Karl Barths Auslegung zu Johannes 8,3-11 (Jesus und die Ehebrecherin) in seiner Kirchlichen Dogmatik: „Wohl aber durfte und sollte sie von jetzt an – und das ist es, was ihr dort zugerufen wird – als eine durch des gnädigen Gottes Gericht aufgerichtete und ausgerichtete Übertreterin leben: im Stande der Übertretung schon unter dem mächtigen Anstoß ihrer in Jesus vollzogenen Versetzung in den Stand «ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit», in der irreparablen Unordnung ihres Lebens schon orientiert an der Ordnung seines Reiches.“

Auslegung zu Johannes 8,3-11 (Jesus und die Ehebrecherin)

Von Karl Barth

Die Frau, von der in dem Text Joh. 8, 3-11 die Rede ist, ist nach v 4 «auf frischer Tat» beim Ehebruch ergriffen worden. Kein Zweifel, daß sie im konkretesten Sinn des Gebotes schuldig ist. Und die Pharisäer haben auch darin recht, daß nach dem Wortlaut des von Mose gegebenen Gesetzes (Deut. 22, 22-24) ein in dieser Weise schuldig gewordener Mensch getötet werden soll. Sie wollen von Jesus, daß er zu diesem Fall Stellung nehme: «Was sagst du dazu?» (v 5). Der Berichterstatter kommentiert: «Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, damit sie ihn anklagen könnten» (v 6). Verwehrt er ihnen die Ausführung jener Weisung des Gesetzes, so wird er klagbar wegen seines Widerspruchs gegen das Wort des Mose. Heißt er sie jene Weisung ausführen, dann wird er verklagbar bei der römischen Behörde, die solche hohe Gerichtsbarkeit sich selber vorbehalten hatte. Es ist klar: es geht den Pharisäern weder um das Gesetz Gottes noch um die Sünde jener Frau. Es geht ihnen nur gegen Jesus. Aber eben Jesus geht es mit größtem Ernst um das Gesetz Gottes und um die Sünde – dieser Frau? Ja, auch um die ihre, aber nicht nur um die ihre! Nun heißt es nämlich von ihm: Er «bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde» (v 6). Die naheliegendste Erklärung dieses auffallenden Tuns dürfte doch sein: Er deutet das an, was Gott (Ex. 34, 1, Deut. 4, 13 u. ö.) auf dem Sinai getan hat: Er schreibt (sein Finger und die Erde müssen zum Vollzug der Gebärde genügen) das Gesetz, das heißt aber, er gibt sich selbst als den Urheber und damit auch als den kompetenten Ausleger des die Ehebrecherin anklagenden und zum Tod verurteilenden Gebotes zu erkennen. Aber die Pharisäer wollen ja weder den Gesetzgeber noch sein Gebot erkennen; sie stehen ja im Streit gegen beide, sie fragen also beharrlich weiter: Was sagst du dazu? (v 7). Und nun blickt Jesus auf und gibt als Urheber und also als kompetenter Ausleger des Gesetzes die von ihm aus kristallklare, für sie aber höchst verfängliche Weisung: «Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!» (v 7). Also: wer in dieser Sache schuldlos ist, der betätige sich in dieser Sache als Richter und Henker! Und, dies gesagt, einfach die Fortsetzung jener andeutenden Gebärde: «Und er bückte sich wiederum nieder und schrieb auf die Erde» (v 8). Man denkt an Jer. 17, 1 f.: «Die Sünde Judas ist aufgeschrieben mit eisernem Griffel, eingegraben mit diamantener Spitze auf die Tafel ihres Herzens und auf die Hörner ihrer Altäre und ihre Ascheren, auf jeden grünen Baum, auf die hohen Hügel, die Berge im Feld.» Warum gehorcht niemand der gegebenen Weisung? Warum gehen sie alle weg? (v 9). Was ist geschehen? Das ist auf alle Fälle geschehen, daß die beabsichtigte Verklagung Jesu in ihren beiden scheinbar unvermeidlichen Eventualitäten unmöglich geworden ist, daß er vor Gott und den Menschen als gerechtfertigt dasteht. Was ist noch geschehen? Das Gesetz Gottes und die Sünde der Menschen sind auf einmal als furchtbar ernste Realitäten sichtbar geworden und das so, daß die, die weder das Gesetz noch die Sünde ernst nehmen, sondern Jesus anklagen wollten, durch ihr eigenes Verhalten sich als angeklagt bekennen müssen. Der Autor und Ausleger des Gesetzes hat sie ja offenbar mit seiner Weisung alle ebenfalls «auf frischer Tat ergriffen»! Die Radikalität und Universalität seines Gebotes hat sich offenbar als wirksam erwiesen. Er hat sie offenbar gezwungen, sich mit der Ehebrecherin – mit ihr schuldig, mit ihr des Todesurteils würdig – in eine Reihe zu stellen. Eben damit sind sie auch als Ankläger der Ehebrecherin wie hinweggeschwemmt. Was ist noch geschehen? «Er blieb allein zurück mit der Frau, die in der Mitte war» (v 9): eben dort, wo sie als mit Recht Angeklagte dem verdienten Todesurteil und dessen Vollzug entgegengesehen hatte. Aber nun ist sie allein mit Jesus, allein in seinem Gericht. «Frau, wo sind sie? Hat dich niemand [264] verurteilt?» (v 10). «Sie sagte aber: Niemand, Herr!» (v 11). Aber noch ist nicht entschieden, ob nun nicht eben Jesus das Urteil über sie aussprechen, sie dem verdienten Tod überliefern wird. Warum sollte er es nicht tun? Er ist «ohne Sünde». Er gehört nicht zu denen, die dabei fürchten müßten, auch sich selbst zu verurteilen. Eben er ist der legitime und kompetente Richter dieser Frau. Wird er der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen? Man höre: «Auch ich verurteile dich nicht!» (v 11). Und man bemerke: Gerade so läßt er wirklich der Gerechtigkeit ihren Lauf. Gerade so nimmt er als Autor und Ausleger des Gesetzes konkrete Stellung zu der Sünde, deren sie zweifellos schuldig ist. So lautet also sein Rechtsspruch: Freispruch der Ehebrecherin! Gleichlautend mit dem Spruch, den unfreiwillig auch ihre Ankläger, indem sie den Schauplatz verließen, aussprechen mußten! Gerade das Gesetz, dessen Urheber und Ausleger Er ist, verlangt offenbar diesen Freispruch. Was besagt dieses Gesetz? Gewiß nicht, daß diese Frau nicht gesündigt hat, schuldig und strafwürdig ist. Wohl aber laut dieses Freispruches offenbar dies, daß das verdiente Todesurteil über sie schon gesprochen, schon vollzogen ist, einen Anderen an ihrer Stelle getroffen hat und damit erledigt ist. So wäre es nicht nur unnütz, sondern ungerecht, es sie noch einmal treffen zu lassen. So ist sie die Sache los. Wie sollte gerade Jesus sie verurteilen? Nach dem von ihm aufgerichteten, proklamierten und angewendeten Gesetz, dem Gesetz der Gnade des einen wahren Gottes, ist nämlich er selbst, der Sündlose, der Gesetzgeber und Richter, der an ihrer Stelle Verurteilte und sie, die Sünderin, die dort, seinem Spruch verfallen, mit ihm allein zurückbleibt, die Losgesprochene. So hat er das Gesetz Gottes und die Sünde dieser Frau ernst genommen: indem er selbst für die Übertreterin eintrat und also sie, die Übertreterin, freisprach. – Warum sind die Pharisäer nur weggelaufen? Nicht das war schlimm, daß auch sie nicht ohne Sünde, daß mit der Ehebrecherin auch sie schuldig und angeklagt waren. Schlimm war, daß sie den vor ihnen stehenden Gesetzgeber und sein Gesetz nicht anerkennen, den Rechtsspruch des gnädigen Gottes über die Ehebrecherin und über sich selbst nicht hören und annehmen wollten. Schlimm war, daß ihr ganzer, so feierlicher und so gründlich mißlungener Aufmarsch gegen die Ehebrecherin – gegen ihre Schwester im Ehebruch! – in Wahrheit gegen Jesus, gegen die in ihm erschienene freie Gnade und gerade so gegen Gott und sein Gesetz gerichtet war. Schlimm war, daß sie in diesem Gegensatz verharrten. Sie hätten offenbar von Jesus – mit der Ehebrecherin schuldig und angeklagt – mit ihr auch frei und gerecht gesprochen werden, sie hätten also zu ihrem Heil noch einmal und nun ganz anders mit dieser Frau in einer Reihe stehen können. Daß sie das versäumt haben, war schlimm. Indem sie das versäumt haben, haben sie das Gebot nicht gehalten.

Aber wieder müssen wir von da aus unmittelbar fortfahren: Der hält Gottes Gebot, der ist ein vor Gott Freier und Gerechter, der sich eben durch das wunderbare Gericht seiner Gnade aufrichten und ausrichten läßt: aufrichten zum aufrichtigen Wollen dessen, was er auch als Übertreter nach der Weisung des Gebotes wollen – und ausrichten zum entschlossenen Tun dessen, was er auch als Übertreter nach der Weisung des Gebotes tun kann.

So lautet ja der Schluß des Wortes Jesu an die Ehebrecherin Joh. 8, 11: «Geh, sündige von jetzt an nicht mehr!» Daß sie von jetzt (ἀπὸ τοῦ νῦν), von ihrer Begegnung mit Jesus, dem Gesetzgeber und Richter, und von der Entgegennahme seines Rechtsspruches an, Geschehenes ungeschehen, seine inneren und äußeren Folgen rückgängig machen, aus dem Stande der Übertretung heraustreten, ihr Leben vom Verderben erlösen solle und könne, das konnte mit diesem Aufruf nicht gemeint sein. Schon darum nicht, weil ja eben diese ihre Geburt zu einem neuen Menschen laut des Gesetzes, das ihr nun auch diesen Zuruf zuzog, in der Person des Gesetzgebers und Richters selbst schon geschehen, [265] weil zu dieser ihrer totalen Rechtfertigung und Befreiung durch den, vor dem sie dort allein in der Mitte stand, nichts hinzuzufügen war! Wohl aber durfte und sollte sie von jetzt an – und das ist es, was ihr dort zugerufen wird – als eine durch des gnädigen Gottes Gericht aufgerichtete und ausgerichtete Übertreterin leben: im Stande der Übertretung schon unter dem mächtigen Anstoß ihrer in Jesus vollzogenen Versetzung in den Stand «ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit», in der irreparablen Unordnung ihres Lebens schon orientiert an der Ordnung seines Reiches, in den Schranken dessen, was sie nicht ändern konnte, schon wollend und tuend, was sie von der ihr gewordenen Verheißung her tatsächlich wollen und tun konnte und mußte. Hinsichtlich solcher Gegenwirkung mußte es ein «von jetzt an» geben, mußte es für sie eine Wendung bedeuten, mit Jesus allein in jener Mitte gestanden zu haben, seinem Urteil verfallen gewesen und nun gerade durch sein Urteil freigesprochen worden zu sein. «Von jetzt an nicht mehr sündigen» heißt: von jetzt, vom Ergehen und Vernehmen des Rechtsspruches Jesu an nicht mehr leben als ob er nicht ergangen, als ob er nicht vernommen wäre. Oder positiv gesagt: leben als ein durch das Ergehen und Vernehmen dieses Rechtsspruches in seiner ganzen Unheiligkeit geheiligter Mensch.

Quelle: Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, Zollikon-Zürich: EVZ, 1951, § 54, S. 263-265.

Hier der Text als pdf.

1 Kommentar

  1. In hoc mundo
    Non catino in hoc mundo
    competit lege
    dignitatem hominis
    indivisibilem conculcans
    cum iudicio suo

    *

    Kein Gericht dieser Welt
    ist dem Recht befugt
    mit seinem Urteil
    die unteilbare Menschenwürde
    mit Füssen zu treten

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