Predigt über „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ (Johannes 8,7b)
Von Sibylle Lewitscharoff
Eine berühmte Geschichte im Johannes-Evangelium handelt davon, wie Jesus die Pharisäer, die ihn auf die Probe stellen wollen, und eine aufgebrachte Menge davon abhält, eine Frau zu steinigen. Sie hat Ehebruch begangen. Man kennt die Geschichte im Großen und Ganzen. Mit dem Verweis, die Zornigen mögen in sich gehen und an die eigenen Sünden denken, sänftigt Jesus den aufwallenden Zorn der Menschen. Er bringt sie ins Nachdenken und bremst ihre aufgehetzten Reden, bremst die Verfolgung kurz vor der Steinigung. Die Menschen lassen die Köpfe hängen, sie zerstreuen sich und gehen ihrer eigenen gedankenvollen Wege, ein jeder für sich allein. Natürlich bleibt auch die Ehebrecherin mit Jesus allein zurück, und in einer persönlichen Zusammenkunft erfolgt die Ermahnung, es nicht wieder zu tun.
Insoweit haben wir das berühmte Gleichnis noch im Sinn. Was aber mimisch und gestisch dabei im Spiel ist, wissen wir vielleicht weniger. Es ist keine Kleinigkeit, ein aufgebrachtes Kollektiv, über dem die Gewitterwolke des Hasses hängt, zur Ruhe zu bringen. Nicht durch Polizeigewalt oder spektakuläre Maßnahmen, sondern durch ruhig gesprochene Worte, vor allem aber durch Gesten, die es vermögen, den Zorn abzuleiten, gleichsam die Zornesblitze, die aus den Augen der erregten Menschen schießen, ihre bezichtigenden Reden, ihr drohendes Gefuchtel abzulenken, damit Besinnung einkehren kann. Besinnung mag sich zwar in einem Kollektiv verbreiten, aber sie ergreift immer den einzelnen Menschen, sie lähmt den aggressiven kollektiven Schwung und öffnet für jedes Individuum einen eigenen Weg, seine Absichten zu überdenken. Beim Innehalten, bei der Überprüfung des eigenen Handelns ist man allein.
Der französische Anthropologe René Girard hat sich gerade dieses Gleichnis zum Dreh- und Angelpunkt einer großen Analyse genommen, die hauptsächlich davon handelt, inwieweit das Auftreten Jesu – und sein Sterben am Kreuz – eine fundamentale Absage an die Art des Todes bedeutet, wie er im Mythos zelebriert wird.
Im Mythos wird ein Opfer gesucht, gefunden und gejagt, das die Menge zusammenschweißt, ihren gemeinschaftlichen Haßtrieb befördert und letztlich zu einem blutigen Verbrechen führt. Nach vollendeter Jagd und Schlachtung tritt eine Beruhigung ein, die zu einem vorübergehenden Zusammenschluß der Gesellschaft führt. Eine Art blutiger Klebstoff, gestiftet und erbeutet durch gemeinschaftlich begangenen Mord, der eine Weile vorhält. Dabei wird das Mordverlangen vertuscht – oder wenn man so will – schöngeredet, indem man dem Opfer eine Schuld anbehauptet, die es nicht begangen hat.
Jesus hingegen ist und bleibt unschuldig, und es kann auch im Nachhinein nicht behauptet werden, daß eine Schuld an ihm hänge, die die Strafe der Kreuzigung rechtfertigen könnte.
Der Schwindel, die Bluttat der Meute hält jedoch nicht allzu lange vor. Vorübergehend erzeugt der Mord Stabilität, er hält die Verschworenen in ihren Banden, doch alsbald treibt die Gesellschaft auseinander und droht zu zerfallen. Um wiederum Bindung herzustellen, wird ein neues Opfer benötigt. René Girard hält hierfür eine hilfreiche und stichhaltige Analyse im geistigen Gepäck. Ihn interessieren die Blicke und die Gesten, die dabei im Spiel sind. Die zornerfüllten Menschen mit ihrem bösen Gerede, ihren haßschießenden Blicken, dem Gefuchtel der erhobenen Arme kann man sich leicht vorstellen. Die Bilder unserer Nachrichten sind voll davon. In manchen Teilen der Welt scheinen sich derzeit Kollektivräusche dieser Art mit besonderer Gewalt zu entladen. Es sind schlimmere, als so manche althergebrachte Geschichte sie erzählt.
Ganz anders Jesus. Seine Konzentration geht nach innen. Er sitzt oder steht scheinbar unbeteiligt da, als ginge ihn die Menge gar nichts an, und schreibt mit dem Finger etwas in den Sand oder auf den Boden. Es ist, als säße oder stünde da ein in sich versunkener unbewegter Beweger mitten im Sturm. Das Hetzreden der aufgebrachten Menge darf man sich ruhig laut vorstellen; die schwitzende, gleißende Erregung ist am Kochen.
Sicherlich kann keiner der Beteiligten, der da immer noch in höchster Aufwallung siedet, die Schrift lesen, die Jesus auf den Boden kritzelt. Darauf kommt es im Moment auch gar nicht an.
Was Jesus in betonter Abwendung von der Menge vollzieht, ist ein glorioses Ablenkungsmanöver. Um ein profanes Beispiel zum Vergleich heranzuziehen: man kann sich gut vorstellen, wie ein gerissener Bursche seine Verfolger abschüttelt, indem er innehält und mit dem Finger in den Himmel weist, als gäbe es da gottweißwas zu entdecken. Das wäre das höchst amüsante Beispiel eine gerissenen Schlaumeiers, der unbemerkt entwischt, bevor die für kurze Zeit abgelenkte Meute ihn in die Finger kriegt. Man kennt solche Szenen aus gewitzten älteren Filmen.
Jesus ist aber kein sympathischer Filmganove. Er handelt nicht schlau, sondern klug. Er will gar nicht entwischen. Obwohl – und darauf weist René Girard eindringlich hin –, auch Jesus selbst sich in Gefahr befindet. Nicht nur die Ehebrecherin könnte gesteinigt werden, sondern er gleich mit. Aufgebrachte Menschen fackeln nicht lang. Recht und Unrecht zu erwägen und dann in Ruhe zu entscheiden, was geschehen soll, ist ihnen nicht gegeben.
Und nun kommt es zu der genialen Handlung. Alle starren darauf, was Jesus mit seinem Finger treibt. Er selbst blickt die Verfolger nicht an, sondern hat den Blick zu Boden gesenkt, auch nicht flehend oder zeigend Richtung Himmel erhoben. Als gäbe es da unten etwas Hochinteressantes zu entdecken, das die versammelte Aufmerksamkeit erfordert. Ein Ablenkungsmanöver, so viel ist klar. Es verfolgt keinen anderen Zweck, als die Leute zur Ruhe zubringen, den Zorn, der die Meute zusammenhält, gleichsam in den Boden zu leiten und unschädlich zu machen. Klugerweise blickt Jesus den Leuten dabei nicht in die Augen. René Girard analysiert sehr genau, was geschieht, wenn in solcher Situation Blicke auf Blicke treffen. Nichts Gutes. Der Aufreizung würde dadurch nur neue provokative Nahrung zugeführt.
Auch wenn Ihnen das wiederum zu profan, ja, unangemessen vorkommen mag: ich möchte hier einen weiteren Beweis für die Klugheit des Augenniederschlagens anführen. Wer sich mit aggressiven Hunden und anderen Tieren auskennt, weiß, daß man sie, wenn sie sich in beißwütiger Erregung befinden, auf keinen Fall mit dem Blick fixieren darf. Das reizt sie nur noch mehr. Das Blickniederzwingen, das wir einst als Kinder geübt haben, funktioniert in solchen Situationen überhaupt nicht.
Einen hochaggressiven Schäferhund, der mich hetzen wollte, habe ich mal zur Ruhe gebracht, indem ich mich auf einen Stein setzte, in den Himmel schaute und ihm auf Schwäbisch etwas vorgesungen habe (natürlich hat auch der Dialekt geholfen, auf Hochdeutsch hätte das womöglich nicht so gut funktioniert). Das Viech wurde ruhig und alsbald ziemlich lieb. Wir schieden als Freunde voneinander.
Ein Trick, wenn man so will. Im Falle Jesu ist das Ablenkungsmanöver mit dem schreibenden Finger natürlich von einer ganz anderen, ungleich tieferen psychologischen und moralischen Bedeutung. Es schafft wirkenden Raum für den bedeutenden Satz, der dann fällt: Wer sich frei von Sünde weiß, der werfe den ersten Stein auf sie. Der Satz hat es in sich. Mit ihm ist knapp und klar umrissen, wozu die eigene Anmaßung einen Menschen treibt. Natürlich kann sich keiner, der bei Verstand ist, frei von Sünde wissen. Sich auf das eigene Versagen, sich auf die eigene Schuld zu besinnen, ist die einzige Möglichkeit, Versagen und Schuld eines anderen Menschen gerecht zu beurteilen.
Nicht umsonst weist die Psychoanalyse eindringlich darauf hin, daß genau das, was wir in einem anderen Menschen hassen oder worin wir dessen Versagen sehen, mit dickem Zeigefinger auf uns selbst zurückweist. Wir hassen etwas in uns selbst, aber zugleich ist uns die Einsicht verwehrt, daß wir selbst auch gemeint sein könnten. Wenn wir eigene Verfehlungen nicht wahrhaben können oder wollen, ist der Haß auf den anderen umso größer und treibt uns zu ungerechtem Jagdfieber an. Zumindest zu selbstgerechten und zugleich bösartigen Reden.
Grausame Morde begehen wir zur Zeit selten, allenfalls in Träumen. Ehebruch, Treuebruch hingegen ist Alltag im wirklichen Leben. In unserer Welt dürfte es nur wenigen Menschen beschieden sein, einem einzigen Menschen treu zu bleiben und mit ihm durch ein langes Leben zu kommen. Zweifellos ist das schön, und viele Menschen mögen noch immer davon träumen. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus.
Vielleicht können wir aus dem Gleichnis heute nurmehr die Lehre ziehen, daß wir es uns mit dem Bruch der Treue nicht allzu leicht machen sollten. Die Verletzungsgefahr, die Verletzungsfolgen für einen uns nahestehenden Menschen sind meistens noch immer enorm, darüber konnten auch die lustigen Parolen der Achtundsechziger, die in meiner Jugend en vogue waren, und an die ich natürlich auch geglaubt habe, selbst damals schon nicht so recht hinwegtäuschen.
Ich erlaube mir jetzt aber noch einen Schwenk, der von der Bibel weg und zu Dantes Göttlicher Komödie führt. In diesem großen, poetisch absolut hinreißenden Werk, gibt es den berühmten Canto V der Hölle, in welchem die liebenden Ehebrecher Paolo und Francesca beständig in einem Sturm herumgeweht werden. Er ist von bezwingender Kraft und Schönheit, allerdings nicht vom jesuanischen Gleichnis mit der Ehebrecherin inspiriert – ein Verweis auf Jesus kommt darin gar nicht vor.
Zu Dantes Zeit war die Geschichte von Francesca da Rimini wohl bekannt, der Dichter brauchte den Fall nicht langatmig auszubreiten. Francesca war an einen häßlichen Grobian zwangsverheiratet worden; zarte Liebesbande zu dessen feinsinnigerem Bruder Paolo wurden aus Verzweiflung angeknüpft. Die keimende Zuneigung stieg gleichsam verführerisch aus der gemeinsamen Lektüre eines poetischen Buches, das die Liebe verherrlicht. Der Ehemann erwischte die beiden in flagranti, erdolchte den Bruder und dann die eigene Ehefrau. Der Fall wurde damals als große Unglücksgeschichte gehandelt, die verschiedene Bearbeitungen erfuhr.
Sagenhaft gut ist der Höllensturm beschrieben, in dem die Liebenden herumgetrieben werden – eine genaue Parallele zum lodernden Ungestüm, das frisch Verliebte für gewöhnlich packt, gar, wenn die Liebe heimlich in gefahrvoller Umgebung blüht und dadurch eine zusätzliche Würze erhält. Der fünfte Gesang ist das oft zitierte Meisterstück der Commedia. Francesca und Paolo werden an Dante und dessen Begleiter Vergil herangeweht, dann hält der Braus inne, und Francesca berichtet, was ihnen beiden widerfahren ist, während Paolo tränenreich dazu schweigt. (Kleiner Hinweis beiseit: wer sich für die Szene interessiert, kann sich auf Youtube anschauen, wie ein anbetungswürdiger Vittorio Gassmann sich von seiner Begeisterung über die Commedia fortreißen läßt und ebenjenen fünften Gesang rezitiert.)
Es sucht seinesgleichen, wie sich aus dem Gewehe und Gelärme der umhergetriebenen Schwarmgeister ein einzelnes Schicksal löst und sich zu erkennen gibt, ein anderes Schicksal als das der Wollüstigen, das bei Dante kein Mitgefühl hervorruft, vielmehr ein zartes, zu Herzen gehendes. Obwohl eine unselige Lust im Spiel ist, daher der Sturm.
Sogleich werden verschiedene Vogelvergleiche aufgerufen, denn die Unglücklichen werden wie ein Starenschwarm hin und her, auf und nieder geweht. Und man hört langgezogene Klagerufe. Kraniche kommen ins Spiel, allerdings keine wirklichen, die gescheuchten Seelen werden allerdings mit ihnen verglichen. Auch hier, wie an vielen anderen Stellen der Commedia, übernimmt Dante die stellvertretende Rolle eines fragenden Richters. Er bittet höflich um Auskunft.
Damit Francesca mit dem Pilger Dante reden kann, legt sich der Sturm für einen Augenblick, aber nur, um die Liebenden nachher wieder mit sich fortzureißen. Und Francesca spricht. Sie spricht leidvoll und schön und rührt damit an das Herz des Lesers, will auch im grausigen Gestürm von ihrem Liebsten nicht lassen. Offenbar war die Hölle zu Zeiten Dantes finsterer verfaßt, als wir es heute einsehen können. Die liebende Frau hat etwas Anrührendes. Das ist gewiß keine Kokotte, die sich mit jedem ins Bett legt, wenn sich die Gelegenheit gerade bietet. Gute Gründe haben sie zum Ehebruch getrieben.
Man fragt sich natürlich: warum befindet sich eine so noble Gestalt wie Francesca da Rimini überhaupt in der Hölle? Ein Herz, in dem die Liebe zart erblühte, weil wahre Liebe überhaupt nur in einem noblen Herzen aufblühen kann? Gilt hier nicht auch, oder um so mehr das jesuanische Gleichnis von der Ehebrecherin? Könnten sich Paolo und Francesca nicht wenigstens im Purgatorium befinden und langsam den Läuterungsberg erklettern, wo ein Engel die Sünden nach und nach löscht und die Aussicht auf das Paradies lockt? Ein heutiger Leser der Commedia würde den armen Liebenden diese Aussicht gewiß gönnen. Auch von Dantes Zeitgenossen wurde das Urteil als unmäßig hart bewertet. Dantes selbst erträgt es kaum, ja, er fällt sogar ohnmächtig nieder, gerade noch rechtzeitig, um nicht in Hader mit Gottes unbegreiflichem Ratschluß zu verfallen, womöglich dagegen anzureden und damit sein eigenes Schicksal zu besiegeln.
Ein Kommentar des schwedischen Gelehrten Olof Lagercrantz bringt vielleicht etwas Licht ins Dunkel, indem er eine damals in Umlauf befindliche Überlieferung der Geschichte aufruft. Demnach warf sich Francesca dem Dolch entgegen, der für Paolo bestimmt war. Sie hatte sich also in der letzten Sekunde ihres Lebens nicht für die Reue entschieden, sondern für ihren Geliebten. Und dafür landete die beherzte Frau in der Hölle.
Begierde versus selbstlose Liebe, um diesen Kontrast, der uns heute in solcher Schärfe nicht mehr einleuchten will, um den geht es hier. Angetrieben vom Sturmsegel des Eros ist die Liebe von Paolo und Franceca einem weltlichen Kataklysmus unterworfen, und damit steht sie in scharfem Kontrast zur Liebe, die Dante für seine angebetete Beatrice hegt – noch eindeutiger umgekehrt: sie für ihn. Es ist Beatrice, die Dante im Himmel begleitet, nicht Vergil.
Das kann nun an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Auch müssen wir uns davor hüten, ein Gleichnis aus dem Johannes-Evangelium mirnichtsdirnichts mit einem litarischen Text zu vergleichen, auch wenn die Commedia ein poetisches Gebilde ist, von großer Schönheit und ungeheuerlicher Wucht. Es ist ja in den letzten Jahren ziemlich in Mode gekommen, die jüdische Bibel und das Neue Testament als literarische Texte zu bezeichnen. Nichts könnte verfehlter sein. Damit stellt man die Bibel auf eine Stufe mit Homers Odyssee oder Dantes Divina Commedia. Poetisch kann die Bibel dabei nicht gewinnen, unter dem Aspekt betrachtet sind die anderen Texte stärker.
Als grundlegende Schrift in der Unterweisung und Befestigung des Glaubens ist die Bibel etwas vollkommen anderes. Poetische Texte schweifen herum, zieren aus, schmücken sich mit wortreichem Beiwerk, klingen schön und sind im Grunde ihres Bestrebens keinen anderen Göttern verpflichtet als den Musen, da mag der Inhalt – wie im Falle der Commedia – noch so sehr an den damals geführten theologischen Debatten schmausen, mag Gedankengut von Augustinus und Thomas von Aquin noch so emsig in das beschriebene Jenseitsgehäus von Hölle, Purgatorium und Paradies eingetragen sein. Es bleibt Literatur, wenn auch herzerhebend schöne und natürlich auch – wie im ersten Teil, der Hölle, – eine grausame. Glauben muß man an Literatur nicht, schon gar nicht in wörtlichem Sinne.
Dante hat es in naiver, Wort für Wort bekräftigender Weise mit seinem großartigen Werk nicht einmal selbst so gehalten.
Der parataktische Stil der Bibel ist davon meilenweit entfernt. Er schwingt sich selten in das Luftgebilde des Literarischen empor. Es geht dabei glasklar um Unterweisung, wie der Mensch zu leben hat, was ihn nach dem Tod erwartet, wie seine Sünden bemessen sind, was es mit der Hoffnung auf Vergebung auf sich hat. Was Erlösung bedeutet. Parataxe bedeutet Knappheit, Auskargung von Sätzen. In der Bibel klaffen zwischen den Sätzen schwarze Löcher, die nicht mit vermittelnden Handlungen, Beschreibung von Gefühlen oder Gedanken ausgefüllt sind. Das nämlich ist sehr viel mehr das Geschäft der Literatur. Thomas Manns Josephsroman füllt über tausend Seiten. Die Bibel widmet der Geschichte einige Abschnitte. Gerade, weil sie sich den Ausdeutungen bis zu einem gewissen Grade verweigert, ist die Bibel durch Jahrhunderte hindurch von beißender Kraft geblieben, zumindest, wenn man sie nicht mutwillig durch allzu moderne und bequeme Übersetzungen dem modernen Geschmack dienlich entschärft. Die biblischen Texte haben eine Fülle von ausdeutenden Kommentaren hervorgelockt, gerade wegen ihrer drohenden Schwärze, die zwischen den einzelnen Sätzen und Passagen klafft.
Natürlich wurden auch die maßgeblichen Texte von Dante und Homer von Kommentaren überwölbt. Aber das ist mit der Fülle und streitbaren Intensität der Auslegungen, die die Bibel hervorgelockt hat, nicht zu vergleichen. Im ersten Fall geht es um poetischen Genuß, der entlang der sprachlichen, philosophischen und politischen Modelle analysiert wird, die beim Verfassen der Langgedichte Pate standen. Natürlich sind dabei auch moralische und jenseitige Vorstellungen im Spiel, die zu den damaligen Zeiten vorherrschten.
Die Ausdeutung der Bibel hat anderes Gewicht. Vorher. Nachher. Jetzt. Wofern diese nicht in Philologie, Literaturgeschichte oder modisches Geplänkel abdriften, kreisen die Kommentare um den Glauben, erkunden, wie das wahre Leben des Menschen auf der Erde beschaffen sein soll. Und um die Vorbereitung auf den Tod.
Gehalten am 19. Juli 2015 in der Friedenkirche in Stuttgart.