Johann Baptist Metz, Gott und die Übel dieser Welt. Vergessene, unvergeßliche Theodizee: „Das Christentum verlor jedoch sehr früh seine elementare Leidempfindlichkeit. Die die biblischen Traditionen beunruhi­gende Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden wurde zu schnell umgesprochen und verwandelt in die Frage nach der Erlösung für die Schuldigen. So glaubte die Theologie, dem Christentum den Stachel der Theodizeefrage ziehen zu können.“

Gott und die Übel dieser Welt. Vergessene, unvergeßliche Theodizee

Von Johann Baptist Metz

Das Thema dieses Heftes, „Rückkehr der Plagen“, stellt die Theologie schließlich vor die Frage, die in der Sprache der Schultheologie unter dem Stichwort „Theodizee“ verhandelt wird. Wie verhält sich die Rede von Gott – wohlgemerkt: nicht von irgendeinem postmodern erfundenen „Gott“, sondern von dem erinnerten Gott der biblischen Traditionen, vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der auch der Gott Jesu ist – zu den Erfahrungen der Übel, des Lei­dens und des Bösen in der Welt, in „sei­ner“ Welt? Vielfältig waren und sind die Versuche einer theologischen Antwort, einer theologischen Sinngebung für die Übel in der Welt. Sie können und sollen im Rahmen dieses Textes nicht im ein­zelnen verfolgt werden[1] – zumal ich da­von ausgehe und entsprechend zu erläutern versuche, daß es für diese Fra­ge, wird sie nur angemessen gestellt, keine „Antwort“, keine „Lösung“ gibt, mit der die Theologie diese Frage ein für allemal hinter sich bringen könnte. Wer immer von Gott im Sinn der biblischen Überlieferungen spricht, handelt sich die Theodizeefrage ein. Sie ist und bleibt „die“ eschatologi­sche Frage. Was ist ge­meint?

Exodus-Theodizee – ljob-Theodizee

Dieses Themenheft von CONCILIUM knüpft an ein Wort an, das uns aus den biblischen Traditionen vertraut ist, an die sog. „ägyptischen Plagen“. Im Buch Exodus werden diese Plagen ausführlich geschildert, und es wird auch eine „Rechtfertigung“ für diese leidvolle Heimsuchung Ägyptens genannt. Es handelt sich nämlich um eine göttliche Strafaktion gegen das sündig verstockte Herz des ägyptischen Pharao, der den befreienden Auszug Israels verhindert. Übel als Strafe für die Sünde: Dies ist ein bis in die Gegenwart wiederkehrendes Motiv zur „Beantwortung“ der Theodizeefrage. Freilich gibt es nun schon in den biblischen Überlieferungen selbst ei­ne Gegengeschichte zu dieser Exodus- Theodizee, nämlich die Ijob-Theo­dizee. Diese Ijob-Theodizee macht ganz deut­lich [und findet dafür in den ein­schlägigen Erzählpassagen auch den Beifall Gottes selbst), daß die Plagen, die über Ijob zusammenschla­gen, daß seine Leiden und sein Unglück gerade nicht mit seiner Sünde, nicht mit seinem Versagen vor Gott zu tun haben. Hier leidet ein Gerechter, ein Unschuldiger! Es gibt also keinen ursächlichen Zusam­menhang zwischen dem Leiden und der Schuld.

„Die“ eschatologische Frage

Um der Komplexität der Theodizeefrage Rechnung zu tragen, schlage ich vor, nicht direkt von den „Plagen“, von den Übeln dieser Welt auszugehen, sondern von dem, was ich hier die „Leidens­geschichte der Menschen“ nennen möchte.[2] Diese Kategorie der Leidens­geschichte unterläuft m.E. die vertraute Unterscheidung zwischen „physischen Übeln“ (mala physica: Naturkatastro­phen, Epidemien, Krankheiten …) und „moralischen Übeln“ (mala moralia: Schuld, Böses …); vor allem aber verhin­dert sie eine vorschnelle Ontologisierung des Prob­lems, wie sie uns aus der Theo­logie- und Philosophiegeschichte be­kannt ist, besonders aus allen dualisti­schen oder doch quasi dualistischen Erklärungsversuchen, z.B. in der Theo­dizee der Gnosis und der gnostischen Rezidive im Christentum.[3] Setzt man nun bei der „Lei­dens­geschichte der Menschen“ an, so wird man die Theodi­zee nicht mehr als den Versuch einer verspäteten, gewissermaßen trotzigen „Rechtfertigung Gottes“ durch die Theo­logie angesichts der Übel, der Leiden und des Bösen in der Welt mißverstehen. Man wird vielmehr erkennen, daß es sich bei der Theodizee – und zwar ausschließlich – um die Frage handelt, wie denn überhaupt von Gott zu reden sei angesichts der abgründigen Leidens­geschichte der Welt, die wir im Glauben als seine Schöpfung anerkennen. Diese Frage darf von der Theologie weder eli­miniert noch überbeantwortet werden, sie ist, wie ich bereits sagte, „die“ escha­tologische Frage, die Frage, auf die die Theologie keine alles versöhnende Ant­wort ausarbeitet, sondern für die sie im­mer neu eine Sprache und eine Praxis sucht, um sie unvergeßlich zu machen.

Zwei grundsätzliche Bedenken

Natürlich gibt es Einwände gegen eine solche „schwache“ Konzeption der Theodizee. Ich erörtere – in aller Kürze – zwei grundsätzliche Bedenken, nämlich Einsprüche, die im Namen der Vernunft (1) und Einsprüche, die im Namen der christlichen Lehre (2) vorgetragen wer­den.

1. Widerspricht diese Theodizeekonzeption nicht einem Grundsatz menschli­cher Vernunft, wie er etwa schon in Ockhams Sparsamkeitsprinzip („razor“) ausgedrückt ist: Entia sine ratione non sunt multiplicanda? Auf unser Thema angewendet: Ist es nicht aus Gründen der Vernunft geboten, eine Frage, auf die es zugestandenermaßen keine Antwort gibt, endlich fallen zu lassen und zu ver­gessen? Doch was ist, wenn sich die Menschen eines Tages nur noch mit der Waffe des Vergessens gegen das Unglück in der Welt wehren können, wenn sie ihr Glück nur noch auf das mitleidlose Vergessen der Opfer bauen können, auf eine Kultur der Amnesie, wenn nur noch, die Zeit alle Wunden heilt (und eines Tages auch die Wunde, die den Namen Auschwitz trägt)? Wor­aus nährt sich dann noch der Aufstand gegen die Sinnlosigkeit des Leidens in der Welt, was inspiriert dann noch zur Aufmerksamkeit für das fremde Leid und die Vision einer neuen größeren Ge­rechtigkeit? Was bleibt, wenn sich diese kulturelle Amnesie vollendet hat? Was bleibt – der Mensch? Welcher Mensch? Eine Berufung auf die Selbsterhaltung des Humanen scheint mir in diesem Fall höchst abstrakt zu sein. Sie entspringt nicht selten einer Anthropologie, der die Frage nach dem Bösen und der „Theodizeeblick“ in die Geschichte der Mensch­heit längst abhanden gekommen ist und die vergißt, daß nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch die „Idee“ des Menschen verletzbar, ja zerstörbar ist.

2. Widerspricht die hier vorgetragene „schwache“ Theodizeekonzeption nicht dem theologischen Verständnis des Christentums, wie es sich durch Jahr­hunderte herausgebildet hat? Ist denn das Christentum nicht die gelungene Be­antwortung und damit auch Stillstellung jener Theodizeefrage, die in der Gestalt der Klage, des Schreis und der unbesänftigten Erwartung die Glaubensge­schichte Israels – in den Psalmen, bei Ijob, in den Klageliedern, in vielen Pas­sagen der Prophetenbücher – begleitet hat? Ist nicht die Christologie, ist nicht vor allem die christliche Soteriologie die Antwort auf die Frage nach der Leidens­geschichte der Menschen in Gottes gu­ter Schöpfung?[4]

Doch auch die Christologie der Christen ist nicht ohne eschatologische Unruhe. Nicht nur Israel hat sich immer wieder in eine eschatologische „Landschaft aus Schreien“[5] verwandelt, auch das Neue Testament, die Biographie der frühen Christenheit endet bekanntlich mit ei­nem Schrei, mit einem nun christolo­gisch angeschärften Schrei, der inzwi­schen freilich zumeist mythisch oder idealistisch-hermeneutisch zum Ver­stummen gebracht ist In seinem Auf­satz „Warum läßt Gott uns leiden?“[6] erwähnt Karl Rahner einen inzwischen öfter zitierten Bericht von Walter Dirks über einen Besuch bei dem bereits vom Tod gezeichneten Romano Guardini, ei­nen Bericht, in dem dramatisch deutlich wird, wie sehr die Theodizeefrage die ge­samte christliche Lehre immer wieder beunruhigt: „Der es erlebt, wird es nicht vergessen, was ihm der alte Mann auf dem Krankenlager anvertraute. Er würde sich im Letzten Gericht nicht nur fragen lassen, sondern auch selber fra­gen; er hoffe in Zuversicht, daß ihm dann der Engel die wahre Antwort nicht ver­sagen würde auf die Frage, die ihm kein Buch, auch die Schrift selber nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt, die ihm keine ,Theodizee‘ und Theologie, auch die eigene nicht, habe beantworten können: Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?“ Wieso die Last und Überforderung durch die Lei­densgeschichte der Menschen? Wieso überhaupt die Schuld? Diese Rückfrage bleibt: Cur peccatum? Diese „erste“ Theodizeefrage entstammt nicht einem typisch intellektuellen Kult des Fragens, der ja gerade den Leidenden selbst am Fernsten wäre. Nicht vage schweifende Fragen, wohl aber leidenschaftliche Rückfragen gehören zu jener Gotteser­fahrung, über die sich Christen immer neu zu belehren hätten. Und dies vor allem, weil die Mystik, die Jesus lebte und lehrte, nicht eigentlich eine Mystik der geschlossenen Augen ist, sondern eine Mystik der offenen Augen, die auf die gesteigerte Wahrnehmung fremden Leids verpflichtet.

Jesu erster Blick

Das Christentum begann als eine Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft in der Nachfolge Jesu, dessen erster Blick nicht der Sünde der Anderen, sondern dem Leid der Anderen galt. Diese Emp­findlichkeit für das fremde Leid, diese Berücksichtigung des Leidens der Ande­ren – bis hin zum Leid der Feinde – beim eigenen Handeln gehört in das Zentrum jener „neuen Art zu leben“, die sich mit Jesus verbindet. Sie ist der überzeu­gendste Ausdruck jener Liebe, die Jesus uns zugetraut und zugemutet hat, wenn er – ganz in der Tendenz seines jüdi­schen Erbes – die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe beschwor.

Es gibt Parabeln Jesu, mit denen er sich in das Gedächtnis der Menschheit hin­einerzählt hat. Eine der bekanntesten Parabeln ist die vom „Barmherzigen Sa­mariter“, mit der er diese Liebe illu­striert. Ihr Kriterium ist – das fremde Leid. Hier ist es (in den Bildern einer archaischen Provinzgesellschaft) der unter die Räuber Gefallene, an dem der Priester und der Levit „im höheren In­teresse“ vorübergehen. Wer „Gott“ im Sinne Jesu sucht, kennt hier kein ent­schul­digendes „höheres Interesse“. Je­sus stattet die Leidenden mit einer Autorität aus, dergegenüber es (womög­lich unter Berufung auf ein solch „hö­heres Interesse“) keinerlei Befehlsver­weigerung gibt. Diese Autorität der Lei­denden ist die einzige Autorität, in der sich die Autorität des richtenden Gottes in der Welt für alle Menschen manife­stiert: Mt 25,31-46. Im Gehorsam ihr gegenüber konstituiert sich das Gewis­sen; und was wir seine Stimme nennen, ist unsere Reaktion auf die Heimsu­chung durch dieses fremde Leid.

Das Christentum verlor jedoch sehr früh seine elementare Leidempfindlichkeit. Die die biblischen Traditionen beunruhi­gende Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden wurde zu schnell umgesprochen und verwandelt in die Frage nach der Erlösung für die Schuldigen. So glaubte die Theologie, dem Christentum den Stachel der Theodizeefrage ziehen zu können. Die Lei­densfrage geriet in einen soteriologischen Zirkel. Das Christentum verwan­delte sich aus einer primär leidempfind­lichen in eine primär sündenemp­findliche Religion. Nicht mehr dem Leid der Kreatur galt der erste Bhck, sondern ihrer Schuld. Das lähmte die elementare Empfindlichkeit für das fremde Leid und verdüsterte die biblische Vision von der großen Gottesgerechtigkeit, der doch nach Jesus aller Hunger und Durst zu gelten hätten.

Fragen zum Abenteuer der Theodizee

Es ging hier vor allem um eine Hintergrundüberlegung zur Frage nach Gott und den Übeln dieser Welt, zum Schicksal und zur anhaltenden Bedeu­tung der Theodizeefrage im Christen­tum. Ist aber diese Konzentration auf die Theodizeefrage nicht zu sehr gekenn­zeichnet von Resignation und Evasion? Gibt es für das Christentum der gestei­gerten Empfindlichkeit für fremdes Leid überhaupt offene Ohren? Soll uns Reli­gion nicht von dem Schmerz der Nega­tivität abschirmen? Dient sie nicht, wenn überhaupt, dem Triumph des „Positiven“, der Optimierung von Über­lebenschancen? Und schließlich: Ist die hier angesprochene Leidsensibilität nicht eine Haltung, die gerade jungen Menschen nur sehr schwer zugänglich ist und zugänglich gemacht werden kann? Jugend und Theodizee: Ist das nicht eine von vornherein zum Scheitern verurteilte Verbindung?

Ich kann hier nur noch mit einer Gegen­frage zu antworten versuchen: Wem soll­te man die hier angesprochene Aufmerk­samkeit für fremdes Leid, die Haltung der Empathie und das Übertreibende daran („Es gibt kein Leid in der Welt, das uns überhaupt nichts angeht“[7]) zu­trauen? Wem sollte man die abenteuerli­che Vorstellung zumuten, für Andere da zu sein, ehe man überhaupt etwas von ihnen hat? Wem könnte man überhaupt die damit angedeutete „andere Art zu leben“ anbieten? Wem, so frage ich, wenn nicht gerade jungen Menschen? Haben wir denn ganz und gar vergessen, daß das Christentum einmal begonnen hat als eine Jugendrevolte innerhalb der damaligen jüdischen Welt?

Ist das Christentum für die von Jesus geforderte Leidempfindlichkeit womög­lich schon zu alt geworden? Ist Theodizeeverweigerung wirklich das Zeichen eines lebendigen oder nicht viel­mehr das eines vergreisenden Christentums? Je älter das Christentum wird, um so „affir­mati­ver“ scheint es zu werden, um so geschlossener sucht es sich an den Wid­rigkeiten in der Schöpfung vorbeizuretten. Das Sensorium für das fremde Unglück verkümmert, Glaubensfestig­keit wird unterderhand zur Verblüf­fungsfestigkeit. Wer jetzt noch Fragen hat, leidenschaftliche Rückfragen an Gott, der gerät in Verdacht, nur noch dem Zweifel die Zunge zu lösen oder ei­nen Kult der Negativität zu propagieren. In einer solchen Einstellung spiegelt sich für mich die spezifisch christliche Form des Fundamentalismus. Solche Art Fundamentalismus ist ein Vergreisungs­symptom, das den negativen Zügen der Welt nicht wirklich ins Antlitz zu schau­en wagt. Ihm ist der erste Blick Jesu verlorengegangen.

Concilium 33 (1997), 586-590.


[1] Knapp zwar, aber überzeugend kritisiert K. Rahner in seinem kleinen Text „Warum läßt Gott uns leiden?“, in: ders., Schriften zur Theologie XIV, Einsiedeln 1980,450-466 die geläufigen Versuche zur Sinngebung für das Leid und die Übel dieser Welt.

[2] Vgl. zu diesem Einstieg meinen Text „Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt“, in: Stimmen der Zeit, 1992/Heft 5, 311-320.

[3] Vgl. hierzu etwa die Untersuchungen von H. Blumenberg, in: ders., Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a.M. 1974. – Th.W. Adorno hat darauf hingewiesen, daß die ontologisch argumentierenden Theodizeekonzepte auf eine Ontologie der Gequältheit der Kreatur hinauslaufen. Vgl. dazu jetzt die Adorno-Arbeit von J. A. Zamora, Krise – Kritik – Erinnerung, Münster 1995.

[4] Zu den Aporien der klassischen Position des Augustinus wie der gegenwärtigen Versuche, die Theodizeefrage mit der Rede vom leidenden Gott zu „beantworten“, vgl. sämtliche Beiträge in: J.B. Metz (Hg.), „Landschaft aus Schreien“. Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz 1995. Dazu auch: W. Groß/K. J. Kuschel, „Ich schaffe Finsternis und Unheil“. Ist Gott verantwortlich für das Übel?, Mainz 1992.

[5] Formulierung Nelly Sachs.

[6] Vgl. oben Anm. 1.

[7] Formulierung Peter Rottländer.

Hier der Text als pdf.

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