Ein Jahr vor seiner Exkommunikation 1926 veröffentlichte Joseph Wittig (1879-1949) eine Pfingstbetrachtung, die ein beredetes Zeugnis für seine Freundschaft mit Eugen Rosenstock-Huessy ist:
Der Geburtstag der christlichen Sprache
Von Joseph Wittig
Es scheint mir immer, als ob das „Tauet Himmel den Gerechten“ im Advent aus viel tieferer Sehnsucht käme als das „Veni Sancte Spiritus“ in der Zeit um Christi Himmelfahrt. Und wenn man das Volk an den beiden Erfüllungsfesten beobachtet, kann man gar nicht verkennen, daß zu Weihnachten wirklich eine Umwandlung der Menschen vor sich geht, wenn auch nicht aller Menschen und wenn auch nicht auf die Dauer; man braucht nur durch die Straßen einer Großstadt zu gehen, es liegt auf den Gesichtern der Menschen ein Schimmer, der von innen kommt; eine Menschwerdung wunderbarer Art erhebt sich aus der Erinnerung daran, daß an diesem Tage Christus der Herr geboren wurde; ein Kindwerden beginnt; keiner mag es leugnen, daß in ihm eine allererste Bewegung ist; es ist freilich meist bald wieder vorbei, aber es ist dagewesen, und manche arme Seele lebt davon ein ganzes Jahr; zu Pfingsten aber, am Hochfest des Gottesgeistes? O ja, ein schöner Pfingstausflug kommt zustande; die Berge hegen wie ein blaues Gottesreich in erreichbarer Ferne; der frische Morgen breitet sogar bis an die Tore der Stadt seine duftenden Teppiche; nie ist die Natur so beglückend und berauschend wie an diesen Tagen; alle Quellen springen, selbst die verborgenen und tiefbeseligenden im jungen Menschenleib. Das ist etwas, wovon man auch ein ganzes Jahr lebt. Aber ist es der Gottesgeist, der im „Veni Sancte Spiritus“ gerufen ist? Ein Bußprediger käme wohl in Versuchung, den Menschen auch diese Freude durch ein schneidiges Nein zu wehren. Niemals blühe das, was Sankt Paulus „Fleisch“ nennt, eben die Welt, üppiger als zu Pfingsten, und Geistigkeit fände man in den düstersten November- und Dezembertagen reichlicher als zu Pfingsten. So mag ich nicht mitreden. Gar zu tief ist mir einmal das Bibelwort in die Seele gedrungen: „Des Herrn Wort hat die Erde geschaffen und der Geist Gottes alle ihre Zier.“ Und ich glaube, daß man auch von einem Pfingstausflug gesegnet heimkommen und dann wenigstens ein ganz kleines Stücklein geistiger sein kann, als man vorher gewesen ist. Ich weiß auch, daß das „Veni Sancte Spiritus“ nicht gerade besonders zu Pfingsten in Erfüllung gehen muß, ebensowenig wie das „Tauet Himmel“ genau am 25. Dezember, und daß Pfingsten und Weihnachten nur besonders feierliche Erinnerungen sind an Geschehnisse, die aller Tage tiefstes Wunder sind. Aber das eine meine ich: Wenn es ganz richtig wäre um Pfingsten und ganz richtig um uns, dann müßten wir uns zu Pfingsten etwas ganz jubelnd zuzurufen oder etwas ganz leise zu sagen haben.
Wir hören am Pfingstsonntag geduldig und gnädig den Pfingstbericht der Apostelgeschichte, glauben ihn schon auswendig zu wissen, das mit dem Sturm und den feuerähnlichen Zungen und den verschiedenen Sprachen, haben aber das Empfinden völligen Unbeteiligtseins. „So etwas ist damals passiert“, sagen wir und meinen gläubig zu sein, weil wir dies nicht leugnen. „Aber so etwas passiert uns nicht; nur manche Schwarmgeister bilden es sich noch ein,“ so sprechen wir weiter und wissen gar nicht, wie auch das letzte Würzelchen von Glauben an den Heiligen Geist in uns verdorrt ist. Ich sage: Entweder sprechen wir noch jene Sprachen, die damals anhuben, und wir sind Christen, oder wir sprechen sie nicht mehr, dann tun wir besser, wir feiern wieder das jüdische Siebenwochenfest oder irgendein anständiges heidnisches Frühsommerfest. Nicht einmal so weit ist unser Pfingstwissen gediehen, daß wir wissen und bekennen: Der Heilige Geist ist „in Sprachen“ zu uns gekommen. Eher sehen wir in der Taube auf dem Dach ein Bild des Heiligen Geistes als in den Sprachen, die uns gegeben sind. Wir horchen gar nicht auf die Sprachen, sonst müßten wir merken, daß der Heilige Geist gekommen ist. Wie mit geweihten Zungen müßten wir vom Pfingstgottesdienst heimgehen und müßten miteinander reden, „wie es der Heilige Geist einem jeden gibt“. Pfingsten ist der Geburtstag der christlichen Sprache. Es ist uns freilich eingeredet worden, die Sprache sei ein von den Menschen erfundenes und vereinbartes Verständigungsmittel, und seitdem wir angefangen haben, auf diese gottlose Einredung zu hören, ist tatsächlich das, was wir Sprache nennen, nicht mehr viel mehr als dies. Sie, die vom Himmel gekommen, die große Gabe des liebenden Geistes, der Befehl des gebietenden Geistes, die Dinge zu nennen mit seinem Hauch, so daß sie, nun genannt, erst wirklich geschaffen sind, – sie ist jetzt vom Himmel gestürzt, und wir mißbrauchen sie wie ein rein irdisch Ding. Sie, die Offenbarerin, wird unsere Verdeckerin. Mit ihr verhängen wir uns; mit ihr belügen und betrügen wir uns; mit ihr verüben wir gottlose Gewalt und Verführung. Wir zwingen sie in unsere Technik, schneiden sogar ihren einzelnen Worten den Leib ab und bilden aus ihren Kopfbuchstaben Namen, die nichts anderes mehr sind als „praktisch“, nur noch „praktisch“. Aber es gibt Gott sei Dank noch Stunden, in denen wir reden, wie es der Geist uns gibt, Stunden echter Liebe und echten Hasses, in denen wir nicht Techniker und Geschäftsleute, auch nicht Theologen und Philosophen, sondern „nur“ Menschen sind. Nur aus solchen Stunden besteht unser wahres Leben; nur in solchen Stunden wird Pfingsten.
Es müssen ganz wunderbare Sprachen gewesen sein, in denen die vom Geiste heimgesuchten Jünger am ersten christlichen Pfingstfeste geredet haben. Parther, Meder und Aelamiten, Leute aus Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, aus dem Pontus, aus Asien, Phrygien, Pamphylien, Aegypten, Libyen, Ankömmlinge aus Rom, Juden, Kreter und Araber verstanden die geisterfüllten galiläischen Fischer, als ob sie in ihrer eigenen Sprache redeten. Ein „verständnisinniges“, skeptisches Lächeln geht über das Antlitz des modernen Menschen, der diese Worte weltumfassender Geistesfreude vernimmt; er glaubt nur an das Lexikon als Verständigungsmittel.
Der Berichterstatter des ersten Pfingstfestes hat sich bemüht, einige dieser Reden der geisterfüllten Männer in literarische Form zu bringen. Es sind schneidige Apologien, in denen man jetzt mit Recht die Urbilder der berühmten Apologien des 2. Jahrhunderts und wohl auch aller späteren Apologien sieht. Es wäre aber falsch, daraus zu schließen, daß die apologetische Sprache die ursprüngliche oder gar einzige Sprache des christlichen Geistes sei. Sie ist es wenigstens jetzt insofern nicht mehr, als sie sogar den eigenen Landsleuten der Sprecher nicht mehr wie die eigene Sprache zu Herzen geht. Jener heilige Berichterstatter will uns nur berichten, daß jene Reden wie gewaltige Apologien die gleichfalls vom Geist erfaßten Zuhörer überfluteten, eroberten, umwandelten und neuschufen, so wie jetzt noch manchmal ein Wort in unsere Seele fällt, mit dem wir zwar literarisch nichts anfangen könnten, das aber eine ungeheure Kraft auf uns übt, so daß wir, die wir den geistreichsten Apologien unser Herz verschließen, durch dieses eine Wort andere Menschen werden.
Ein Wort aus jenen Pfingstreden hat uns der heilige Paulus in seinem ursprünglichen Klange aufbewahrt, indem er schrieb, daß uns der Heilige Geist rufen gelehrt hat: „Abba“, d.i. „Vater“. Wenn es den Jüngern gegeben ward, solche Worte zu sagen, dann beginnt uns ein Verständnis dafür aufzugehen, daß sie von Menschen fremdester Länder und Sprachen verstanden werden konnten. Und wir heben bittflehend die Hände, daß es auch uns gegeben werde, das Christentum in solchen Worten zu verkündigen, wohl ahnend, daß das ganze Christentum in solchen überall verständlichen Worten enthalten sei.
Andere echte Klänge vom ersten Pfingstfest scheinen uns noch in mancherlei Urkunden und Inschriften aus den ersten christlichen Jahrhunderten erhalten zu sein, z.B.: Maranatha, d.i. Herr komme!, oder: Herr Jesus hilf! Kyrie eleison! Und es weiß besonders von dem letztgenannten Rufe ein jeder von uns, wie tief, wie inhalts-, glaubens- und hoffnungsreich er allen Menschen zu Herzen geht, welcher Nation sie auch seien.
Seit dem ersten Pfingstfest haben wir das „Vaterunser“. Gewiß hat Jesus dieses Gebet schon vor seinem Leiden und Sterben gelehrt; aber seit dem ersten Pfingstfest können wir es beten. Und seitdem wir es beten können, ist der Turmbau und die Sprachverwirrung von Babylon überwunden. Alle Völker haben wieder eine Sprache. In ihrem Heiligsten verstehen sie sich wieder, wenn sie sich auch in all ihrem Unheiligen noch gar nicht verstehen.
Schöner als alles Weihnachtsgeschenk ist das Pfingstgeschenk des Vaterunser, von dem aus wir wieder reden und uns verstehen lernen können. Wem es am Pfingsttage einmal aus dem Urgestein seines Herzens quillt, der hat Pfingsten gehabt. Der wird auch für die anderen Menschen wieder die Namen Bruder und Schwester, Mann und Weib, Braut und Mutter finden. Er wird wieder reden lernen, so daß andere ihn verstehen und lieben. Er wird froh und dankbar sein, daß er reden darf; daß es ihm gegeben wurde. Und die Sprache, die er spricht, wird ihm das Leben schaffen; es wird so sein, wie er spricht. Denn in der Sprache ist der Creator Spiritus, der Schöpfergeist.
Ich muß es wohl bekennen, daß meine diesjährige Pfingstfreude das nach seinem Titel ganz „weltliche“ Buch meines Freundes Rosenstock, seiner „Soziologie“ erster Band: „Die Kräfte der Gemeinschaft“, besonders aber das Kapitel: „Die Sprachen der Völker: Geist“, geworden ist. Weder Pfingsten, noch der Heilige Geist ist darin ausdrücklich genannt, aber der Sturm ist darin und das Auftun des Mundes und das Horchen auf den Geist der Sprache und die tiefe Wissenschaft, die sie uns aus ihren eigenen, uns leider so lange verborgen gehaltenen Schätzen vermittelt. Dem Entdecker, nicht nur der „wahren Zeit“ und des „wahren Raumes“ – es ist auch wieder Raum für Gott in dieser neuen Soziologie -, sondern auch der wahren Sprache auf seinen Forschungswegen wenigstens von fern zu folgen, das halte ich für meinen besten Pfingstausflug aus der Welt, in der sich nicht nur die Kreter und Araber, Meder und Aelamiten, sondern auch die nächsten Nachbarn nicht mehr verstehen. Freilich darf ich auch nicht verhehlen, daß es mir Mühe macht, ihm zu folgen. Ich könnte keine Zeile schreiben, wie er sie schreibt, und vielleicht auch er keine, wie ich sie schreibe. Aber es ist ja immer ein Wunder, wenn zwei Menschen sich verstehen, und Wunder kann man nicht erzwingen, sondern nur erwarten.
Der Pfingsttag ist so reich und froh wie der Weihnachtstag. Mit dem ersten Worte, das wir uns in heiliger Freude sagen, schenken wir uns das Festgeheimnis und wissen, daß es aus den wunderbaren Sprachen ist, in denen der Heilige Geist erschien. Was wir auch immer im rechten Geiste zueinander sagen können, sein Geburtstag ist das Pfingstfest.
Erschienen 1925 als Pfingstbeilage in der „Schlesischen Volkszeitung“.