Über den christologischen Begriff der Geschichte
Von Karl Barth
Wir haben schon gesehen (vgl. die Einführung in den zweiten Artikel), daß Calvin im Anschluß an das Symbol uns einlädt, der Geschichte Christi zu folgen, wie sie sich abspielt in der vergangenen Bewegung seines Lebens, seines Todes, seiner Auferstehung, seiner Auffahrt, in der gegenwärtigen Bewegung seines Regierens zur Rechten Gottes und in der zukünftigen Bewegung seiner Wiederkunft und seines Gerichts. Indern man bei dieser Geschichte zugegen ist, versteht man, was Jesus Christus ist. Und mit dem Ausdruck „Ich glaube“, der das Symbol einleitet, bestätigt man die Teilnahme an dieser Geschichte, bekennt man, selber eine Figur zu sein, die hineingezogen wurde, dieser Geschichte zu folgen. Die Geschichte Jesu Christi ist meine eigene Geschichte! Sie ist mir näher als die verschiedenen Ereignisse meines Lebens. Es kommt darauf an, diesen Punkt richtig zu verdeutlichen. Die Geschichte Christi ist keine nachträglich meinem Leben und dem Leben der Kirche gegebene Erklärung. Sie ist nicht eine mögliche Idee, dank deren mein Leben eine bestimmte Interpretation bekommen würde. Sie ist nicht die Offenbarung einer bestimmten Anzahl von abstrakten Wahrheiten, die sich glücklicherweise auf das Leben des Christen und das Leben der Kirche anwenden ließen. Nein, sie bildet geradezu die Geschichte des Christen und der Kirche. Das bringt die Kirche zum Ausdruck, indem sie ihren Glauben bekennt; sie hat die Botschaft der Apostel gehört, das Zeugnis derjenigen, die bei der Geschichte Christi zugegen waren. Und angesichts dieser Geschichte erkennt sie an, daß das ihre eigene Geschichte ist und sogar die eigentliche Geschichte der Menschheit, die „einzig interessante Geschichte“, die jemals passiert ist. So schreitet diese Geschichte über die Kirche hinaus. Sie ist der Grund und die geheime Wirklichkeit der ganzen Menschheit, ja sogar jeder Kreatur. Was die Kirche in der Welt charakterisiert und lokalisiert, ist das, daß diese Geschichte als die Geschichte schlechthin, als die einzige Geschichte in der Kirche anerkannt und bekannt wird. Wo diese Geschichte so anerkannt und bekannt wird, da und nur da gibt es Kirche.
Bei der kurzen Zusammenfassung dessen, was im Symbol steht, habe ich den Ausdruck „Geschichte“ gebraucht. Es ist wichtig, diesen Ausdruck ohne jedes Vorurteil zu verstehen. Aus uns selber machen wir modernen Menschen uns eine bestimmte Vorstellung von der Geschichte, eine bestimmte Verknüpfung der Ereignisse in der Zeit, so wie sie unsere Auffassungsgabe der Dinge aufdecken kann. Unsere Vernunft, unsere Erfahrungen erlauben uns, daß wir uns vorstellen, was sich ereignet hat und unseren „historischen Sinn“ formt. Aber es gilt zu sehen, daß unser Verständnis der Geschichte nicht notwendig wahr ist. Es hat seinen Nutzen, aber einen relativen und mitunter problematischen Nutzen. Hier in diesem Saal sind zum Beispiel die Bilder von Farel und Osterwald. Um diese historischen Persönlichkeiten zu verstehen, müßte man noch anderes studieren als nur die Akten, die historischen Quellen. Man müßte ein gewisses Fingerspitzengefühl haben für das, was geschehen ist, für das, was sie gewollt, getan und unterlassen haben. Vielleicht könnte man sie sogar ohne den Glauben überhaupt nicht verstehen, übrigens auch nicht die Schlacht von Waterloo oder unsere zeitgenössische Geschichte. Denn es gibt Geheimnisse und Rätsel in dem, was sich ereignet, Geheimnisse und Rätsel, die der rein wissenschaftlichen Feststellung entgehen, selbst wenn sie durch den historischen Spürsinn verstärkt ist. Man wird also die Aussagen des Symbols nicht einer ganz von der Historie gemachten Auffassung unterwerfen. Täte man das, so wäre man wie einer, der die Augen schlösse, um zu sehen. Man muß die Augen aufmachen, um jene ganz besondere Geschichte zu sehen: Gott wird Mensch, das Wort ward Fleisch, es hat inmitten der Menschen gelebt. So gibt es hier nicht nur eine andere Geschichte als unsere menschliche Geschichte mit ihren Leiden und Freuden, ihren Schlachten und Verträgen, ihren Erfindungen und Ereignissen, sondern es gibt eine andere Definition der Geschichte. Die entscheidenden Ereignisse erscheinen hier anders gelagert als da, wo wir sie von uns aus hinstellen würden.
Die Artikel, an die wir jetzt kommen, über die Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft Christi, könnten von Leuten, die nach ihrem Begriff von Geschichte urteilen, als „Nicht-Geschichte“, als Mythus bezeichnet werden. Warum soll man sie nicht alle in dieselbe Linie einreihen wie die Wundererzählungen aller Völker der Erde? Warum sie nicht behandeln wie die Erzählungen der jüdischen Apokalyptik? übrigens muß man bemerken, daß weder die Juden noch die Heiden sich darüber getäuscht haben. Sie haben sich den christlichen „Mythus“ nicht einverleibt. Sie haben im Gegenteil mit größter Heftigkeit ihn verworfen. Dieser „Mythus“ tritt nicht in den Rahmen der anderen Mythen ein. Man muß also wählen, zwischen diesem „Mythus“ und den anderen. Oder genauer, man muß wählen: entweder diesen „Mythus“ als die Geschichte selbst annehmen und all die anderen Geschichten als Mythen kennzeichnen oder dann den christlichen „Mythus“ ablehnen und bei dem humanen Begriff der Geschichte bleiben.
Die christliche Kirche bekennt, daß dieser „Mythus“ die Geschichte selbst ist. Sie erkennt sich in diesem „Mythus“ wieder, sie erkennt darin ihr Leben, ihre Wahrheit. Sie ist Zeugin der Zeugen, sie erkennt durch den Heiligen Geist an, daß das die einzig wahre interessante Geschichte ist. So dreht sie den Spieß herum; sie sagt zu den Historikern: Was ihr Mythus nennet, das ist Geschichte! Aber sie wird auch hinzufügen: was ihr Geschichte nennet, das ist Mythus! Mythus, erfundene Geschichte, das heißt, sich des Menschen Los als abhängig von seinen irdischen Wechselfällen vorstellen; Mythus, erfundene Geschichte, das heißt, den unmittelbaren Erfolg einer Sache mit ihrer Wahrheit verwechseln usw. Die einzig wahre Geschichte ist die Geschichte Christi, an der die Kirche teilnimmt; und sie ist schon die heimliche Wirklichkeit jeder Geschichte, weil sie ja die Geschichte selber ist.
Ebensowenig wie wir von der vorausgehenden unmöglichen Feststellung unserer Verdammnis auf die Notwendigkeit eines Heilandes schließen können, ebensowenig können wir mit einer Art von immanenter Logik die Auferstehung aus dem Kreuz ableiten. In beiden Fällen — Erniedrigung und Erhöhung — handelt es sich um einen Akt der Macht Gottes, der sich in Jesus Christus bis zum Tode, ja bis zum Tod am Kreuz herabläßt und der durch die Auferweckung desselben Jesus Christus triumphiert. Weder die Erniedrigung noch die Erhöhung sind abstrakte, philosophische Wahrheiten, die man aus einer mehr allgemeinen und als solche unserer Erkenntnis zugänglichen Wahrheit herleiten könnte. Die Auferstehung Christi folgt nicht seinem Tod wie der Morgen dem Abend, wie der Frühling dem Winter folgt, und wie nach den bösen Tagen die guten Tage wiederkommen. Sie ist keine von dem tätigen Willen Gottes unabhängige Konsequenz. So deuten wir übrigens Ostern öfters: wir erdichten, wir erfinden ein Leben nach dem Tode, nach der Tragik des Karfreitags, man sagt: Ja, trotz allem wird die Wahrheit triumphieren. Man versetzt sich in einen gewissen Zustand von Enthusiasmus, man will fast dem lieben Gott Mut machen oder wenigstens sich selber und seinen Gemeindegliedern … Sie alle, nicht wahr, haben schon jene Osterpredigten gehalten, wo man sich aufbläst, um das Leben, den Geist, den Sieg zu bejahen. Und kurz gesagt, man hatte sich umsonst so ins Zeug gelegt, man trat auf der Stelle, weil man im Zuge war, sich selbst einen Aufschwung zu geben. Aber der Aufschwung von Ostern kann dem Menschen nicht vom Menschen selbst gegeben werden. Noch mehr als die Erniedrigung ist die Erhöhung Christi die Folgerung, die Gott selbst mit seiner wirkenden Macht gezogen hat. Gott ist der Leiter, der Meister, der König jener ganzen Geschichte seines Bundes mit uns. Entweder verstehen wir Gott als Meister und Subjekt jener Geschichte oder wir verstehen jene Geschichte überhaupt nicht. So lautet die Frage, auf die wir hier zu antworten haben, nicht: „Kann ich zugeben, daß das alles sich ereignet hat?“ sondern: „Wie befinde ich mich Gott dem Meister gegenüber?“ Lebe ich „mit“ Gott? Lebe ich im Gefolge der Taten Gottes? Und weil wir diese Taten Gottes zentral und primär in der Schrift kennenlernen, so ist die Frage des Glaubens zuerst eine Frage biblischer Lektüre. Man kann nicht beten, ohne die Bibel zu lesen, ohne die göttliche Geschichte zur Kenntnis zu nehmen, die von Gott gelenkt wird und worin wir entdecken, was uns nottut: der Glaube an Gott als Lenker, Oberhaupt und lebendigen Meister der Geschichte Christi, die unsere eigene Geschichte „begreift“, d. h. umgreift, zusammenfaßt, voraussagt, an ihren Platz stellt und erfüllt.
Quelle: Karl Barth, Das Glaubensbekenntnis der Kirche. Erklärung des Symbolum Apostolicum nach dem Katechismus Calvins, aus dem Französischen übersetzt von Helmut Goes, Zürich: EVZ, 1967, S. 83-88.