Von Jürgen Roloff
Pfingsten ist neben Ostern das einzige jüdische Fest, das in den christlichen Festkalender eingegangen ist. Der deutsche Name „Pfingsten“ kommt von der im hellenistischen Judentum (Tob 2,1; 2 Makk 12,32) entstandenen griechische Bezeichnung πεντηκοστή = (der) fünfzigste (Tag), die das Fest als den 50. Tag nach dem Pascha kennzeichnet
1. Im Alten Testament ist es ein Erntedankfest am Schluß der Weizenernte. So ist auch die vorwiegende Bezeichnung »Wochenfest« (ḥag haššābu’ôt: Ex 34,22; Num 28,16) von den sieben Wochen seit dem Erntebeginn abgeleitet (Dtn 16,9f). Bereits in Lev 23,15f ist die feste kalendarische Bindung an das Pascha bezeugt: »Bis zum Tage nach dem siebenten Sabbat (nach dem Pascha) sollt ihr zählen fünfzig Tage«. Festritus war die Darbringung zweier aus dem neuen Weizenmehl mit Sauerteig gebackener Brote als Speise-Opfer im Heiligtum (Lev 23,18–20). Grundsätzlich galt Pfingsten, wie Pascha und Laubhüttenfest, als Wallfahrts-Fest für ganz Israel, doch stand es in der Praxis hinter diesen weit zurück.
2. Im Frühjudentum bahnte sich eine Verschiebung des Festinhalts vom agrarischen in den heilsgeschichtlichen Bereich an, im Zuge derer aus der ursprünglichen Bezeichnung »Wochenfest« durch Veränderung der Vokalisation der Name »Schwurfest« (ḥag haššebu’ôt) wurde. Bereits im ausgehenden 2.Jh. v.Chr. sah das in asidäischen und priesterlichen Kreisen entstandene Jubiläenbuch den zentralen Festinhalt im Gedenken an die Schwüre Israels im Zusammenhang mit den verschiedenen Bundsetzungen Gottes in seiner Vergangenheit (Jub 6,10f), d.h. Pfingsten galt als Fest des Bundesgedenkens und der Bundeserneuerung (Jub 6,17–22). Die Gemeinschaft von Qumran kannte ein jährliches Fest der Bundeserneuerung (1 QS 1,8–2,18), das wohl auf den Termin des Wochenfestes fiel. Es bedeutete einen weiteren Schritt in dieselbe Richtung, wenn – allerdings erst nach 70 n.Chr. – Pfingsten zum Gedenktag der Gesetzgebung am Sinai (mit Ex 19 als Festperikope) wurde.
3. Das Neue Testament bietet als einzigen direkten Beleg für das christliche Pfingstfest den lukanischen Bericht Act 2. Als dessen geschichtlichen Hintergrund dürfte festzuhalten sein, daß die engsten Jünger Jesu, veranlaßt durch die Erscheinungen des Auferstandenen in Galiläa (1 Kor 15,5; Mk 16,7), zu dem auf das Todespascha folgenden Wallfahrtsfest nach Jerusalem zogen, um dort als Zeugen des Handelns Gottes vor Israel aufzutreten, und daß sie dort einer Manifestation des Geistes Gottes teilhaftig wurden. Indem sich durch diese die Israel gegebene prophetische Geistverheißung für die Endzeit (Joel 3,1–5; vgl. Act 2,17–21) erfüllte, wurde die Auferweckung Jesu als Anbruch der Endzeit ausgewiesen. Zugleich begriffen die Jünger die Geisterfahrung als Erneuerung und Bestätigung ihres Auftrags gegenüber Israel durch den erhöhten Christus. Spielte, was mit gutem Grund vermutet werden darf, für sie das Verständnis von Pfingsten als Fest der Bundeserneuerung bereits eine Rolle, so sahen sie als ihre Aufgabe in Jerusalem die Verkündigung des Angebots der endzeitlichen Erneuerung des Bundes Gottes mit seinem Volk. Dieses Geschehen wird in Act 2 freilich von verschiedenen späteren Traditionen und Interpretationen überlagert. So wird einerseits durch die Schilderung der Wirkung des Geistempfangs als Sprachen- und Hörwunder, verbunden mit der Völkerliste (Act 2,9–11), die weltweite Mission als geschichtliche Folge in den Blick genommen, während andererseits in einem gewissen Widerspruch dazu das im Urchristentum weit verbreitete Phänomen der Glossolalie, der unverständlichen ekstatischen Rede, zur Veranschaulichung der Gegenwart des Geistes in der Kirche des Anfangs eingetragen wird (Act 2,13.15). Problematisch ist v.a. die Trennung von Himmelfahrt bzw. Erhöhung und Geistsendung, weil sie dem sonstigen theologischen Verständnis (vgl. Eph 4,8–10) und der gottesdienstlichen Praxis des Urchristentums widerspricht.
4. Die liturgische Entwicklung des christlichen Pfingstfestes verlief sehr langsam. Das Neue Testament läßt keine Spuren eines christlichen Pfingstfestes erkennen (1 Kor 16,8; Act 20,16 beziehen sich auf den jüdischen Festkalender). Bis ins 4.Jh. war Pfingsten als Gedenktag der Erhöhung des Herrn und der Geistsendung durch ihn unmittelbar auf Ostern bezogen. Es galt als Abschluß der mit Ostern beginnenden 50tägigen Festzeit und damit als Herrenfest. Die durch die lukanische Datierung veranlaßte Herauslösung von Himmelfahrt hatte zur Folge, daß sich Pfingsten immer stärker vom Osterfestkreis löste, um sich zu einem isolierten Fest der Geistsendung zu verselbständigen. Erst in der neueren Liturgik versucht man, Pfingsten wieder stärker an Ostern zurückzubinden.
Lit.: Adler, N.: Das erste christliche Pfingstfest, Münster 1938 – Kretschmar, G.: Himmelfahrt und Pfingsten, ZKG 66 (1954/55) 209–253 – Haacker, K.: Das Pfingstwunder als exegetisches Problem, in: Verborum Veritas, FS G. Stählin, Wuppertal 1970, 125–131 – Lohfink, G.: Die Himmelfahrt Jesu, München 1971 – Brown, S.: Easter and Pentecost, Worship 46 (1972) 277–286 – Kremer, J.: Pfingstbericht und Pfingstgeschehen, Stuttgart 1973 – Marshall, I.H.: The Significance of Pentecost, SJTh 30 (1977) 347–369 – Dörner, M.: Das Heil Gottes, Bonn 1978.
EKL3, Bd. 3/9 (1992), Sp. 1160-1162.