. Als Warnung, nicht als ein ‚Richten‘, gegen das er dann meint sich mit Recht wehren zu können. Es ist ja doch kein verständnisloses Richten, das all die mildernden Umstände nicht bedächte, sondern ein Warnen, das aus einem besseren Verständnis seiner Situation kommt, als er selbst es hat.
Darum aber habe ich ein schweres Bedenken gegen die Unterscheidung, auf die ihr Brief aufgebaut ist und durch die das Richtige, was Sie von der Glaubenslosigkeit des Selbstmordes sagen, einen so gesetzlichen Ton bekommt: Ihre Unterscheidung zwischen den Christen und den Nichtchristen. Es stellt sich dann so dar, als müsse den Christen etwas zugemutet werden, was man den anderen nicht leicht zumuten könne. So wird es dann für die Christen zu einer so übermenschlichen und unbarmherzigen Forderung, dass das Versagen vor ihr wirklich verständlich und verzeihlich wäre, und im Falle der Nichtchristen wird es ganz zweifelhaft, (wie es Ihnen darum ja auch zweifelhaft ist), ob man zu so einer hohen Forderung ihnen gegenüber überhaupt berechtigt ist. Damit sind Sie aber auf einer ganz anderen, falschen Ebene angelangt, auf der es dem anderen ganz schwer, ja fast unmöglich werden muss, die Wahrheit in Ihren Worten zu hören.
Wer als Christ in der Anfechtung von Selbstmordgedanken steht, ist nicht einer, der das Evangelium „hat“ und dem man daraufhin eine grosse Forderung zumuten kann. Ihm ist doch vielmehr gerade die Stimme des Evangeliums schwach und unvernehmlich geworden und nicht eine Forderung hat er nötig, sondern gerade das Evangelium, die Kundmachung der Liebe Gottes auch da, wo wir sie nicht zu sehen meinen, der Macht Gottes, auch da, wo wir nur die Macht der Menschen sehen, der Nähe Gottes auch da, wo wir uns ganz von ihm verlassen meinen, des ewigen Lebens, auch da, wo wir nur das finstere Tal voraussehen.
Das Gesetz, die Forderung darf nichts als die Anwendung des Evangeliums sein und nur so also dürfen Sie warnen und fordern, dass das ganz unmittelbar aus dem nicht als bekannt vorausgesetzten, sondern eben jetzt laut zugesagten Evangelium kommt.
Nichts anderes aber ist es, was der Nichtchrist nötig hat. Ich verstehe nicht, warum Sie meinen, ‚Es kann mir nichts geschehen, als was er hat ersehen und was mir selig ist‘, könne man ‚nur Christen‘ sagen. Aber nein, sollen die armen Nichtchristen denn das nicht hören? Es mag ihnen neu und unbekannt sein, sie mögen es bestreiten, sie können die Voraussetzungen, unter denen das gilt, noch nicht verstehen – aber dafür sind Sie ja da, dafür ist Ihnen ja das Wort auf die Lippen gelegt, damit Sie ‚Verantwortung geben jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in Euch ist.‘ Wann jemals könnte es eine geeignetere Stunde der Verkündigung gegen als dann, wenn einer der Verzweiflung so nahe ist? Wie ein Engel, ein angelos theou sind Sie zu ihm gesandt und sicher ist der ewige Segen über Ihnen und mit Ihren Worten, dass gerade eine Zeit, die eine Todeszeit zu werden schien, sich zu einer Entdeckung des Lebens wandelt.
Sagen Sie jedem das, was Sie selbst rettet. Beide, der Christ und der Nichtchrist, haben das Gleiche nötig; die ganze Zusage, die ihnen keiner besser sagen kann, als der, der sich auch nur durch sie gerettet weiss: „Dieweil wir nun solche Hoffnung haben, sind wir voll grosser Freudigkeit.“ Diese Hoffnung und Hilfe, nicht eine allzuschwere Forderung predigen Sie, wenn Sie in rechter Weise vor dem Selbstmord warnen: „Denn Gott, der da hiess das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung von der Erkenntnis der Klarheit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“
Und das ist darum die Hoffnung über solchen Gesprächen, dass durch sie an Stelle der ausweglosen Todesaussicht das Licht der Lebensaussicht auf das Schicksal derer fällt, denen alles Irdische genommen wird: ‚Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Massen wichtige Herrlichkeit‘.
Gott segne Sie und helfe Ihnen, dass Sie ein Helfer sein können.
In täglicher Fürbitte
Ihr Helmut Gollwitzer
1 Kommentar