
Was Jürgen Roloff in Reclams Bibellexikon geschrieben hatte, fasst zusammen, um was es für Christinnen an Karfreitag geht:
Leiden, Sterben und stellvertretender Tod Jesu
Von Jürgen Roloff
Das Bemühen, den Sinn des Leidens und Sterbens Jesu zu verstehen, war eine der zentralen Triebkräfte urchristliche Theologie. Im NT finden sich mehrere Deutungsansätze. Am ältesten ist vermutlich das sog. Kontrastschema. Das Leiden Jesu wurde dabei als ein von den Menschen ausgelöstes Unheilsgeschehen verstanden, dem Gott das Heilsgeschehen der Auferstehung entgegensetzte: »Jesus von Nazaret, den ihr [die Juden] gekreuzigt habt, den hat Gott von den Toten auferweckt!« (Apg 4,10; 2,22ff.; 3,13; 10,36ff.)
Ein weit positiveres Verständnis des Leidens Jesu wurde dadurch möglich, dass man es als Teil des göttlichen Heilsplans begriff: »Der Menschensohn muss viel leiden« (Mk 8,31; vgl. Mk 9,31; 10,33f.; Lk 24,26); Gott selbst hat das rätselhafte Geschehen des Karfreitags verhängt, ja, er hat es bereits im Schicksal der leidenden Gottesboten und Gerechten des AT vorgezeichnet. Diese Deutungslinie wird vor allem von den Leidensgeschichten der Evangelien aufgenommen, die Jesus als den zeichnen, der als leidender Gerechter den ihm von Gott vorgeschriebenen Weg gehorsam zu Ende gegangen ist. Dieser Leidensweg ist damit zugleich zum Weg der Jünger Jesu (Mk 8,34; Mt 10,22) und der christl. Gemeinde (Phil 3,10; 1Petr 2,19) geworden.
Als Heilsgeschehen im eigentlichen Sinn wurde das Leiden Jesu erst da verstanden, wo man es als stellvertretendes Sühneleiden begriff, durch das Jesus die Schuld der Menschen tilgte und ihnen so einen Zugang zu Gott erschloss. Ältester direkter Beleg dafür ist die Glaubensformel 1Kor 15,3: Jesus Christus ist »gestorben für unsere Sünden nach der Schrift«. Der Ansatz dazu lag bei Jesus selbst. Er hatte sein irdisches Wirken als dienendes Eintreten für andere bis zur Selbstpreisgabe gedeutet (Mk 10,45; Lk 22,27), und er hatte darüber hinaus in der Einsetzung des Abendmahls wohl auch sein Sterben als einen Akt der Stellvertretung »für die vielen« (Mk 14,24) interpretiert. Vor allem Paulus führte diesen Ansatz weiter, indem er das Leiden Jesu als kultisches Sühnopfer (Röm 3,24ff.), als Überwindung des den Menschen vor Gott anklagenden Gesetzes (Gal 3,13ff.) und als Tat der Versöhnung (Röm 5,10f.; 2Kor 5,18) deutete.
Sühne
Zentral für die christl. Heilsbotschaft ist die Vorstellung, dass Jesus Christus durch sein unschuldiges gehorsames Sterben am Kreuz Sühne für die Sünden der Menschheit vollbracht und ihr damit ein neues Gottverhältnis ermöglicht hat. Der Ansatz dafür ist vermutlich in der Deutung zu suchen, die Jesus selbst seinem Sterben bei der Einsetzung des Abendmahls gegeben hat: Mit der Hingabe seines Lebens tritt er stellvertretend für die »vielen«, die durch ihre Sünde dem Tod verfallen wären, vor Gott ein (Mk 14,24) und erwirkt für sie das Recht, unter Berufung auf ihn in Gemeinschaft mit Gott zu leben (Mk 14,24; vgl. 10,45). Er übernimmt damit die Rolle des geheimnisvollen Gottesknechtes aus Jes 53. Wenn zahlreiche formelhafte Wendungen im NT vom Sterben und der Selbsthingabe Jesu »für uns« sprechen (z. B. 1Kor 15,3; Röm 5,6; 14,15; Gal 2,21; 3,13), so ist damit stets auf die sühnende Bedeutung des Todes Jesu angespielt. Die ausführlichste Entfaltung innerhalb des NT findet die Sühnevorstellung bei Paulus und im Hebräerbrief. Paulus deutet Jesu Sterben als abschließende Überbietung des Geschehens am Versöhnungstag: War alle bisherige kultische Sühne hinsichtlich ihrer zeitlichen Wirkung und ihres Geltungsbereiches beschränkt, so ist dadurch, dass Gott selbst Jesus Christus zur Sühne gesetzt hat, eine für alle Menschen und für alle Zeiten geltende Sündenvergebung gewirkt worden (Röm 3,24ff.). Für den Hebräerbrief liegt der Akzent darauf, dass es sich bei Jesu Sterben, anders als bei allen kultischen Sühneriten, um ein ausschließlich von Gott ausgehendes Geschehen gehandelt habe: Christus ist nicht nur das Sühneopfer, er ist zugleich auch der es darbringende Hohepriester, den Gott selbst gesandt hat (Hebr 5,1-6; 7,26f.).
Man darf diese Aussagen nicht mit der Brille der späteren abendländischen Theologie lesen, wenn man ihnen gerecht werden will. Der im Mittelalter durch Anselm von Canterbury (1033-1109) in die Theologie eingebrachte Gedanke, dass Jesu Tod eine Gott zum Ausgleich für den Ungehorsam der Menschen dargebrachte Ersatzleistung sei, liegt ihnen denkbar fern. Es kommt ihnen nicht darauf an, dass Gott ein »Opfer« dargebracht wird, sondern darauf, dass den Menschen durch ein von Gott ausgehendes Geschehen Sühne und damit Lebensmöglichkeit zuteil wird. Gott gibt seinen Sohn, den einzigen Gerechten und Sündlosen, für die Sünder dahin; er wirkt damit für sie für alle Zeit Befreiung von Schuld und gibt ihnen einen untrüglichen Erweis seiner Liebe. Letztlich sprengt diese Aussage freilich den Rahmen des traditionellen kultischen Bildes; das in ihr Gemeinte kann eigentlich erst im personalen Bild der Versöhnung voll zum Ausdruck gebracht werden (Röm 5,10; 2Kor 5,18).
Versöhnung
Bei der Versöhnung handelt es sich um die Wiederherstellung von Frieden und Gemeinschaft zwischen zwei Partnern durch objektiven Ausgleich und Beseitigung des Trennenden. Da die Bibel das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als personhafte Gemeinschaft versteht, die durch des Menschen Sünde gestört ist, ist die Frage nach der Möglichkeit von Versöhnung zwischen Gott und Mensch für sie schlechthin fundamental. Im AT erfolgt Versöhnung hauptsächlich durch kultische Opfer: Indem das Blut des Opfertieres vergossen wird, wird Sühne geschaffen; denn Blut als Sitz des Lebens ist vor Gott heilig und daher geeignet, von der Befleckung durch die Sünde zu reinigen (3Mose 17,10ff.; Ez 43,18-26). Die Vorstellung, daß das Opferblut eine Gott dargebrachte Ersatzleistung sei, durch die er umgestimmt werde, mag zwar ursprünglich eine Rolle gespielt haben, wurde jedoch schon bald durch die Einsicht verdrängt, daß Gott selbst es ist, der durch die Stiftung des Kultes dem Menschen eine Möglichkeit geschenkt hat, der Sphäre der Sünde zu entrinnen und Versöhnung zu erlangen; letztlich ist die kultische Versöhnung seine Gabe und Erweis seiner Gnade (3Mose 17,11). – Im Judentum der Makkabäerzeit gewinnt der Gedanke an Boden, daß das Blut der Märtyrer (2Makk 7,37f.; 4Makk 6,29) und der Gerechten stellvertretende Sühne für die Sünde des Volkes leiste und so Versöhnung bewirkte.
Das Wirken Jesu stand ganz im Dienst der Versöhnung, auch wenn der Begriff selbst in diesem Zusammenhang nicht erscheint: Wenn Jesus im Namen Gottes Vergebung gewährte (Mk 2,5), wenn er Tischgemeinschaft mit den Sündern im Vorblick auf die endzeitliche Mahlgemeinschaft hielt (Mk 2,15) und wenn er in Gottes Auftrag Umkehr ermöglichte (Lk 15,11ff.), so richtete er damit den endzeitlichen Frieden zwischen Gott und Mensch auf. Weil er im Vollzug dieses Dienstes an der Versöhnung starb, darum war es sachgemäß, wenn das Urchristentum – vor allem Paulus – seinen Tod als ein Geschehen deutete, in dem Gott selbst die endgültige Versöhnung vollzog: Gott hat in freiem Entschluss den Zustand der Feindschaft zu den Menschen aufgehoben (Röm 5,10f.); deshalb kann nun durch Christi Boten an alle das Angebot ergehen: »Lasst euch versöhnen mit Gott! « (2Kor 5,20.) Diese Versöhnung gilt ein für allemal; sie bedarf weder einer Erneuerung noch einer Ergänzung durch kultische Opfer. So ist der Karfreitag gleichsam der eschatologische Versöhnungstag (Röm 3,25ff.).
Kompilation aus den Lexikonartikeln „Leiden Jesu“, „Sühne“ und „Versöhnung“.