Günther Bornkamms Besprechung von Julius Schniewinds „Das Gleichnis vom verlorenen Sohn“ (1940): „So enthüllt das väterliche Erbarmen beider Verlorenheit, und seine Freude öffnet beiden ein neues Leben. Dann aber verliert die Frage, auf welche Seite der heute angeredete ‚Christ‘ gehört, ihre letzte Wichtigkeit.“

Gottes Freude

Von Günther Bornkamm

Julius Schniewind, Das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Eine Auslegung von Lukas Kapitel 15 (= Wege in die Bibel, Heft 2). 43 S. 1940, Göttin­gen, Vandenhoeck & Ruprecht. Kart. RM. 1.60.

Diese Auslegung von Luk. 15 trägt bewußt den Charakter einer Bibel­arbeit; d. h. sie will nichts anderes sein als eine Einübung im Lesen der Bibel und eine Anwendung des alten Bengelschen Grundsatzes: te totum applica ad textum, rem totam applica ad te. Die exegeti­sche und begriffs­geschichtliche Forschung wird in ihren Erträgen und Problemen vom Verf. nicht ignoriert, aber sie wird unauffällig verarbeitet und nicht ausdrücklich zur Sprache ge­bracht. Dagegen ist es von vornherein das Anliegen der Schrift, den Standort dessen deutlich sichtbar werden zu lassen, an den sich heute die drei Gleichnisse Jesu vom Verlorenen rich­ten.

Eine wirkliche Begegnung gerade mit diesem Text ist alles andere eher als selbstverständlich, da dem Bibelleser und Verkündiger — an diese wendet sich Schn.s Schrift insonderheit — dieses Kapitel allzu vertraut ist. Soll die Auslegung der Gleichnisse einen „Weg in die Bibel“ weisen, so muß sie sich darum dem in den Weg stellen, dem der Weg der Bibel allzu geläufig ist, m. a. W. sie muß die, die sich unwillkürlich und selbstver­ständlich in der Bundesgenos­senschaft mit Jesu Wort wissen, zuerst wie­der zu Angegriffenen und Betroffenen machen. Eben das leistet Schn.s Schrift in besonderem Maße.

Die Auslegung fragt darum nicht nur: wovon reden und handeln die Gleichnisse, sondern auch: mit wem reden und handeln sie? Damit bringt sie in der Tat nur die innere Ausrichtung des Textes selbst zur Geltung. Die in Jesu Gleichnissen Angeredeten, Angegriffenen, Gefrag­ten sind die Pharisäer und Schriftgelehrten. Besonders das dritte Gleichnis mit seinem ab­schließenden Gespräch zwischen dem Vater und dem älteren Bruder zeigt, daß diese Adres­sierung mehr ist, als eine sekundäre, zufäl­lige, ablösbare Umrahmung, daß die Gleichnisse vielmehr wirklich hinein­gehören in die Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern, den Gerech­ten, „die den Weg Gottes mit Entschlossenheit gehen“ (S. 4). Ihre Gerechtigkeit wird weder ironisiert noch karikiert, der Vorwurf der Heuchelei wird mit keiner Andeutung erho­ben; dem älteren Bruder wird es nicht bestritten, daß er beim Vater geblieben ist und sein Vermögen nicht durchgebracht hat. Um so dringlicher und eindeutiger ist die an die Ge­rech­ten gerichtete Frage, ob sie sich in Gottes Freude über das Verlorene und Wiedergefundene mit hineinziehen lassen (S. 4) oder ob sie „den Dienst Gottes am Irrenden und Verlorenen vergessen“ (S. 10), bzw. ihn als eine Minderung des ihnen zukommenden Rechtes verstehen und damit erweisen, daß in Wahrheit ihre Gerechtigkeit ein freudloser Sklavendienst ist dou­loúein sagt der ältere Bruder v. 29, S. 34).

Gottes Freude über das Verlorene und Wiedergefundene ist der Inhalt aller drei Gleichnisse. Jesus verkündet sie nicht im Sinne einer zeitlosen Gesinnung Gottes, sondern als die schlecht­hin wunderbare Tat der Barm­herzigkeit Gottes, die Zuwendung Gottes zu den umkehrenden Sündern. Diese Botschaft wird den Pharisäern zum Ärgernis, denn sie widerstreitet der phari­säischen Erwartung, daß Gott in der neuen Zeit die Heiligen aus der Menge der Verlorenen aussondern wird (S. 6); aber sie ist erst recht darum ärgerlich, weil sie Jesu eigenes Verhalten und Gottes Tun ineins setzt. Die Gleichnisse beschreiben ja ebenso Gottes Tun wie sie Jesu Verhalten gegenüber den Sündern begründen (S. 7); sie verkünden also das Geschehen der Barmherzigkeit Gottes, so ließe sich sagen, in, mit und unter Jesu eigener Begegnung mit den Sündern.

Hier findet Schn. den Einsatzpunkt für die Erörterung und Beantwor­tung der viel verhandel­ten und theologisch folgenreichen Frage, ob für das Verständnis der Gleichnisse — und was hier gilt, ließe sich ja sofort auf die übrige Verkündigung Jesu übertragen — von Jesu Person, sei­ner Würde und seinem Werke abgesehen werden könne oder nicht. Bekannt­lich hat man gerade die Gleichnisse Jesu vom Verlorenen zum Beweise an­geführt, daß Jesus selbst die Vergebung als unmittelbaren, d. h. die Lehre von der Mittlerschaft Christi ausschließenden Gnadenakt Gottes verkündigt habe. Die Frage begleitet Schn.s Auslegung auf Schritt und Tritt, auch wenn sie erst nach der Erklärung des dritten Gleichnisses the­matisch erörtert wird (S. 27 ff.). Die Antwort ergibt sich dem Verf. durch die Tatsache, daß Jesu Botschaft von der Freude Gottes und sein Verhal­ten gegenüber den Zöllnern und Sündern, ihre Annahme, die Tischgemein­schaft, der konkrete Zuspruch der Vergebung — in einer unlöslichen Be­ziehung zum AT. steht. Eine Fülle von Einzelzügen und „stehenden Bil­dern“ gerade auch in den drei Gleichnissen weist auf alttestamentliche Pa­rallelen. Sie bestätigen, daß Jesus nicht einen neuen Gottesbegriff gelehrt hat und nicht durch den Gedankengehalt sich wesentlich vom AT. unter­scheidet — das AT. weiß etwa von der Vergebung ebensowohl zu reden, wie Jesus vom Gerichte Gottes (27); vielmehr besteht das Besondere seiner Botschaft darin, daß er das, was Könige und Propheten zu sehen begehrten, jetzt als gekommen verkündigt. Also nicht der Ge­danke, son­dern der Vollzug der Vergebung, d. h. aber zugleich die Proklamation des anbre­chenden neuen Äon unterscheidet ihn vom AT. bis hin zu Johannes dem Täufer. „Jesus ver­kündet in unserm Gleichnis Gottes Vergebung, weil in ihm selbst, in seinem Tun und Wort, diese Vergebung Ereignis wird und zu uns kommt“ (S. 31).

Die Frage der Christologie wird so in Schn.s Auslegung zu einem Pro­blem der gesamten Verkündigung und Wirksamkeit Jesu, nicht mehr nur einer bestimmten Überlieferungsschicht. „Die Frage nach der Würde Jesu beantwortet der, dem es aufgeht, was Jesu Tun, Wirken, Reden be­deutet“ (S. 7). Eine andere Frage wäre — Schn. geht nicht näher auf sie ein —, in­wieweit im Blick auf den Unterschied der Überlieferung, derer, die in nuce christologisch ge­prägt ist, und derer, die explizit christo­logisch redet —, sich Traditionsschichten erkennen lassen. Auf keinen Fall darf jedenfalls die Christologie überhaupt zum Kriterium der „Echt­heit“ und „Unechtheit“ der einzelnen Worte gemacht werden. Es liegt im Charakter der Aus­legung Schn.s, daß er diese Konsequenzen nicht aus­drücklich erörtert. Sie ergeben sich aber von seinem Grundverständnis des Textes her. Der Verf. hält sich erfreulicherweise frei von der psychologi­schen Entstellung des christologischen Problems, im Unterschied etwa noch zu Hoskyns, der mit seinem ausgezeichneten Buch „Das Rätsel des Neuen Testaments“ (1938) sonst dem Verf. aufs beste vorgearbeitet hat. Vom Messiasbewußtsein Jesu ist bei Schn., offenbar mit Bedacht, nicht mehr die Rede, da es ihm um die Tatsache der Messianität Jesu, nicht aber um sein psychologisch ergründbares Selbstbewußtsein geht. Schn.s Auslegung bedeutet aber zugleich — hier wäre man für ein offenes Wort dankbar — eine Absage an den verbreiteten Dogmatismus, der, von einer den Phari­säismus nicht immer verleugnenden Besorgnis um den rechten Ausgleich von Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geleitet, die Aussagen über das Heilswerk und die Mittlerschaft Christi mit in die Erklärung gerade auch von Luk. 15 hineinzieht, um die Möglichkeit für Gottes Verhalten zu erweisen und so gleichsam „hinter“ die Offenbarung seiner Gnade zu kommen.

Schniewind hält sich, wie die Bibelarbeit es erfordert, in den Grenzen einer Satz für Satz und Wort für Wort fortschreitenden Erklärung, die überall die Schrift selbst zu ihrem eigenen Interpreten zu machen sucht und aus dem Ganzen der biblischen Botschaft den Sinn der Wor­te, Sätze und Bilder verstehen lehrt. So wird der messianische Sinn der Tischgemein­schaft, des biblischen Bildes von Hirt und Herde oder auch der Sinn von Vaterschaft und Got­tes­kindschaft, der Sünde als Gottesferne, der Sinn von Tod und Leben, von Verlorengehen und Gefundenwerden aus dem Gan­zen des biblischen Wortes deutlich gemacht.

Diese beständig auf Parallelstellen verweisende Interpretation ist ganz gewiß für das Ver­ständnis des Textes eine unerläßliche Hilfe. Schn. zeigt dem Leser beständig, wozu Konkor­danzen und die Stellenangaben der Lu­therbibel da sind. Seine Auslegung führt den Leser nicht rasch zum Ziel, weil sie gleichsam auf dem Gange des Textes immer neue Türen zur Rech­ten und zur Linken aufschließt und so erkennen läßt, in welchem Hause man sich be­wegt. Der Weg in die Bibel ist ständig zugleich ein Gang durch die Bibel. Aber dieser Weg ist nicht immer ohne Gefahren, weil allzu leicht lose Assoziationen genügen, um sehr verschie­denartige Stellen zu kombi­nieren, so wenn das Wort Lk. 15, 10 von den Engeln Gottes und ihrer Freude zum Anlaß eines Exkurses über Engel und Mächte im Sinne von Eph. 3 und Kol. 1 genommen wird (S. 13 f.), oder an das Bild von der Münze im zweiten Gleichnis eine Erör­terung darüber geknüpft wird, wie der Wertgedanke in der biblischen Botschaft gemeint sein könne (S. 15 f.). Nicht immer findet der Leser neben der Frage: was sagt der Text? auch die andere beantwortet: was sagt der Text eben noch nicht? Und die Tür zur Allegorese ist nicht immer fest verschlossen.

Am eindrücklichsten wird Schn.s Auslegung da, wo sie in großer Ein­fachheit nur der Be­wegung des Textes folgt, ohne immer neue Motive auf­zugreifen. Das gelingt in ganz beson­derer Weise bei der Erklärung des dritten Gleichnisses, das auch Schn. das Gleichnis von den verlorenen Söh­nen nennt und in dem Wort an den älteren Bruder (v. 31 f.) seinen Höhe­punkt finden läßt. Hier werden Auslegung und Anrede zur Einheit, und der Leser selbst wird von dem Gange des Geschehens mitgenommen. Die Stadien des Weges in die Verloren­heit wer­den vor ihm sichtbar: die Sünde „gegen den Himmel“ (im Sinne von Ps. 51, 6) als die eigent­liche Sünde hinter und in aller menschlichen Sünde (hier die Begründung für die Zu­rückhal­tung in der Ausmalung der menschlichen Bosheit [S. 18], von der sich v. 30 unbarmherzig abhebt!); das Zuwarten Gottes, der „dem unbilligen Verlangen des Menschen nach Freiheit Raum“ gibt (S. 19); die bittere Not der Verlorenheit, das In-sich-schlagen des Sohnes als der Weg vom Trug zur Wahrheit (S. 21), die Umkehr, die in der Erinnerung an die Güte des Va­ters erwacht und sich darin erweist, daß sie dem Todes­urteil Gottes recht gibt (S. 22). Viel­leicht sollte an dieser Stelle auch nicht verschwiegen werden, daß der Umkehrende nicht min­der gerufen ist, dem Lebensurteil Gottes recht zu geben. Darum allein gilt ja, woran Schn. so­viel gelegen ist: „Umkehr zu Gott ist Freude“ (S. 8), „der Wider­schein der ewigen Freude Gottes“ (S. 9). Schn. zeigt — wieder unter viel­fachem Anklingen alttestamentlicher Worte — die Barmherzigkeit, die vorlaufende Liebe Gottes, die das Sündenbekenntnis zu­gleich weckt und erstickt: der Vater läßt den Sohn nicht ausreden (S. 25), und seine Ant­wort wird alsbald zur Tat, die dem Verlorenen eine neue Existenz schenkt (S. 24 ff.).

Auf diesem Hintergrund erhebt sich das Gespräch mit dem älteren Bru­der und damit die an den Christen heute gerichtete Frage. Angesichts der Freude und der Güte des Vaters enthüllt der ältere Bruder die eigentliche Verlorenheit. In der Weigerung des Brudernamens und dem die Vorwürfe gegen Bruder und Vater steigernden Zorn „vollzieht sich ein Bruch, der nun eine Trennung und Verlorenheit bedeutet, weit über alles hinaus, was des Jüngeren Verloren­heit war“ (S. 35). Noch wird sie erst als unheimliche Möglichkeit sichtbar, der Vater geht zu dem älteren Bruder hinaus, wie er dem Jüngeren entgegenlief, und seine bittenden Worte mahnen und werben fast dringlicher noch um den Älteren — „mein Kind“ (vgl. „mein Sohn“ v. 24), „dieser dein Bruder“, „alles, was mein ist, ist dein …“. So zeigen Worte und Verhalten des Vaters: „Es wäre eine unwiederbringliche Verlorenheit, aus der Freude des Vaters zu ent­fliehen, eben um der Freude des Vaters willen den Vater zu verlassen“ (S. 35).

Schniewind sucht den Leser in der Nähe des älteren Bruders, dessen Le­ben wahrlich nicht durch den Anteil an den Gütern des Vaterhauses und durch den in der Gemeinschaft des Va­ters geübten Dienst, sondern durch die Freudlosigkeit tödlich gefährdet ist. Diese Freudlosig­keit erwächst dem hartnäckigen, ungebrochenen Stolz des Menschen, der incurvatio in semet ipsum, und damit zugleich der heillosen Unbarmherzigkeit. Überwindung dieser pharisäi­schen Frömmigkeit gibt es nirgend anders als in Jesus selbst; da geschieht die Wendung zur Barmherzigkeit und zur immerwäh­renden Freude (S. 37), aus der allein sich auch der Dienst eines gehor­samen Lebens von Grund auf zu erneuern vermag; Gebet, Fasten und Opfer, worin der Pharisäer sich in eitlem Stolze übt, werden zu Zeichen der Freude, und das Gleiche würde vom Gebete und Dienst, vom Bibel­lesen und allen Formen des christlichen Lebens gelten (S. 39 ff.).

Man darf wohl fragen, ob es angängig ist, dem Leser und Hörer von Luk. 15 den so bestimm­ten Platz in der Nähe des älteren Bruders zuzu­weisen, wie es in Schn.s Auslegung geschieht. Ist es nicht so, daß bei aller Verschiedenheit der beiden Brüder die Gleichsetzung des Jünge­ren und der Zöllner, des Älteren und der Pharisäer eben nicht ausgesprochen wird? Und zeigt nicht der Gang des Gleichnisses, wie „blutsverwandt“ und ähn­lich sich die Brüder geblieben sind bei allen äußeren Unterschieden ihres Daseins? Wie dem Älteren alles gehört, was seines Vaters ist, so hat ja auch der Jüngere in der Fremde nur von den väterlichen Gütern gezehrt, in dem „gib mir, Vater“ des einen meldet sich dieselbe Selbstbehauptung, die in dem hoc ego feci (v. 29) des andern durchbricht. Das heißt: unter Jesu Wort wird die Geschichte des verlo­renen Sohnes auch zur Geschichte des älteren Bruders. Aber auch die Liebe des Vaters, der beiden entgegen­läuft und die Erinnerung an seine Güte, die den Jüngeren zur Umkehr be­wegte, auch im Älteren weckt, macht die Brüder einander gleich. So ent­hüllt das väterliche Erbarmen beider Verlorenheit, und seine Freude öffnet beiden ein neues Leben. Dann aber verliert die Frage, auf welche Seite der heute angeredete „Christ“ gehört, ihre letzte Wichtig­keit, und es käme darauf an, sich die Aufhebung der so augenfälligen Grenze zwischen den Brüdern unter Jesu Wort gefallen zu lassen. Der Sache nach führt Schn.s Auslegung auch wirklich zu diesem Ziel, denn wem gilt es — dem „Jün­geren“ oder dem „Älteren“? —, was Schniewinds letzte Worte sagen, die noch einmal auf das Ereignis der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus weisen: „Christus schenkt uns die facultas standi extra nos coram Deo (Lu­ther): … die Möglichkeit (die Fähigkeit, die Erlaubnis), jenseits von uns selbst vor Gott zu stehen. Er schenkt uns ein von uns selbst gelöstes Leben, sein ewiges Leben. Es gälte nur, unter seinem Freispruch, in seiner Gnade, in seiner Nachfolge zu bleiben“?

Quelle: Verkündigung und Forschung 1-2, Nr. 2, 1940, S. 23-28.

Hier der Text als pdf.

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