Karl Rahner über die Einheit von Nächsten- und Gottesliebe: „Überall dort, wo der Mensch in wirklicher personaler Frei­heit sich dem Nächsten öffnet, hat er immer schon, weil das alles schon umfangen ist von der Gnade Gottes, mehr getan als bloß gerade diesen Nächsten geliebt. Er hat den Nächsten geliebt, und er hat im Nächsten schon Gott geliebt.“

„Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt …“. Einheit von Nächsten- und Gottesliebe

Von Karl Rahner

Wir begegnen vielen Menschen, die nicht ausdrücklich Chris­ten sind und es nicht einmal sein wollen. Nehmen wir an, ein solcher Mensch würde wirklich in einer letzten radikalen Selbstlosigkeit lieben, den Nächsten, seinen Bruder, jemanden, den er sieht, lieben, was ist dann eigentlich geschehen? Ist das nur eine sehr gute, anerkennenswerte Sache, woran im Letz­ten aber doch noch das meiste fehlt, oder ist da ein letztes Ver­hältnis zu Gott schon gefunden, das sich zwar entfalten, das gewissermaßen seinen Namen bekommen sollte, das in seinen letzten unausdrücklichen, aber gegebenen Dimensionen auf Gott hin erst noch ausgemessen und benannt werden sollte, aber das doch wirklich schon da ist? Und eben dies meine ich, wenn ich sage, dass bei letzter, echter, radikaler Liebe zum Nächsten, in der der Mensch sich wirklich mit der letzten Kraft seines Wesens einsetzt und weggibt an ihn, dass da im­mer und überall, wo dies geschieht, Gottesliebe, Caritas ge­geben ist. Natürlich nicht deswegen, weil die natürliche Struk­tur eines solchen Aktes das notwendigerweise erzwingen wür­de, aber wir leben unter dem allgemeinen Heilswillen Gottes, d. h., wir leben in einer Welt, die immer und überall durch die geheime Gnade Gottes ausgerichtet ist auf das ewige Leben Gottes, immer und überall, wo sich der Mensch nicht aus­drücklich durch wirklich schuldhaften Unglauben gegen eine solche innerste übernatürliche, gnadenhafte Dynamik der Welt versperrt.

Nun ist aber der Akt der Liebe zum Nächsten nicht nur irgendeiner der sittlichen Akte, sondern im Grund genommen der Grundakt des sittlichen Daseins, des Menschen selbst. Er­kenntnis ist bei sich selber sein, und Freiheit ist im Letzten die aufs Endgültige hin gewollte Selbstverfügung der freien Per­son über sich selbst.

Beides kann aber gewissermaßen nur geschehen in der liebenden Kommunikation mit dem fremden Du. Die Welt ist primär für den Menschen als geistig personales Subjekt eine Mitwelt. Wir leben nicht bloß in einer Umwelt, in der es alle möglichen verschiedenen Dinge gibt, sondern diese Welt hat vom Subjekt und von der Wirklichkeit, der der Mensch begeg­net, her eine innere Struktur, ist letztlich Kommunikation der Liebe mit dem Du. Die ganze Sachwelt, mit der wir es zu tun haben, selbst in Wirtschaft, Gesellschaft usw., ist im Grunde genommen nur das Material, die Voraussetzung, die Auswir­kung der liebenden Kommunikation mit dem anderen Du. Der Mensch verfügt in dem einen totalen Akt seines Lebens in radikaler, ewigkeitsschaffender Freiheit über sich, und diese Selbstverfügung über sich selbst ist einfach im Letzten ent­weder das liebende Sich-Öffnen gegenüber dem menschlichen Du oder die letzte Selbstversperrung in Egoismus, die den Menschen in die verdammende, tödliche Einsamkeit des Ver­lorenen stürzt. Dieser Grundakt ist natürlich immer nur mög­lich, indem der Mensch vorgreift auf die Absolutheit der Wirklichkeit, indem er also schon unthematisch, unreflex zu tun hat mit Gott. Denn wir fangen nicht erst dort an, mit Gott etwas zu tun zu haben, wo wir ihn ausdrücklich rufen, wo wir dieses Geheimnis, auf das wir immer zugehen, das überhaupt erst die Möglichkeit geistiger Freiheit und Liebe gibt, aus­drücklich nennen und bekennen. Immer und überall in der Tat der Erkenntnis und erst recht der Freiheit haben wir es unausdrücklich mit Gott zu tun. Und wenn nun ein Mensch in der Grundtat seines Daseinsvollzugs sich liebend zu den Mitmenschen verhält, ist diese Grundtat seines Lebens aus dem allgemeinen vergöttlichenden Heilswillen Gottes, der auch außerhalb der Kirche überall am Werk ist, getragen von Gottes Heiligem Geist, von seiner Gnade und ist wenigstens unthematisch und unausdrücklich, aber wirklich auch ein Akt der Caritas, der Liebe Gottes.

Man müsste natürlich in einer genaueren Beschreibung dessen, was Nächstenliebe bedeutet, zeigen, wie sie eigentlich immer, selbst wenn sie das gar nicht ausdrücklich will und be­ab­sichtigt, an das Geheimnis Gottes grenzt. Wenn wir schwei­gen, wenn wir vergeben, wenn wir unbelohnt uns ganz einset­zen und uns gleichsam von uns selber absetzen, dann greifen wir immer in eine Unendlichkeit hinein, die nicht mehr um­fangen werden kann, die namenlos ist, greifen wir vor auf das heilige Geheimnis, das unser Leben durchwaltet und trägt, ha­ben wir es mit Gott zu tun. So etwas geschieht nun notwendig und immer in der Tat der liebenden Freiheit des wirklichen, radikalen Sich-Öffnens gegenüber dem Nächsten, und diese ist deswegen in der gegenwärtigen Ordnung des Heilswillens Gottes dann immer auch schon getragen von der Gnade Got­tes, ist Caritas.

Überall dort, wo der Mensch in wirklicher personaler Frei­heit sich dem Nächsten öffnet, hat er immer schon, weil das alles schon umfangen ist von der Gnade Gottes, mehr getan als bloß gerade diesen Nächsten geliebt. Er hat den Nächsten geliebt, und er hat im Nächsten schon Gott geliebt. Weil er dem Nächsten gar nicht liebend begegnen kann außer da­durch, dass die Dynamik seiner geistigen Freiheit, getragen von der Gnade Gottes, schon immer Dynamik auf das unsag­bare heilige Geheimnis ist, das wir Gott nennen …

Jesus sagt uns: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Wie oft haben wir diesen Satz schon gehört und in unseren frommen, erbaulichen Reden benutzt. Aber fragen wir uns einmal: Kann denn das Jesus wirklich sagen? Ist das nicht nur ein juristisches „Als-ob“: ich rechne es dir so an, als ob du es mir selber getan hättest, was du dem geringsten dieser ande­ren Menschen getan hast? Nein, es handelt sich bei diesem Worte Jesu nicht nur um eine juristische Fiktion, um ein mora­lisches „Als-ob“, um ein gewisses Kompensationsverfahren, es ist wirklich so, dass wir im anderen Menschen dem fleisch­gewordenen Worte Gottes begegnen, weil in diesem anderen wirklich Gott selbst ist. Und wenn wir ihn lieben, und wenn wir gleichsam die Dynamik dieser Liebe nicht schuldhaft ab­bremsen und im Grunde genommen zurückbiegen auf uns, dann geschieht eben nun dieser göttliche Abstieg in das Fleisch des Menschen, so dass Gott da ist, wo wir sind, und uns an­blickt in einem Menschen. Dieser göttliche Abstieg geht weiter durch uns hindurch, und es geschieht dann, dass wir, weil Gott uns liebt, den Nächsten lieben und Gott schon geliebt ha­ben, indem wir den Nächsten lieben, weil wir ja diese Liebe gar nicht anders tun können als getragen von dieser göttlichen Liebe zu uns, die eben sich selber zu unserem Bruder gemacht hat. Die christologische Seite, wenn ich so sagen darf, unserer Nächstenliebe müsste wirklich ernst genommen werden und wirklich gelebt werden: dass dort, wo der andere Mensch mir gegenübertritt, wirklich Christus da ist und mich fragt, willst du mich, das fleischgewordene Wort Gottes, lieben, und wenn ich sage „ja“ dann sagt er: Da bin ich, im geringsten meiner Brüder.

Ein theologischer Aspekt sei zur Verdeutlichung hinzuge­fügt. In der Ewigkeit wird es, wenn wir das Christentum der Inkarnation ernst nehmen, so bleiben, dass das fleischgewor­dene Wort Gottes in seiner Menschheit ewig die Vermittlung, das Tor, die Brücke, die Konkretheit Gottes für uns sein wird, insofern wir ihn von Angesicht zu Angesicht schauen werden. Die Menschheit Jesu ist weder eine Barriere zwischen uns und dem Gott der Unmittelbarkeit der Gnade, noch ist sie etwas, was nur einmal in der Zeit vermittelte, um dann gleichsam ab­geschafft zu werden. Immer werden wir es mit dem Gott zu tun haben, der selber Mensch geworden ist. Es gibt in Ewig­keit keine Theologie, die nicht Anthropologie wäre.

Ist es nicht so, dass wir Christen vielleicht unseren christlichen Glauben doch noch immer nicht genug verstanden ha­ben, dass die einzelnen dogmatischen Aussagen unseres Glau­bens, sosehr wir sie bekennen und annehmen, doch viel zu weit auseinander liegen, dass wir gleichsam den Eindruck haben, in einer unendlich komplizierten Welt von Aussagen, Dogmen und Vorschriften zu leben? In Wirklichkeit aber ist es so: Gott ist Mensch – und darum ist die Gottesliebe Men­schenliebe und umgekehrt …

Wir wissen im Letzten von Gott nichts, wenn wir nichts vom Menschen wissen, von dem, den Gott selbst als seine eigene Wirklichkeit angenommen hat und in dem auch das letzte Geheimnis, die letzte Tiefe alles Menschseins beschlos­sen ist. Wir können ja letztlich von uns das Tiefste nur aus­sagen, wenn wir sagen: Wir sind die Wirklichkeit, die Gott zu seiner eigensten machen konnte und gemacht hat. Nur dann, wenn wir das sagen, wenn wir gleichsam aus der Anthropolo­gie hinüberspringen in die Theologie, haben wir verstanden, was wir selber sind. Und darum haben wir uns in der Tat un­seres Lebens, in der letztlich allein wir uns verstehen, erst ver­standen, wenn wir Liebende sind, Menschen, die den anderen Menschen selbstlos liebend gefunden haben und natürlich nicht da und dort nur in einer Feierstunde, sondern in der brutalen, gewöhnlichen, grauen Alltäglichkeit unseres Lebens. Dort finden wir Gott, und wir dürfen durchaus sagen, alles Gebet, aller Kult, alles Recht der Kirche, alle Institution der Kirche seien nur dienende Mittel, damit wir das eine tun: Gott und den Nächsten zu lieben, und wir können Gott nicht lie­ben, als dass wir ihn in unserem Nächsten lieben. Dort, wo wir das tun, haben wir dann wirklich das Gesetz erfüllt, haben wir das Band der Vollkommenheit um unser ganzes Leben ge­schlungen, haben wir den vollkommenen Weg durchmessen, den uns Paulus aufgezeigt hat. Nur wenn wir begreifen, dass es eine wirklich letzte Einheit zwischen Gottes- und Nächsten­liebe gibt, verstehen wir eigentlich, was das Christentum ist, und welch göttlich einfache Sache es doch ist. Das göttliche Einfache muss natürlich ausgelegt werden, und unser ganzer Katechismus mit all dem, was drinsteht, ist die wahre und echte Auslegung, aber es ist die Auslegung, die Artikulierung, die Wortausprägung dessen, was wir im Grund schon ergriffen haben, wenn wir den Nächsten lieben.

Quelle: Karl Rahner, Glaube, der die Erde liebt. Christliche Besinnung im Alltag der Welt, Freiburg i. Br.: Herder, 1971.

Hier der Text als pdf.

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