Rudolf Bultmanns Predigt über Römer 8,18-27 (1938): „Wir sind nicht, was wir hier und jetzt zu sein scheinen, sondern was wir hoffen. Wir sind nicht, was wir selbst aus uns machen, sondern was Gott mit uns vorhat.“

Predigt über Römer 8,18-27

Von Rudolf Bultmann

Denn ich halte es dafür, daß dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll geoffenbart werden. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um des willen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung. Denn auch die Kreatur wird frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sich mit uns sehnt und ängstigt sich noch immerdar. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir des Geistes Erstlinge haben, sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unseres Leibes Erlösung» Denn wir sind wohl selig, aber in Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man siebt, ist nicht Hoff­nung; denn wie kann man des hoffen, das man sieht? So wir aber des hoffen, das wir nicht sehen, so warten wir sein in Geduld. Desselben gleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sichʼs gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, was des Geistes Sinn sei; denn er vertritt die Heiligen nach dem, was Gott gefällt.

Dieser Text ist einer der schwierigsten im Neuen Testament; nach der alten Perikopenordnung ist er für den heutigen Sonntag vorge­sehen, und wir wollen ihm nicht aus dem Wege gehen. Auch wenn wir ihn nicht in allem verstehen sollten, versuchen wir doch seinen Grundgedanken zu erfassen. Dieser läßt sich kurz so formulieren: Wir sind nicht, was wir hier und jetzt zu sein scheinen, sondern was wir hoffen. Wir sind nicht, was wir selbst aus uns machen, sondern was Gott mit uns vorhat. Das, was wir sein werden, gibt unsrer Ge­genwart ihren Charakter, macht sie zu etwas Vorläufigem und erfüllt sie mit einer eigentümlichen Unruhe.

I.

Nun ist das Merkwürdige, daß Paulus diese Tatsache, daß wir immer nur im Vorläufigen stehen, daß unser wirkliches, erfülltes Wesen erst vor uns liegt, klar machen will durch einen Blick auf die außermenschliche Welt, auf die »Kreatur«: »Denn das ängstliche Har­ren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sinte­mal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit, ohne ihren Willen, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung. Denn auch die Kreatur wird frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.«

Auch die Kreatur, die Welt der Natur, ist nicht so, wie sie sein sollte. Es geht durch sie die Sehnsucht nach der Befreiung von der Knechtschaft; sie ist geknechtet gegen ihren Willen, gegen das, was sie eigentlich sein soll und will, unter die Eitelkeit, d. h. unter die Ver­gänglichkeit. Sie kann ihre Lebenskräfte nicht frei entfalten; ihr freies Wachstum ist gehemmt, gebrochen.

Was heißt das? Können wir es verstehen? Ist es nicht mytholo­gische Redeweise? Und erst recht klingt es wie mythologische Rede, wenn Paulus sagt, die Natur sei der Vergänglichkeit unterworfen gegen ihren Willen, um deswillen, der sie unterworfen hat. In der Tat spielt Paulus damit auf alte mythologische Erzählungen an, auf Ausspinnungen der alten Geschichte vom Sündenfall des Adam: wie über den Menschen der Tod verhängt wurde, da er der Verführung durch den Satan verfiel, so wurde auch über die Natur der Fluch der Ver­gänglichkeit verhängt: sie wurde in das Schicksal des Menschen mit hineingerissen.

Das klingt fremdartig. Denn sehen wir den Fluch der Vergänglich­keit in der Natur wirken, und hören wir ihr Seufzen nach Erlösung?

Erscheint uns nicht umgekehrt die Natur als das Reich unerschöpf­lichen Lebens? So sehr, daß wir, wenn wir uns deutlich machen wollen, was »Leben« ist, zunächst gerade an die in der Natur wirken­den und gestaltenden Lebenskräfte denken.

Gewiß, wir sehen in der Natur auch Werden und Vergehen, Blühen und Welken, Geburt und Tod. Aber das Sterben in der Natur ist ja etwas ganz anderes als der Tod des Menschen; es ist keine Vernichtung, kein Auslöschen, sondern nur der Übergang zu neuen Formen des Lebens. Alles Werden und Vergehen ist in einen großen Lebensstrom verschlungen. Wie kann es also heißen, daß die Natur unter dem Fluche der Vergänglichkeit steht?

Dennoch enthält dieser Gedanke eine tiefe Wahrheit. Gewiß: für sich betrachtet scheint die Natur nicht mit dem Fluche der Vergäng­lichkeit belastet zu sein; aber sie existiert ja gar nicht für sich, sondern in ihrem Raume spielt sich die Geschichte des Menschen ab, und ohne ihren Willen wird sie in diese Geschichte hineingezogen, wird sie in das Schicksal des Menschen hineingerissen, wird von Menschen vergewaltigt. Merken wir das heute nicht manchmal mit Grauen?

Es ist schwer zu sagen wo die Vergewaltigung beginnt. Etwa schon in der Arbeit des Landmanns? Etwa schon in der Pflege des Gartens, des Waldes? Das scheint nicht der Fall zu sein. Daran wird Paulus nicht denken; denn in solchem Umgang mit der Natur bleibt der Mensch noch gleichsam innerhalb ihrer Lebensgesetze; er pflegt ihr Wachstum und erntet ihre Früchte für die Erhaltung seines Lebens und handelt damit offenbar noch nicht gegen die Natur. Denn sofern er der Nahrung bedarf, und seine Nahrung in der Natur sucht, ist er selber ein Naturwesen, nicht anders als das Tier, und so ist sein Leben mit Saat und Ernte auch hineinverschlungen in den großen Lebensprozeß der Natur.

Wo beginnt die Vergewaltigung der Natur? Wir wissen nicht worin Paulus selbst im einzelnen diese Verknechtung der Natur wahrnahm. Er konnte an allerlei Erscheinungen seiner Zeit denken; aber er sagt nichts genaueres darüber. Wir brauchen auch darüber nicht zu grü­beln. Daß es diese Vergewaltigung gibt, ist deutlich; am deutlichsten da, wo sich das menschliche Leben am meisten von der Natur ent­fernt hat, in den Großstädten und überall, wo die Technik zur beherr­schenden Macht geworden ist. Die Sehnsucht des Städters selbst, zu Zeiten hinauszufliehen in die Natur, ist ja schon ein Zeichen dafür, daß in seiner Umgebung die Natur vertrieben oder vergewaltigt, getötet worden ist. Und die Tatsache, daß gerade heute die Erzäh­lungen Adalbert Stifters mit ihrer Schilderung der Natur und eines in den Grenzen der Natur sich abspielenden Lebens so gerne gelesen werden, ist auch ein Zeichen dafür. Und wird nicht die Natur immer mehr in den Bereich der städtischen Kultur, der Technisierung des Lebens hineingezogen? Wird ihr nicht immer mehr ihre ursprüng­liche Ruhe und Stille geraubt, das geheimnisvolle Walten der Lebens­kräfte gestört? Schiller konnte noch sagen: »Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.« Aber wo­hin kommt der Mensch heute nicht? Wohin bringt er seine Qual nicht? Wie wenig Orte gibt es noch im Umkreis unseres Kultur­lebens, ja man kann schon fast sagen auf der Erde, wo wirklich Frie­den, Stille, Reinheit der Natur herrschen? Der Lärm der modernen Verkehrsmittel und Musikmaschinen zerstört die Ruhe auch der abgelegensten deutschen Landschaft. Moderne Straßenzüge und die Anlage von Industriewerken zerstören das Landschaftsbild.

Aber ist das vielleicht eine romantische, eine ästhetische Betrach­tung? Kann es anders sein? Handelt es sich nicht um harte Notwen­digkeiten, die in der Entwicklung des modernen Lebens begründet sind? Zweifellos handelt es sich weithin um einfache Notwendig­keiten. Aber darf uns das darüber täuschen, daß die Natur, die so in Geschichte und Schicksal des Menschen hineingezogen ist, dadurch entstellt und geschändet wird? Und beruht das alles auf Notwendig­keiten? Wo fangen sie an und wo hören sie auf? Hat der alte Mythos nicht darin recht, daß der Fluch über die Natur in der Sünde des Menschen seinen Ursprung hat? Wieviel von der Zerstörung der Natur geht nicht auf wirkliche Lebensnotwendigkeiten zurück, son­dern auf raffinierte Genußsucht, auf die Entfremdung des mensch­lichen Lebens von der Natur? Wieviel geht zurück auf das nackte Streben nach Gewinn, das die Ehrfurcht vor der Natur verloren hat und sie rücksichtslos ausbeutet, das jeden Wald daraufhin ansieht, ob er nutzbares Holz bietet, jeden Fluß, ob seine Wasserkraft in den Dienst der Technik gestellt werden kann! Wieviel geht zurück auf die Tatsache, daß das menschliche Leben ein Kampf aller gegen alle ist! Wenn die Rüstungen, deren ein Volk zu seiner Sicherung bedarf, jedesmal neue Beraubung der Natur verlangen, zeigt sich darin nicht deutlich, daß diese Notwendigkeit ihren Ursprung eben in der Sünde hat?

Aber freilich: Notwendiges und Sündiges hat sich in der mensch­lichen Geschichte so miteinander verflochten, daß wir es nicht mehr entwirren können. Wir stehen alle in einem Getriebe des Lebens, durch das sich die Macht des Bösen vielfältig schlingt, wir mögen wollen oder nicht; der Einzelne kann sich nicht herauslösen. Er kann sich freilich den Gang der Dinge klar machen, und er soll nicht leicht­fertig dem Zerstörungsprozeß zusehen, der sich an der Natur voll­zieht; er soll die Ehrfurcht vor der Natur wieder gewinnen, und viel­leicht kann er an seinem Teil dazu beitragen, daß dieser Zerstörungsprozeß auf das wirklich Notwendige beschränkt wird. Aber unser Text richtet unseren Blick nicht deshalb auf die Natur, um uns das richtige Verhalten ihr gegenüber zu lehren, sondern einfach um uns die Augen zu öffnen für das Bild, das vor uns liegt: die Natur, hinein­gerissen gegen ihren Willen in die Geschichte des Menschen und des­halb dem Fluche der Zerstörung bedroht. Wir merken, was sie sein könnte und sollte, und was sie immer weniger ist. Bei diesem Anblick kann uns das Grauen überkommen, und wir spüren etwas davon, welches Verhängnis über dieser Welt hegt, wie sehr sich unser Leben verfangen hat, und eine Sehnsucht, ein Seufzen nach Befreiung, nach Erlösung steigt in uns auf.

II.

Der Blick auf die Welt der Natur, die durch die menschliche Ge­schichte gestört und entstellt wird, soll uns zur Besinnung führen auf die Welt des menschlichen Lebens. Ist sie, wie sie sein sollte? Ist sie nicht auch verdorben und entstellt? Wohin hat die Geschichte uns geführt? Spüren wir heute nicht die Welt in allen Fugen zittern und ächzen? Der Text redet nun nicht von den Menschen im allgemeinen, sondern von den Glaubenden, die sehnsuchtsvoll das Ende dieser Welt erwarten und nach einer neuen Welt ausschauen. Sie werden wohl auch, und vielleicht gar besonders, von den »Leiden dieser Zeit« ge­troffen, aber – sagt Paulus – sie werden nicht im Innersten getroffen, weil ihr Innerstes, ihr eigentliches Wesen gar nicht dieser Welt gehört, weil sie der Zukunft angehören. Und so wissen sie, »daß dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden«.

Das ist freilich kein billiger Trost, als ob jeder, dem es hier schlecht geht, erwarten könnte, daß er einst in der himmlischen Herrlichkeit reich entschädigt werden wird. Der Trost gilt nur dem, und das Be­kenntnis des Glaubens kann nur der sprechen, der es klar durchschaut hat, daß sein jetziges Leben scheinhaft und unwirklich ist, wenn es nicht durch die Zukunft, auf die er hofft, jetzt schon bestimmt und von ihr getragen ist, daß sein jetziges Leben nur Kraft und Wahrheit hat, wenn er wirklich das sein will, was er sein soll, wenn er wirklich aus der Zukunft lebt. Was heißt das? Man kann in gewisser Weise sagen, daß alle Menschen aus der Zukunft leben, daß sic nicht das sein wollen, was sie hier und jetzt sind, sondern was sie erhoffen. Das gilt von denen, die nach irgendeinem Ziel streben in dieser Welt, sei es ein hohes, sei es ein geringes; sei es die Sicherheit eines Berufes, oder die Ruhe eines Familienlebens, sei es Geltung und Ehre, sei es Macht im wirtschaftlichen oder politischen Leben, sei es Wissen oder das Schaffen des Künstlers. Sie alle leben im Grunde aus dem, was sie noch nicht haben, aus dem, was vor ihnen steht, dem Zukünftigen, Erhoff­ten und Erstrebten; dieses gibt ihrem Leben Inhalt und bewegende Kraft. Keiner kann zum Augenblick sagen: »Verweile doch, du bist so schön!« Und dünkt es uns vielleicht einmal so in einem Augenblick des Glückes, so doch nur deshalb, weil dieser Augenblick uns Zukunft verheißt. D. h. aber: Alles Leben, das nach einem Ziel sich streckt, ist immer erst ein vorläufiges, unerfülltes, uneigentliches Leben. Was der Mensch eigentlich sein will, liegt immer vor ihm. Sein Leben ist ge­wissermaßen ein Laufen, in dem er sich selbst, sein eigentliches Wesen, einfangen will.

Das gilt aber ebenso von dem, dem es nicht – oder im Grunde nicht – um ein solches Ziel zu tun ist, sondern der den Sinn eines Le­bens in der Erziehung seiner selbst, in seiner inneren Bildung, in seiner Selbstvervollkommnung sieht; der etwas aus sich machen will, der an sich arbeitet, um vor sich selbst bestehen zu können.

»Vor jedem steht ein Bild des, das er werden soll, solang er das nicht ist, wird nie sein Sehnen voll.«

Auch dieser Mensch lebt aus dem, was er nicht ist, aus dem Zukünf­tigen. Er weiß es selbst, daß er nie am Ziel ist. Und je ehrlicher er sich das eingesteht, je besser er weiß, wie oft er Irrwege gegangen ist und geht, daß er sich oft verloren hat, statt sich zu finden, wie oft er schul­dig ward, und wie wenig er als der, der er hier und jetzt ist, nackt vor aller Augen dastehen möchte, desto mehr ist es ihm bei aller Sehn­sucht ein Trost, daß er in Wahrheit nicht der ist, der er hier und jetzt ist, sondern der, der er zu sein hofft.

So gilt es wohl, daß alle Menschen aus der Zukunft leben, ob sie es sich klar machen oder nicht. Aber es ist nun ein entscheidender Unter­schied, ob die Zukunft, die das Leben eines Menschen bewegt und prägt, wirkliche, echte Zukunft ist, d. h. ob sie nur erträumt, ersehnt, erstrebt ist, oder ob sie wirklich auf mich zukommt. Denn das ist doch Zukunft: was wirklich auf mich zukommt, ob ich es erhoffe, erwarte, darauf gefaßt bin oder nicht.

Ob Menschen aus der echten Zukunft leben, das zeigt sich einfach daran, ob sie dem, was ihnen die Zukunft jeweils bringt, gewachsen sind, oder ob sie daran zerbrechen, sich daran verlieren, sei es Freude, sei es Leid, sei es auch der graue Alltag. Aus der Zukunft leben heißt: Offen sein für alles, was die Zukunft bringt, in der Gewißheit, daß alles zum Besten dienen muß, daß alle Zukunft Gottes Gabe und Segen ist. Also nicht die Bestimmtheit, durch ein selbstgesetztes Ziel, auf das Kräfte und Hoffnung gespannt sind, sondern in gewissem Sinn die Ziellosigkeit, d. h. die innere Freiheit von den selbstgesetzten Zielen; der Glaube, daß mir die Zukunft mich selber bringt, der ich mich im eigenen Laufen nie einfangen kann. Die Bereitschaft für mein Schicksal, für das, was Gott mit mir vorhat.

Haben wir solche Bereitschaft? Sind wir jedem Schicksal gewach­sen? Gibt uns die Offenheit für die Zukunft jene Freiheit von unseren eigenen Lebenszielen? Leben auch wir, die wir Christen sein wollen, in dieser Freiheit, die Paulus beschreibt:

»die da Weiber haben, seien, als hätten sie keine,
und die da weinen, als weinten sie nicht,
und die sich freuen, als freuten sie sich nicht,
und die da kaufen, als besäßen sie es nicht,
und die diese Welt brauchen, als hätten sie nichts davon«?

Die meisten Menschen leben, sich selbst unbewußt, in einem eigen­tümlichen Zwiespalt. Bei ihnen verbindet sich die Hoffnung auf die Zukunft, ohne die sie nicht leben können, mit der Angst vor der Zukunft, die ihnen nehmen kann, was sie haben. Indem sie das fest­halten wollen, was sie haben, klammem sie sich an das Vergangene, und so leben sie nicht aus der Zukunft, sondern sterben an ihr. Was sie erhoffen von der Zukunft, ist immer nur solches, was sie, wenn sie es nur einmal hätten, festhalten wollen, um es zu besitzen, um sich gegen die Zukunft zu sichern. Aus solchem Streben der Menschen, aus solchem Festhalten und Besitzenwollen, erwächst auch der Fluch, der über aller menschlichen Geschichte liegt, der Kampf aller gegen alle, weil jeder gegen den anderen sich durchsetzen, sein Recht be­haupten, seine Zukunft sichern will. Und statt aus der Zukunft leben die Menschen in Wahrheit aus der Vergangenheit, die ihnen ihre Ziele vorschreibt, die Motive und Maßstäbe ihres Handelns diktiert, und so bietet die menschliche Geschichte wie die Natur das Bild einer Mensch­heit, die nicht ist, wie sie sein könnte, sein sollte, sondern die entstellt und geschändet ist.

Nicht die Bereitschaft für die Zukunft, sondern die Angst vor ihr ist die bestimmende Macht im Menschenleben. Wirklich aus der Zu­kunft leben hieße: das Grauen vor ihr besiegen in der Gewißheit, daß alles was sie bringt, nur zum Besten dienen kann. Und die letzte Probe wäre es, daß wir uns auch dem Tode, den die Zukunft jedem sicher bringen wird, nicht mehr angstvoll verschließen, sondern ihm unverzagt entgegensehen in der Gewißheit, »daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Ge­genwärtiges noch Zukünftiges … uns scheiden kann von der Liebe Gottes«.

Aber wer kann so sprechen? Kann vielleicht der es, dessen Ziele nicht greifbare Güter in dieser Welt sind, der nur ringt nach der Rein­heit und Klarheit seines eigenen Wesens, nach der Vervollkommnung seiner selbst? Lebt er nicht aus echter Zukunft? Blickt er nicht in eine Zukunft, die ihm nichts rauben kann, da er ja sein Herz an nichts Ver­gängliches gehängt hat? Wohl lebt er aus dem, was er werden will, und doch nicht aus echter Zukunft, aus dem, was auf ihn zukommt. Er lebt aus eigener Kraft, nicht aus dem Segen, den die Zukunft ihm zubringt, nicht aus dem, was Gott mit ihm vorhat. Je mehr er aber nur aus eigener Kraft lebt, desto mehr lebt er auch aus der Vergangen­heit, nämlich aus seiner eigenen Vergangenheit, aus dem, was er aus sich selbst gemacht hat. Und je ehrlicher er sich eingesteht, daß er immer noch nicht der ist, der er werden will, desto mehr wird er sich des Zwiespaltes bewußt, in dem er steht: Er möchte der sein, den er vor sich sieht in Klarheit und Reinheit, und er ist doch immer gefan­gen von seiner eigenen Vergangenheit, mit allem Halben und Klein­lichen, allem Unreinen und Bösen, das er nie los wird. Und seine Hoff­nung richtet sich dann nicht mehr auf das, was er selber aus sich ma­chen will, sondern auf Befreiung, auf Erlösung von sich selbst, aus diesem Zwiespalt seines Wesens. Er ist nicht, was er sein soll und sein will; nur die Zukunft kann ihm sein wahres Wesen bringen; aber sie kann es ihm nur bringen als Geschenk, wenn er für die Zukunft offen steht, bereit für das, was Gott mit ihm vorhat.

Wer ist es aber, der so bereit sein kann für die Zukunft, die Gott gibt? Wer ist so frei von der Angst, daß er sich an nichts Vergäng­liches mehr klammerte? Wer ist frei von seiner eigenen Vergangen­heit, frei von sich selbst?

Es gibt nur eine Macht, die uns von uns selbst befreit, und uns alle Angst wie alle Selbstverzweiflung nimmt. Sie heißt die Liebe.

Wir kennen schon in unserem menschlichen Gemeinschaftsleben, wenn es je von dem Strahl der göttlichen Liebe getroffen war, etwas vom Leben und Walten der Liebe. Und mancher weiß beschämt und dankbar, daß er nicht das ist, was er aus sich selbst gemacht hat, son­dern das, was die ihm begegnende, ihm geschenkte Liebe aus ihm gemacht hat. Diese geheimnisvolle Kraft echter Liebe beruht darin, daß sie den begegnenden Menschen sieht und versteht und behandelt nicht als den, der er hier und jetzt ist, sondern als den, der er sein kann, sein soll, sein möchte, als den Zukünftigen. Das macht einen Menschen froh und gibt ihm Vertrauen, wenn er spürt, daß der andere ihn als den Zukünftigen nimmt; daß der andere hindurchschauen kann durch alles Äußerliche, alles Alltägliche, Kleinliche, alles Unvollkom­men-Halbe, das jedem anhaftet: daß der andere auf ihn vertraut. Und einem Menschen Vertrauen schenken, das bedeutet ja: an seine Zukunft glauben. Solches Vertrauen macht den, der es erfährt, glück­lich und frei.

So schenkt Liebe Zukunft, so schenkt Liebe zugleich Glauben an die Zukunft. Aber alle unsere Liebe ist doch nur ein schwacher Ab­glanz der Liebe Gottes, die da »beweget Sonn und Sterne«. Wie schwach und gebrochen ist unsere Kraft, Liebe zu schenken und Liebe zu wecken! Das aber ist die christliche Botschaft, daß Gottes Liebe erschienen ist in Jesus Christus. Hier tritt sie aus der Verborgenheit und wird in Wort und Tat verkündet allen, die in Angst und Qual sich nach Freiheit sehnen. Gottes Liebe, die uns nimmt – nicht als die, die wir sind, zu denen wir uns gemacht haben, sondern als die, die wir nicht sind, die wir sein sollen, sein wollen, sein werden. Und dadurch macht die göttliche Liebe all das, was wir sind zum Schein und schenkt uns dafür, was wir nicht sind, unser echtes, wirkliches Sein. Gottes Liebe ist nicht ein Ziel, um das wir ringen – wer könnte sie sich erringen! -, sie ist die Macht, die uns immer schon umfängt, für die uns nur die Augen aufgehen sollen; und wir sollen die Augen richten auf den, in dem sic erschienen und wirklich geworden ist in der Welt, auf Jesus Christus. Sich von dieser Liebe getragen wissen, heißt frei sein von der Vergangenheit, frei sein von sich selbst, frei für die Zukunft, die Gott schenken will, für die Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden.

Diese Freiheit schafft in uns die Hoffnung, von der Paulus sagt: »Denn wir sind wohl selig, doch in der Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man siehet, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man des hoffen, das man sieht?« Die Hoffnung richtet sich auf das Unsichtbare, auf das, wovon wir uns keine Vorstellung, keine Anschauung machen können. Aber es ist eine Hoffnung in Geduld: »So wir aber des hoffen, das wir nicht sehen, so warten wir sein in Geduld.« Das fordert wohl immer neue Kraft und Selbstüberwindung. Aber wissen wir um die Liebe Gottes, so gehören wir zu denen, die »des Geistes Erstlinge« haben, d. h. in deren gegenwärtigem Leben sich die Kraft der Zukunft schon als mächtig erweist. Und der Geist »hilft unserer Schwachheit auf«. Wenn wir unsere Kraft erlahmen fühlen, tritt Gottes Kraft für uns ein, und unser Eingeständnis, aus eigener Kraft nichts zu vermögen, wird zum Gebet.

Worum sollen wir beten? »Wir wissen nicht was wir beten sollen, wie sichs gebühret«, – wir haben ja freilich alle unsere vielfältigen Wünsche für die Zukunft, aber sie sollen vor Gott verstummen. Und wenn alle unsere Zukunfts-Ziele versinken und unser Weg mensch­lieh gesehen ein Weg ohne Ziel ist, wenn uns nur die Sehnsucht bleibt, so redet gerade in dieser Sehnsucht, uns selbst unbewußt, der Geist. »Er vertritt uns aufs Beste mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, was des Geistes Sinn sei; denn er vertritt die Heiligen nach dem, das Gott gefällt.«

Wir sind nicht, was wir hier und jetzt zu sein scheinen, sondern das, was wir hoffen, – dann sind wir es, wenn wir auf das hoffen, was Gott in seiner Liebe mit uns vorhat.

»Darum zur Ruh, mein wild Gemüt!
Nicht alles wird hier Frucht, was blüht;
Du trägst, der Erde stummer Gast, in dir,
was nur der Himmel faßt.
Was für und für so ruhelos
dich dunkel treibt auf deinen Wegen,
Es ist das erste Flügelregen
des Falters in der Puppe Schoß;
Dir selbst bewußt kaum ist dein Leid
ein Heimweh nach der Ewigkeit.« (Geibel)

Amen.

Gehalten am 2. Juli 1938 in Marburg.

Quelle: Rudolf Bultmann, Marburger Predigten, Tübingen: J.C.B. Mohr, 21968, S. 60-70.

Hier die Predigt als pdf.

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