Liturgie als Wortspiel: „Der Gottesdienst selbst hat keinen Werkcharakter. Seine Wirklichkeit will nichts außer sich selbst bewirken und ist daher nur spielerisch zu erlangen. Kirche als liturgische Spielgemeinschaft enthält eine Absage an subjektive Sinnentwürfe wie auch an einen weltanschaulichen Universalanspruch des Christentums. Stattdessen wird die Partikularität eines eigensinnigen Spiels mit all den damit verbundenen Begrenzungen betont. Regeltreue und Können sind unabdingbar, andern­falls steht das heilige Spiel vor dem Aus. Deshalb müssen Christen als Mitspielende den besonderen Wort-Schatz dieses Spiels erlernt haben und in dessen Sprachregeln eingeführt worden sein.“

Liturgie als Wortspiel

„Alles nur ein Spiel.“ Wer so redet, fügt in Gedanken hinzu: Was da vor sich geht, also augen­scheinlich geschieht, ist nicht wirklich wahr. In der Tat bleibt jedes Spiel unwirklich, wenn man sich selbst aus dem Spielgeschehen herausnimmt oder aber als teilnahmsloser Beobachter dem Spielverlauf befremdet gegenübersteht. Für Mitspieler hingegen schaut das Spiel ganz anders aus, erfährt doch der Spielende das Spiel als „eine ihn übertreffende Wirk­lichkeit“ (Hans-Georg Gadamer)[1]. So ist es das gespielte Spiel selbst, das dem Bewusstsein der Spielenden vorgeht und gleichsam über die Spielenden Herr wird: „Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. […] Das Spiel ist es, was den Spieler in seinen Bann schlägt, was ihn ins Spiel verstrickt, im Spiele hält.“[2] Wer sol­chermaßen vom Spiel eingenommen ist, zeigt sich gegenüber dessen Regelwerk im guten Sinne distanzlos. Zu Recht spricht der französische Dichter Paul Valery davon, dass für Mitspielende kein Skeptizismus gegenüber den Spiel­regeln möglich ist („il n’y a pas de scepticisme possible à l’égard des règles d’un jeu“).[3]

„Heiliges Spiel“ – so hat der Religionsphilosoph Romano Guardini (1885-1968) die Liturgie bzw. den christlichen Gottesdienst charakterisiert.[4] Auf den ersten Blick mag diese Beschrei­bung befremden, klingt doch sowohl bei „Gottesdienst“ als auch bei „Liturgie“ eine zweck­bestimmte Dienstleistung an. Genau dies spricht Guardini jedoch der Liturgie ab: „Sie ist kein Mittel, das angewandt wird, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen, sondern – bis zu einem gewissen Grade mindestens – Selbstzweck. Sie ist nicht Durchgang zu einem außerhalb lie­genden Ziel, sondern eine in sich ruhende Welt des Lebens.“ [5] Guardini führt dazu aus:

„Genau genommen, kann die Liturgie schon deshalb keinen ‚Zweck‘ haben, weil sie ja eigent­lich gar nicht um des Menschen, sondern um Gottes willen da ist. In der Liturgie sieht der Mensch nicht auf sich selbst, sondern auf Gott; auf Gott ist der Blick gerich­tet. In ihr soll der Mensch nicht sich erzie­hen, sondern auf Gottes Herrlichkeit schau­en. Der Sinn der Liturgie ist der, dass die Seele vor Gott sei, sich vor ihm ausströme, dass sie in seinem Leben, in der heili­gen Welt göttlicher Wirklichkeiten, Wahrheiten, Geheimnisse und Zeichen lebe, und zwar ihr wahres, eigentliches, wirkliches Leben habe. […] Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst – nicht zu schaffen, son­dern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie.“[6]

Das Spiel, das die Liturgie treibt, ist weder agonaler Wettkampf (agōn) noch aleatorisches Glücks­spiel, bei denen es um unbestimmtes Gewinnen geht.[7] Vielmehr kommt eine geschehe­ne Handlung (drōmenon) zur gemeinschaftlichen Darstellung.[8] Die alles entscheidende Frage dabei ist, wie und durch wen diese Handlung bestimmt ist. Folgt man Friedrich Schleierma­chers Definition „Der Zwekk des Cultus ist die darstellende Mittheilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins“[9], so kämen im Gottesdienst religiöse Befindlich­keiten zur Darstel­lung, sei es im gesprochenen Wort, im Gesang und in der Musik oder in symbolischen Hand­lungen. Aber damit wäre der dreieinige Gott, der ja im Gottesdienst namentlich angerufen wird, außer Acht gelassen. Die eigene Erbaulichkeit müsste sich also letztlich selbst fundieren. Ganz anders Martin Luther. In seiner „Torgauer Formel“ bestimmt er den Gottesdienst als Wort­wechsel, demzufolge „unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“[10]

Und doch ist die liturgische Darstellung mehr als nur ein gesprochener Wortwechsel zwischen Gott und Mensch. Grundlegend ist vielmehr die leibliche Hingabe des Gottessohnes in dessen Mensch­werdung, Kreuzigung und Auferstehung, die unter Jesu eigenem Anspruch steht: „Es ist voll­bracht!“ (Joh 19,30). Im Zentrum des heiligen Spiels steht die erinnernde Verge­gen­wärtigung des Pascha-Mysteriums, wie er sie im letzten Abendmahl seinen Jüngern aufge­tra­gen hat: „Solches tut zu meinem Gedächtnis.“ (Lk 22,19) Auf die geglaubte Zusage der Ein­setzungsworte hin – „das ist mein Leib, der für euch gegeben wird“ bzw. „dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ – wer­den Christen in die leibliche Gemein­schaft mit Christus in Brot und Wein wirklich hinein­ge­nommen. Um uns, für uns und mit uns ist es geschehen (actum est de nobis) – die Wand­lung in der Kommunion. Somit erfahren Christen das heilige Spiel als eine sie übertreffende Wirk­lichkeit, derer sie in der „Gestaltgemeinschaft mit Christus“[11] teilhaftig werden.

Der Gottesdienst selbst hat keinen Werkcharakter. Seine Wirklichkeit will nichts außer sich selbst bewirken und ist daher für uns Menschen nur spielerisch zu erlangen. Nichts wird be­zweckt, was aus dem gottesdienstlichen Geschehen herausgenommen und damit „ver­äußert“ werden könnte. Heißt es für Christen Rechtfertigung allein aus Glauben an das, was in Jesus Christus für uns zum Heil geschehen ist, darf kein eigenes Werk in das Gottvertrauen eindrin­gen. Menschliche „Werk­lichkeit“ vermag nicht mit göttlicher Wirklichkeit zusammen­zuwir­ken. Wer es dennoch versucht, verspielt sich sein Heil.

Wie anders ist doch die Ausrichtung der Liturgie als heiliges Spiel, wo man mit Leib und Seele in die Gegenwart des dreieinigen Gottes hineingenommen wird und daher weder für sich noch für andere etwas herausnehmen kann. Das Evangelium Jesu Christi birgt einen eigensinnigen Wort­schatz, der in der gottesdienstlichen Praxis und insbesondere in der Feier des heiligen Abendmahls immer wieder neu zur Geltung kommt. Sind Menschen als erlöste Sünder von Christus eingenom­men, erschließt sich ihnen das Reich Gottes als verheißungs­volle Wirklichkeit. Den „Tätern des Worts“ (Jakobus 1,22) ist die Hoffnung nicht zu verden­ken. So eröffnen sich im Gottesdienst himmlische Lebensaussichten, die irdisch undenkbar sind. Im Buch der Offenbarung stellt sie der Seher Johannes als gottesgegenwärtiger Gottes­dienst vor:

Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen,  und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei dem, der auf dem Thron sitzt, unserm Gott, und dem Lamm! Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Gestalten und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Ange­sicht und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“ (Offb 7,9-12)

So geht es im Gottesdienst – trotz Kirchenbänken – nicht theatralisch, sondern dramatisch zu. Un­bedingte Mitwirkung ist von Christen gefordert: „Bringt euren Leib dar als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer – dies sei euer vernünftiger Gottesdienst! Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sin­nes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkomme­ne.“ (Römer 12,1f Zürcher) Die eigene liturgische Hingabe entzieht uns dem „Schema dieser Welt“, wo alles ganz natürlich zuzugehen hat, technisch beherrschbar sein will oder aber schicksalhaft hingenommen werden muss. In der trinitarischen Signatur des Gottesdiens­tes „im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ nehmen wir uns mit unserer Lebenswelt als göttliche Schöpfung wahr und lassen uns das ehrenwerte Stau­nen nicht nehmen:

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,
den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:>
was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst,
und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott,
mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.
Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk,
alles hast du unter seine Füße getan.
(Psalm 8,4-7)[12]

Sich selbst ein neuer Mensch werden ist beim besten Bewusstsein unmöglich. Wer jedoch mit den Engeln und Heiligen im Himmel in das Sanctus einstimmt, hat „den alten Menschen mit all seinem Tun abgelegt und den neuen Menschen angezogen, der zur Erkenntnis erneuert wird nach dem Bild seines Schöpfers.“ (Kol 3,9f Zürcher; vgl. Eph 4,22-24) So wird in der Liturgie eben nicht die Welt verklärt, sondern diejenigen, die in die Doxologie einzustim­men wissen: „Nun aber schauen wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel, und wir wer­den verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern von dem Herrn, der der Geist ist.“ (2Kor 3,18)

Im Gottesdienst geschieht letztendlich kein Rollenspiel, sondern nimmt die „neue Schöpfung“ in Christus ihren performativen Anfang (2Kor 5,17; Gal 6,15). Und doch findet sich auch für Außen­stehende ein spielerischer Zugang zur Liturgie unter der Prämisse „als ob es war wäre, was da ge­hört, gesprochen und getan wird“.[13]

Kirche als liturgische Spielgemeinschaft enthält eine Absage sowohl an subjektive Sinnentwürfe als auch an einen weltanschaulichen Universalanspruch des Christentums. In der Theo­rie geschieht nichts. Stattdessen wird die Partikularität eines eigensinnigen Spiels mit all den damit verbundenen Begrenzungen betont. Regeltreue und Können sind unabdingbar, andern­falls steht das heilige Spiel vor dem Aus. Deshalb müssen Christen als Mitspielende den besonderen Wort-Schatz dieses Spiels erlernt haben und in dessen Sprachregeln eingeführt worden sein, was in der Alten Kirche als „mys­tagogische Katechese“ (Cyrill von Jerusalem) praktiziert worden ist. Weiterhin ist eine besondere christliche Lebensform geboten, die Men­schen gemeinschaftsfähig mit dem Heiligen hält. Christ­liche Mission schließlich ist nichts anderes als Außenstehende mit den Worten Jesu zum Zuschauen und Mitspielen einladen: „Kommt und seht! […] Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.“ (Joh 1,39.51)

Für Christen, die das heilige Spiel unter einem „eschatologischen Vorbehalt“ (Erik Peterson) zu spielen wissen, ist es beileibe keine Traditionspflege, sondern das Wortspiel des Lebens, das sie selbst mitnimmt. Es muss nichts bewirken, beruht es doch auf der Wirklichkeit dessen, der sich als „das Alpha und das Omega“ (Offb 1,8) ausgesprochen hat. Und so spielen sie mit in der Erwartung, dass der dreieinige Gott selbst dieses Spiel entgrenzt und seine Schöpfung in die Paschageschehen einverleibt, entsprechend seiner Zusage: „Siehe, ich mache alles neu.“ (Offb 21,5)

Anmerkungen
[1] Wahrheit und Methode, GW 1, Tübingen 1990, 115.
[2] Wahrheit und Methode, GW 1, Tübingen 1990, 112. Vgl. außerdem Ders., Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart 1977.
[3] Paul Valéry, Discours de réception à lâ Académie Française, Gallimard, Éditions de la Nouvelle revue fran­çaise, 1927, 72.
[4] Romano Guardini, Vom Geist der Liturgie (1919), NA, Freiburg 21991, 104f.
[5] A.a.O., 96.
[6] A.a.O., 96f.102.
[7] Vgl. Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 202006, 59-69.
[8] A.a.O., 23f.
[9] Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Ber­lin 1850, 75.
[10] WA 49,588, Z. 15-18. Vgl. außerdem Luthers Ausle­gung des dritten Gebotes im Großen Katechismus, „dass man zu hauffe komme, Gottes wort zu hören und han­deln, darnach Gott loben, singen und beten.“ (BSELK 960,15f)
[11] Richard Schaeffler, Philosophische Einübung in die Theologie, Bd.3: Philosophische Einübung in die Ekkle­siologie und Christologie, Freiburg 2004, 475.
[12] Vgl. Gerhard Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011, 40-49.
[13] Vgl. dazu Ludwig Giesz, Fiktionalismus, RGG3, Bd. 2 (1958), Sp. 939-942.

Hier mein Text als pdf.

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