Johann Christoph Hampe über Joseph Wittig: „Man hat ihn einen modernen Hiob genannt, und der Vergleich mag darin wirklich stimmen, dass er das, was ihm widerfuhr, als ein Schicksal hinnahm, das ihn von diesem Gott und seiner Kirche nicht trennen konnte. Noch zuletzt hat er das Hiobschicksal in Protest und Ergebung durchdekliniert, als er die „schlesische Passion“ und seinen Auszug aus der geliebten Heimat als seinen „Roman mit Gott“ erlebte und formulierte.“

Über Joseph Wittig (1879-1949), dem er als Schlesier landsmännisch verbunden gewesen ist, hatte Johann Christoph Hampe 1966 ein sympathisches Porträt geschrieben:

Joseph Wittig

Von Johann Christoph Hampe

Er hatte nicht einen einzigen Schüler, obwohl er durch und durch eine väterliche Natur war. Er fand keinen Nachfolger, obwohl sein Hörsaal in der alten Breslauer Leopoldina während der siebzehn Jahre seiner aka­demischen Wirksamkeit immer nur volle Bänke kannte. Es gibt keine Flächenwirkung, es ist in der Forschung mit dem Namen Wittig kein Raum abgesteckt, er steht kaum in einer Kette von beflissenen Wissen­schaftlern, die sich die Förderkörbe der Denkarbeit zureichen und sie weitergeben an die Enkel.

Hatte der theologische Lehrer Joseph Wittig, Ordinarius der Kirchen­historie und Patristik, überhaupt eine theologische Lehre? Ich fürchte, auch diese Frage muß verneint werden. Sein vielbenutzter „Grundriß der Patrologie“ ist eine brave Aneinanderreihung der Daten und Werke alt­christlicher Literaturgeschichte und im übrigen nur die Fortführung des älteren Handbuchs von Gerhard Rauschen. Nirgends bietet dieser Band dem Studenten Beispiele kritischen Fragens und theologischer Deutungs­versuche, kaum auch Prinzipien, mit denen er sich den ungeheuren Stoff geistig ordnen und der Logik dogmengeschichtlicher Entfaltung nachgehen könnte. Auch Wittigs Papstgeschichte, 1912 abgeschlossen, zeigt den Histo­riker, der auf Bestätigung, nicht auf Fragen aus ist, und den Katholiken, der, wenn er auch „ohne Hehl Schatten in das Bild des geschichtlichen Papsttums eintragen muß“, mit ungebrochenen Zeichen umgeht und der dankbar bejahten Erscheinung der Kirche nur Lob spenden kann, da zu­letzt alles in Glanz getaucht ist.

Es ist schwer, sich die Anziehungskraft des Universitätslehrers Joseph Wittig vorzustellen, wenn wir nur auf den zurückgebliebenen Bestand sei­ner akademischen Arbeit blicken. Und schwer ist es, von diesen Arbeiten her die Verbindung zu dem anderen, dem eigentlichen Wittig zu finden, der ein Vorläufer war. Die Verbindung ist etwas ganz Unakademisches, eine Tugend nämlich, die allein den Forscher sicher nicht ausmacht und die einen Forscher, wenn er ausschließlich sie sprechen läßt, anderen Forschern gewiß unterlegen macht: Joseph Wittig war verliebt in den Gegenstand seiner Forschung. Und dieser Gegenstand war die Kirche, die römisch- katholische Papstkirche, die er ausschließlich und ohne Zaudern für die eine und wahre Kirche hielt. Man muß diese Prämisse hinnehmen, denn sie allein machte es möglich, daß dieses Mannes Leben in Kampf und Leid ein ökumenisches Zeugnis wurde.

Zunächst ist er ein Historiker des Details. In Rom, wo er 1904-06, im Campo Santo am Vati­kan wohnend, Studien trieb, geht er einem römi­schen Märtyrerleben nach, das noch von keiner Legendenbildung verdeckt ist, und bestätigt das Grab der Römerin Soteris unter der Via Appia. Er treibt historische Studien an der schwarzen Bronzestatue des Apostels Pe­trus in der Papstbasilika, nachdem er über den Prozeß des Juden Isaak gegen einen Papst des vierten Jahrhunderts, den Spanier Damasus I., charakteristisch für die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat unter Valentinian I. und Gratian, promoviert hatte. Noch einige Titel sol­cher Spezialarbeiten, zwei Dutzend Aufsätze und die Liste seiner Bei­träge zum Fach Theologie im engeren Sinne ist vollständig, sofern es in dieser Geschichtsforschung und Kunstgeschichte überhaupt um Theolo­gie geht.

Was aber bringt diesen Mann in die Theologiegeschichte des 20. Jahrhun­derts? Niemand beruft sich auf ihn. Seine Bücher stehen nicht in den Bi­bliotheken der heute überall aus dem Boden schießenden ökumenischen Institute. Die Masse seiner in den zwanziger und dreißiger Jahren in sehr großen Auflagen erschienenen vielen Lebensberichte, Erzählungen, Trak­tate bildet überhaupt nicht die Lektüre von Wissenschaftlern. Er steht ganz am Rande der in die­sem Buch gerühmten großen Männer. Er ist Einzelgänger nicht nur in dem, was er sagt und wie er es sagt, sondern auch in dem, was er ist. Und dies ist, wenigstens in seinem Falle, das viel wichtigere. Man hat ihn einen modernen Hiob genannt, und der Vergleich mag darin wirklich stimmen, daß er das, was ihm widerfuhr (obwohl es ihm von jener Hand kam, hinter der er in der ganz unmodernen Direkt­heit seines Glaubens immer Gott selber angenommen hat, nämlich aus der Hand seiner Kirche), als ein Schicksal hinnahm, das ihn von diesem Gott und seiner Kirche nicht trennen konnte. Noch zuletzt hat er das Hiobschicksal in Protest und Ergebung durchdekliniert, als er die „schlesische Passion“ und seinen Auszug aus der gelieb­ten Heimat als seinen „Roman mit Gott“ erlebte und formulierte. Und man könnte den Ver­gleich noch weiterführen: Wenn es fast eine Laune Gottes war nach der Schrift, die dem Teu­fel Erlaubnis gab, Hiob bis aufs Blut zu versuchen, wenn es nur nicht ans Leben ginge, so fragen wir uns hinterdrein gleichfalls nach der Notwendigkeit jener Versuchungen, durch die der Zimmermannssohn aus dem Glatzer Bergland von ihr, die er kindlich liebte, von seiner römischen Kirche, heimgesucht und ausgestoßen wurde. Was blieb vom „Fall Wittig“, jener das deutsche Geistesleben aufwühlenden Affäre zwischen den beiden Weltkriegen übrig, um heute noch Auseinandersetzungen daran zu knüp­fen? War das nicht lediglich eine der letzten fahrlässigen Tötungen jener römischen Indexkommission, die heute selber, belehrt von der Generation, die nach Wittig kam (und auch durch Wittig es wieder weiß), in Erfahrung brach­te, daß Freiheit die stärkste Kraft des Evangeliums ist, und müder und müder wird, die Diszi­plin der Unfreiheit unter den katholisch Ge­tauften durchzusetzen?

Was war denn eigentlich inhaltlich an dem, was die katholische Kirche in Joseph Wittig verdammen mußte? Er war kein Theologe, der auf den stei­len Graten kontroverser Speku­lationen einherschritt und durch einen Schock hätte zur Raison gebracht werden müssen. Er brach nicht erlebnis­freudig in Gefilde der Ketzer ein. Leider gelingt es beim besten Willen nicht, aus Wittig einen ökumenischen Theologen zu machen, wie er uns heute gefallen würde. Dies war ein Hiob, der einfältig und ahnungslos seine Herden auf den lieblichen Auen seiner vorwiegend seelsorgerlichen Arbeit weidete und sich der schönen Töchter seiner Phantasie erfreute, als ihn der Blitz der fürsterzbischöflichen Lehrzucht traf. Die schmale, kaum fünfzig Seiten starke Schrift, um die sich der Sturm im katholischen Blätterwald erhob, hat nicht ein­mal wissenschaftliche Diktion, sie ist eine für den mittleren Wittig typische Mischung aus Erzählung, Kindheits­erinnerung, Beichte, lockerer Gedankenfolge. Es ist auch fraglich, ob eine Schrift dieses erzählerischen Stils überhaupt der kirchlichen Zensur und der bischöflichen Genehmigungspflicht unterlag. Man konnte Joseph Wittig nicht eine häretische Lehre, son­dern nur einige angesichts der tridentinischen und nachtridentinischen römischen Lehrent­wicklung ungeschickte und mißverständliche Sätze nachweisen. Zuweilen klingen sie refor­mato­risch, aber sie sind es nicht. Wittig hat bis an sein Lebensende bestritten, außerhalb der katholischen Lehre zu stehen. Er hat jedoch trotz seiner großen Sehnsucht, wieder zu den Sakramenten seiner Kirche zugelassen werden, den jahrzehntelangen Angeboten der formel­len Unterwerfung und Rücknahme dieser Sätze mit der Behauptung widerstanden, sie seien, wie alles, was er je geschrieben habe, gut katholisch, und darum könne er die schon einmal geleisteten Eide nicht wiederholen, denn sie seien nicht gebrochen.

Das römische Kirchenrecht ist unergründlich. Die „Erlösten“, eine Osterbotschaft, Anfang April 1922 im Hochland gedruckt, stehen im Index Librorum Prohibitorum seit dessen Neu­ausgabe durch den damals glorreich regierenden Heiligen Vater Pius XI., aber der Autor ist, obwohl er keine der von ihm verlangten Bedingungen einer Unterwerfung, Widerrufung und gar Trennung von seiner Familie erfüllte und auch das in diesem und anderen indizierten Büchern Gesagte jahrzehntelang oftmals wiederholt hat, zwei Jahre vor seinem Tode wieder in die römisch-katholische Kirche aufgenommen worden, die er selber nie verlassen zu haben meinte. Er hatte sich nicht geändert, aber daß die Kirche jene Canones 1385-1405, die ihm das äußere Leben zerstört haben, nunmehr revidiert, ist möglich und nach den Erkenntnissen, die auf dem 2. Vatikanum formuliert wur­den, angebracht. So hat Joseph Wittig seine Kirche gleichsam überwintert. Gewiß, er wollte sie nicht reformieren. Für ihn war das, was ihm ge­schah, eher widersinnig als zu reformatorischen Protesten Anlaß gebend, eher kirchenbehörd­licher Ausfluß menschlichen Unwissens über die Kirche als notwendig in der zeitlichen römi­schen Struktur begründet.

Und doch waren die Versuchungen dieses Hiob in tieferem Sinne seine eigenen als die des Mannes im Lande Uz. Daß es die kirchliche Disziplin, daß es gerade das Recht der Kirche war, mit dem dieser in die Kirche ver­liebte Mann in Konflikt kam, war tief in seinem eigenen Wesen begründet, wenn auch die römischen Kirchenmänner darin irrten, daß der marienfrom­me, heimatmystische Volkspoet aus dem grafschaftlichen Schlegel kein römischer Katholik wäre. Heute promovieren katholische Doktoranden mit der These, Leo X. habe mit seiner gegen Luther gerichteten Bulle Exsurge Domine sein Lehramt unangemessen ausgeübt, heute ist eine breite Pha­lanx von Sprechern da, die mit dem toten Wittig nach der Wiedergeburt der urchristlichen ökumenischen Liebeskirche aus der lateinischen Rechts­kirche rufen, aber nun Lob und Ruhm dafür ernten. Heute stellt der Papst zu Rom eine Revision des kanonischen Rechts in Aussicht, unter dem Joseph Wittig zerbrochen ist, und man sollte nach der Erfah­rung dieses Konzils die Hoffnung wagen dürfen, der Codex Juris Canonici werde nicht nur mechanisch den Zeitläuften und dem ökumenischen Trend akkommodiert, sondern es müsse die Einsicht da sein, daß jeder Revision eine ganz neue Reflexion über das Wesen kirchlichen Rechts und seine Begrün­dung im Evangelium vorauszugehen habe.

Obwohl sich der Streit, der das Leben des gar nicht streitbaren Joseph Wittig wurde, jahr­zehntelang hinzog, ist seine Gestalt in die Geschichte zurückgefallen. Dieser Mann ist ganz Durchgang, Bote, Vorläufer, ein Johannes – falls dieser Titel von ihm nicht als viel zu hoch bezeichnet werden würde. Eher würde er sich bei seinem Namen haben nehmen las­sen, Joseph, ein Nährvater der armen Leute, der Armen im Geist, der armen Dorfjungen, die nur Flausen und ein paar zu freche, aber richtige Fragen im Kopf haben, und jener armen Chri­sten, die von ihrer Kirche geängstigt sind. Warum eigentlich, fragte der Volksschriftsteller Wittig, warum, wo doch das Evangelium die Freude des Himmels und der Men­schen ver­kündigt? Lange vor Angelo Roncalli, der ihn verstanden hätte, wollte er den Vater Joseph als ein wahres Sinnbild der Kirche, einer Kirche des Dienstes und der Armut, der Unauffälligkeit und der Treue, des Glaubens, der nicht sieht und doch hat, in das Meßgebet eingefügt sehen. Möglicherweise – viele im Lande hoffen es gegen alle Widerstände – läuft die Kirchenge­schichte in Richtung der Geschichte, die Joseph Wittig war und wollte. Doch vielleicht war er auch nur ein Bote, der nicht gehört wurde, obwohl sich die Kirche wieder mit ihm versöhnte. Jenes Bild, nach dem es in der Kirche immer nur größere Vervollkommnung gäbe, muß ja wohl schon nach den Erfahrungen der Propheten des alten und der Apo­stel des neuen Israels als zu naiv gelten.

Der fromme Katholik Joseph Wittig hat kaum mehr gewollt, als zwei praktisch vergessene Lehren der katholischen Dogmatik wieder lebendig machen, die vom concursus divinus und die von der rechtfertigenden Kraft der fides formata. Nicht auf Luther, auf Augustin ging er zurück, obwohl er die jungen Theologen Barth, Thurneysen und Gogarten gelesen hatte. Ihm wurde im Leben der Kirche klar, daß die Christen der Gegen­wart ein unerlöstes Volk sind. Von Augustin lernte er, daß Erlösung nicht ein künftiges, sondern ein gegenwärtiges Gut ist und in nichts anderem besteht, als in einem schlichten, auf Gott gerichteten guten Willen. Alles andere tut die Gnade Gottes, die uns Christus verdient hat, und auch den guten Willen gibt sie uns. Nur sündige Gesinnung ist Sünde, sündige Taten aber, die im guten Willen ge­schehen, heben die Erlösung nicht auf. Denn alle menschlichen Handlungen, auch die sün­digen, entstehen durch ein ge­heimnisvolles Zusammenwirken von Gott und Mensch, sie sind in sich neutral, durch Gottes Mitwirken sogar immer gut, nur der böse Wille des Men­schen kann sie böse machen. Jene Sündenangst, die das christliche Leben vor allem bestimmt, ist selber Sünde, weil sie sich nicht sagen läßt, daß Gottes Erlösung unwiderruflich geschehen ist.

Wittig hat damit ganz einfältig wieder die Botschaft des Apostels Johannes gepredigt, das ist seine Leistung: „Wenn ihr glaubt, könnt ihr nicht mehr sündigen, wer glaubt, der hat das ewige Leben.“ Jene kirchlichen Ketzer­achter aber, die Wittig damals, als er ein erstes großes Aufatmen im deutschen Katholizismus verursachte, den Luther redivivus nannten, hat­ten durchaus unrecht. Zwar teilte Wittig Luthers Glaubensbegriff und meinte den rechtfertigenden Glauben, der durch die Liebe tätig ist, und nicht das tote Katechismus-Wissen. Aber Luther war es doch besonders wichtig zu sagen, daß das Durch-Liebe-tätig-Sein eine Folge und nicht ein Grund der Rechtfertigung ist. Der Wille an sich ist für Luther ausdrücklich nicht gut.

Ärgerlich war für die Kirche, daß Wittig die Unterscheidung von läßlichen, schweren und Todsünden beiseitezuschieben schien, daß ihm Beich­ten und Sündenvergebung durch den Priester nicht drückende Pflichten und Aufgaben, sondern vor allem soziale Mittel der Wie­dergutmachung am Nächsten waren, daß er der tridentinischen Form der Lehre von der Wil­lensfreiheit widersprach und daß er von der Kirche sagte, sie sei nicht planmäßig von Christus gegründet, sondern aus dem neuen Leben der Jüngergemeinde hervorgewachsen. Das war ärgerlich zu hören. Viel ärger­licher aber war, daß es die Katholiken verwirrte und einen Sturm der Be­geisterung entfachte, obwohl es keineswegs um neue Lehren, sondern nur um seelsor­gerliche Befreiung der Menschen ging. Hier sprach ein Mensch – und zwar fast ausschließ­lich in der Sprache der ihm gegebenen volks­tümlichen Poesie – von der Freiheit des Evangeliums in der Kirche, und das aus Glauben an die Kirche. Er hatte keine Schüler, die dies ihm nach­beteten und sollte sie nie bekommen; aber er hatte viele Freunde, die alle auf dieses Stichwort gewartet hatten, Carl Muth, Ernst Michel, Eugen Rosenstock, Hans Ehren­burg, Joseph Bern­hart, Martin Buber, Fritz Klatt, Josef Kühnel, Friedrich Wilhelm Förster und viele, viele ande­re, eine ganze, für die Kirche, für die größere, die ganze Kirche der vom Geist Getriebenen, hoffende Generation.

Als der Exkommunizierte hat Joseph Wittig zusammen mit Eugen Rosenstock-Huessy in den beiden Bänden „Das Alter der Kirche“, denen wie ein Klagelied auf ihre Menschlichkeit als ein dritter Band, dem Feier- und Jubeltag der Alltag angehängt ist, die Akten des Falls Wittig, aus den Er­kenntnissen der Vergangenheit die Summe seiner Hoffnung gezogen: die Kirche liegt noch, aedificabo ecclesiam, vor uns, ich werde sie bauen, hat der Herr gesagt; sie fiel nicht fertig vom Himmel. Kirche, sagt Joseph Wittig, ist immer Gegenwart in der Zukunft als Aufgabe und Geheimnis.

Hier der Text als pdf.

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