Peter Brown, Brücke zu Gott. Gedenken an die Armen, Gedenken an die Toten und Schätze im Himmel (The Ransom of the Soul, 2015): „In der Tat konnten die Gläubigen mit den Geldern, die sie durch Wohltätigkeit auf der Erde in den Himmel brachten, sogar ihre eigenen Villen bauen. Der Himmel war nicht nur ein Ort mit großen Schatzkammern, sondern auch mit erstklassigen Immobilien, an denen aufgrund der guten Taten, die auf der Erde mit gewöhnlichem, grobem Geld vollbracht wurden, ständig gebaut wurde.“

Brücke zu Gott. Gedenken an die Armen, Gedenken an die Toten und Schätze im Himmel

Von Peter Brown

Als die lateinischen Christen der Spätantike über das religiöse Geben nachdachten, gingen sie zu dem zurück, was für sie der Anfang war – zu den Worten Jesu. Die Worte Jesu an einen reichen jungen Mann brachten die ganze Vorstellung von der Übertragung eines „Schatzes“ von der Erde in den Himmel auf den Punkt: „Und Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben“ (Mt 19,21; vgl. Mk 10,21, Lk 18,22). Jesus wiederholte diese Aufforderung an seine Jünger: „Verkauft euren Besitz und gebt Almosen; verschafft euch einen Geldbeutel, der nicht altert, einen Schatz in den Himmeln, der nicht vergeht, wo kein Dieb hinkommt und keine Motte zerstört“ (Lukas 12,33).

Dieser Gedanke war auch in jüdischen Kreisen verbreitet. Der Jerusalemer Talmud aus dem späten vierten Jahrhundert enthält eine Geschichte über König Monobazos, den jüdischen König von Adiabene am Euphrat. Es heißt, er habe sein Vermögen für die Versorgung der Armen in Jerusalem ausgegeben. Seine wütenden Verwandten beschuldigten ihn, seinem Namen gerecht zu werden, der von dem Wort bazaz – „plündern“ – abgeleitet ist. Monobazos plünderte das irdische Erbe seiner Familie. Er antwortete ihnen lang und breit: „Meine Väter haben sich Schätze für unten angelegt, ich aber habe mir Schätze für oben angelegt. Sie haben Schätze an einem Ort angelegt, über den Menschenhand siegen kann; ich an einem Ort, über den keine Hand siegen kann. […] Meine Väter legten Schätze für andere an, ich für mich selbst. [Denn] meine Väter legten Schätze an, die in dieser Welt nützlich sind, ich für die zukünftige Welt.“

Die Gebote Jesu und die Geschichte von König Monobazos forderten oder beschrieben heroische Akte des Verzichts und der Großzügigkeit. Im dritten Jahrhundert n. Chr. hatte sich jedoch sowohl im Judentum als auch im Christentum die Geste des Gebens gewissermaßen miniaturisiert. Man musste keine heroischen Taten der Selbstaufopferung oder Nächstenliebe vollbringen, um einen Schatz im Himmel zu haben. Kleine Geschenke reichten aus. Aber die Vorstellung, dass ein Schatz durch Taten der Barmherzigkeit in den Himmel kommt, behielt ihren jenseitigen Schimmer. Cyprian zum Beispiel betrachtete die stetige, unauffällige Abgabe von Almosen an die Armen als eine Form der Aufnahme in den Himmel, die dem Verzicht auf allen Reichtum, den Jesus dem reichen Jüngling nahegelegt hatte, gleichgestellt war.

In christlichen Kreisen färbte die Vorstellung von einem Schatz, der durch Almosen in den Himmel kommt, die Wahrnehmung anderer Sprüche Jesu. Zum Beispiel hatte Jesus auch die Geschichte vom ungerechten Verwalter erzählt. Dieser Verwalter hatte sich mit trickreichen Geldgeschäften Freunde gemacht, so dass die, die ihm verpflichtet waren, ihn nach seiner Entlassung in ihr Haus aufnahmen. Jesus schloss: „Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit sie euch, wenn er versagt, in die ewigen Wohnungen aufnehmen“ (Lk 16,19). Die Christen dieser Zeit verstanden dies so, dass diejenigen, die Geld von Gläubigen erhielten (ob es sich nun um Heilige, Geistliche oder Arme handelte), diese Gläubigen in ihre Wohnung im Himmel aufnehmen würden. In der Tat konnten die Gläubigen mit den Geldern, die sie durch Wohltätigkeit auf der Erde in den Himmel brachten, sogar ihre eigenen Villen bauen. Der Himmel war nicht nur ein Ort mit großen Schatzkammern, sondern auch mit erstklassigen Immobilien, an denen aufgrund der guten Taten, die auf der Erde mit gewöhnlichem, grobem Geld vollbracht wurden, ständig gebaut wurde.

Dieser Gedanke wurde in den Dialogen Gregors des Großen, die im Jahr 594 verfasst wurden, in einer reizvollen Geschichte zusammengefasst:

Es gab einen frommen Schuster, Deusdedit, in Rom [so erzählt Gregor]. Jeden Samstag brachte er einen Teil seines Wochenverdienstes in den Hof des Heiligtums von St. Peter in Rom. Damit gab er den Armen, die sich am Schrein versammelten, Almosen. Das Ergebnis der Wohltätigkeit des Schusters wurde einem frommen Menschen in einer Vision offenbart. In der Vision wurde ein Haus im Himmel gebaut. Dies geschah jedoch nur samstags. Denn der Samstag war der Tag, an dem Deusdedit nach St. Peter ging, um den Armen Almosen zu geben. Das Haus war die „Villa“ des Schusters im Himmel, gebaut von dem „Schatz“, den er jeden Samstag durch seine Gaben an die Armen in den Himmel gebracht hatte. Eine ähnliche Vision zeigte, dass diese Häuser selbst Schatzkammern waren. Sie wurden mit Ziegeln aus reinem Gold gebaut.

Gregor stand am Ende einer jahrhundertelangen christlichen Spendenkultur, die von der Vorstellung inspiriert war, dass durch Almosen Schätze in den Himmel gebracht werden. Gregors Erzählungen zirkulierten weitgehend unverändert und unangefochten für weitere tausend Jahre. Wenn man sich jedoch der heutigen Forschung zu diesem Thema zuwendet, stellt man fest, dass die Idee des „Schatzes im Himmel“ von lautem Schweigen umgeben ist. Weder im katholischen Dictionnaire de spiritualité noch in der evangelischen Theologischen Realenzyklopädie findet sich ein Eintrag zu trésor oder Schatz. Auch im Oxford Dictionary of the Jewish Religion ist ein solcher Artikel nicht zu finden. Tatsächlich ist erst kürzlich (2013) die klare und erfrischend unzensierte Studie von Gary Anderson, Charity: The Place of the Poor in the Biblical Tradition (Der Platz der Armen in der biblischen Tradition) eine zufriedenstellende Analyse der Beziehung zwischen dem Almosengeben und der Anhäufung von Schätzen im Himmel im Alten Testament, im späteren Judentum und im frühen Christentum vorgelegt.

Selbst die wenigen Artikel, die dem Thema „Schatz im Himmel“ gewidmet sind, haben sich diesem Thema mit unverhohlener Verlegenheit genähert. In einer solchen Studie besteht Klaus Koch darauf, dass Jesus, als er vom Schatz im Himmel sprach, etwas ganz anderes gemeint haben muss als das, was in späteren Jahrhunderten damit verbunden wurde. Der Glaube an die direkte Anhäufung eines Schatzes im Himmel durch Almosen auf der Erde (der durch die Geschichten von Gregor dem Großen so anschaulich illustriert wurde) wurde von Koch zurückgewiesen: Das sei „für den Protestanten eine abscheuliche Vorstellung“.

Moderne katholische Autoren waren nicht weniger zurückhaltend, wenn sie mit dieser Vorstellung konfrontiert wurden. Eine große Grabinschrift, die über dem Grab von Hilary, dem berühmten Bischof von Arles (430-449), errichtet wurde, erklärte, dass der Bischof durch seinen Verzicht auf Reichtum „den Himmel mit irdischen Gaben erkauft“ habe. In diesen stolzen Zeilen findet sich kein Anflug von Verlegenheit. Nicht so bei ihren modernen Auslegern. Die Herausgeber eines Katalogs der frühchristlichen Denkmäler von Arles aus dem Jahr 2001 gaben etwas zaghaft zu bedenken, dass ein solcher Satz einem modernen Menschen als „eine Formel erscheinen könnte, die einige von uns … zweifellos als etwas abrupt oder ketzerisch empfunden hätten!“

In jüdischen Kreisen ist das nicht anders. Selbst der große jüdische Gelehrte Ephraim Urbach fühlte sich angesichts der Erzählung von König Monobazos unwohl. Er gestand, dass es schwierig war, in Monobazos’ „langwieriger und monotoner Erklärung … Spuren einer verfeinerten Lehre … [eine] Sublimierung des materialistischen Gleichnisses vom Sammeln von Schätzen oben durch deren Verschwendung unten“.

Alles in allem haben wir es mit einer Vorstellung zu tun, die den modernen Menschen in akute Verlegenheit bringt. Eine solche Verlegenheit sollte den Religionshistoriker aufhorchen lassen. Wie kommt es, dass uns eine Redeweise über die Beziehung zwischen Himmel und Erde, die für spätantike und mittelalterliche Christen selbstverständlich war, so fremd er­scheint? Vielleicht sind wir es, die fremd sind. Wie kommt es, dass wir solche Hemmungen haben, uns dem Thema der Verbindung von Gott und Gold zu nähern?

Angesichts der Notwendigkeit, moderne Hemmungen zu erklären, ist der Religionshistoriker gut beraten, sich an moderne Anthropologen zu wenden. Deren Arbeit erinnert uns daran, dass wir als moderne Menschen nicht mit den vergangenen Epochen Schritt halten können. Sie weisen darauf hin, dass unsere besondere Vorstellung von Tausch das Produkt der kommerziellen Revolution der Neuzeit ist. Wie der Anthropologe Jonathan Parry klarstellt, „unterscheiden sich wirtschaftliche Transaktionen immer mehr von anderen Arten sozialer Beziehungen, und die ihnen jeweils angemessenen Transaktionen werden in Bezug auf ihre Symbolik und Ideologie immer stärker polarisiert. […] Die westliche Ideologie hat die Unterscheidbarkeit der beiden Zyklen [religiöse Beziehungen zum Himmel und kommerzielle Transaktionen auf der Erde] so sehr betont, dass sie nicht in der Lage ist, sich die Mechanismen vorzustellen, durch die sie miteinander verbunden sind.“ Heutzutage erscheint uns der Gedanke an eine solche Verbindung von Religion und Handel als etwas mehr als eine harmlose Übung der Phantasie. Vielmehr hat er die Qualität eines geschmacklosen Witzes.

Die modernen Anthropologen haben gut daran getan, einen Teil unserer Hemmungen zu erklären, wenn wir mit den Bildern konfrontiert werden, mit denen die frühchristliche und mittelalterliche Schenkungspraxis durchtränkt war. Aber diese Hemmungen sind nicht nur ein modernes Phänomen. Wie Marcel Hénaff in seiner brillanten und umfassenden Meditation The Price of Truth: Gift, Money, and Philosophy gezeigt hat, machten die antiken Philosophen von Sokrates an einen klaren Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Tausch gegen gewöhnliche Güter und dem Vorhandensein von Gütern, die so kostbar und so nährend für den Geist und die Seele sind (wie ihre eigenen Lehren), dass sie in irgendeiner Weise mit bloßem Geld in Verbindung gebracht werden und dadurch beeinträchtigt werden.

Die frühen Christen waren sich dieser Tradition sehr wohl bewusst. Sie beriefen sich unermüdlich darauf, wenn sie die Rituale ihrer Konkurrenten angriffen – zum Beispiel heidnische und jüdische Opfer –, bei denen es um große Ausgaben ging. Aber sie behielten die großen Bilder von der Übertragung von Schätzen von der Erde in den Himmel und von der Vorbereitung der himmlischen Wohnungen durch regelmäßiges Almosen bei. Diese Bilder waren für sie viel mehr als bloße Metaphern. In Anlehnung an den Titel eines modernen Buches über die Rolle der Metapher bei der Strukturierung sozialer Kognition waren dies Metaphern, nach denen man leben konnte (George Lakoff und Mark Johnson). Die ständige Verwendung der Metapher vom „Schatz im Himmel“ verlieh dem Geldumlauf auf allen Ebenen innerhalb der Kirchen einen Hauch von himmlischer Herrlichkeit.

Die Vorstellung, durch Almosen einen Schatz im Himmel anzulegen, blieb für Juden und Christen eine lebendige Metapher, denn, in den Worten von Gary Anderson, erlaubte der Akt des Almosens „dem Einzelnen, das Wunder der Gnade Gottes“ auf Erden zu vollbringen. Selbst eine kleine Gabe an einen Mittellosen spiegelte die Barmherzigkeit Gottes gegenüber einem Menschengeschlecht wider, das für sein Überleben so sehr von ihm abhängig war, wie die Bettler von den Almosen der Reichen. Das Almosengeben löste die letzte Hoffnung auf eine Welt aus, die von einem Schöpfer regiert wird, der Barmherzigkeit mit Barmherzigkeit belohnt.

Darüber hinaus erregte die Vorstellung von einem Schatz im Himmel auf einer unterschwelligen Ebene die Phantasie, weil sie scheinbar Unvereinbares miteinander verband. Geld in den Himmel zu bringen bedeutete nicht einfach, es dort zu lagern. Es ging darum, zwei Bereiche der Vorstellungskraft zusammenzubringen, die der gesunde Menschenverstand auseinander hielt. In einer fast magischen imaginativen Implosion wurde der makellose und ewige Him­mel durch den „ungerechten Mammon“ mit der Erde verbunden – durch Reichtum, der traditionell mit dem Vergänglichen und in der Tat mit dem Unheilvollen auf Erden assoziiert wurde, der allzu sehr mit Gewalt und Betrug verbunden war und, selbst wenn er ehrlich erworben wurde, immer noch nach Grab roch. Wenn der brutale Gegensatz zwischen Himmel und Erde, reinem Geist und dumpfer Materie, auf diese Weise überwunden werden könnte, dann könnten auch alle anderen Trennungen geheilt werden.

Die Kluft zwischen Arm und Reich war nicht die geringste dieser Trennungen. In der christlichen Vorstellung wurde die Vereinigung von Himmel und Erde durch die Vereinigung von zwei Personen (oder Personengruppen) in unvergleichbaren sozialen Situationen – den Reichen und den Armen – durch die Gabe von Almosen sozusagen im Kleinen gebrochen. Wir sollten uns also nicht vorstellen, dass das Verhältnis zwischen Reichen und Armen in christlichen Kreisen nur von Mitleid und einem Sinn für soziale Gerechtigkeit bestimmt war. Christen konnten barmherzig sein. Durch ihre Lektüre der hebräischen Schriften (des Alten Testaments) waren sie sich der leidenschaftlichen Sorge der Propheten des alten Israel um soziale Gerechtigkeit voll bewusst. Aber sowohl das jüdische als auch das christliche Geben an die Armen beinhaltete immer etwas mehr als das. Beim Almosengeben ging es nicht nur um die horizontale Zuwendung zu den Armen in der Gesellschaft. Es rief eine symbolisch aufgeladene vertikale Beziehung hervor. Man spürte, dass das Almosen eine Brücke über eine Kluft schlug, die ebenso schwindelerregend war wie die Kluft, die die Erde vom Himmel und die Menschen von Gott trennte.

Denn wie Gott waren auch die Armen sehr weit weg. Wie Gott waren die Armen stumm. Wie Gott konnten auch die Armen nur allzu leicht von den Stolzen und Reichen vergessen werden. Daher hatte die scheinbar nüchterne Mahnung des Paulus in seinem Brief an die Galater, „dass wir der Armen gedenken sollen“, für die frühen christlichen Leser eine große Bedeutung für die Vorstellungskraft. Indem sie der Armen gedachten, nahmen die frommen Gläubigen (Juden und Christen gleichermaßen) etwas von dem großen und liebevollen Gedächtnis Gottes an. Gott hat die Armen nie vergessen, während die Menschen – sei es aus Stolz oder einfach, weil sie zu beschäftigt waren – die Armen leider für äußerst vergesslich hielten.

Auf diese Weise wurde das Gedenken an die Armen als eine Verbindung von Gegensätzen gesehen, die in der Gesellschaft selbst die paradoxe Verbindung von Himmel und Erde, von niedrigem Geld und Ewigkeit und von Gott und Menschheit widerspiegelte. Ohne solche gefährlich anomalen Brücken (von denen jede den gesunden Menschenverstand missachtet) würde das Universum selbst auseinanderfallen. Die Reichen würden die Armen vergessen. Die Lebenden würden die Toten vergessen. Und Gott würde sie alle vergessen.

Man sollte hinzufügen, dass die Übertragung von Schätzen von der Erde in den Himmel durch das Almosengeben nicht das einzige große Bild war, mit dem Juden und Christen versuchten, die vielen Abgründe zu überbrücken, die in ihrer Vorstellungswelt eine lebendige Rolle spielten. Andere Bilder befassten sich mit demselben Problem – wie man das scheinbar Unverbindliche verbinden kann.

Um dies zu verstehen, wollen wir uns kurz dem Gleichnis des Hermas zuwenden, eines christlichen Propheten, der um 140 n. Chr. in Rom tätig war. Bei einem Spaziergang auf seinem Bauernhof außerhalb Roms bemerkte Hermas einen Weinstock, der an einer Ulme hing. Die Rebe war fruchtbar. Die Ulme war tot. Er notierte:

„Ich denke über die Ulme und den Weinstock nach, dass sie hervorragend zueinander passen […] Dieser Weinstock trägt Früchte, aber die Ulme ist ein unfruchtbares Gewächs. Doch dieser Weinstock kann keine Früchte tragen, es sei denn, er klettert an der Ulme empor. Der Reiche hat viel Reichtum, aber in den Dingen des Herrn ist er arm, weil er von seinem Reichtum abgelenkt wird. Der Arme aber, der von den Reichen versorgt wird, legt für sie Fürbitte ein.“

Die Rabbiner sahen sich mit einer ähnlichen Gegenüberstellung von potenziell unversöhnlichen Gruppen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft konfrontiert. Diese gegensätzlichen Gruppen waren nicht einfach die Reichen und die Armen. Den talmudischen Gelehrten stand das unwissende gemeine Volk gegenüber – die ammei ha’aretz.

Ein anschauliches rabbinisches Sprichwort ähnelt dem Gleichnis von Hermas. Es spricht von den fruchtbaren und den unfruchtbaren Teilen des Weinstocks, um zu zeigen, dass jede der gegensätzlichen Gruppen in der jüdischen Gemeinschaft (obwohl sie in vielerlei Hinsicht weit voneinander entfernt sind) von der anderen abhängig ist:

„Dieses Volk ist wie ein Weinstock; seine Reben sind die Reichen, seine Trauben sind die Gelehrten, seine Blätter sind das gemeine Volk. […] Die Trauben sollen für die Blätter beten, denn ohne die Blätter könnten die Trauben nicht existieren.“

In beiden Fällen wurde das Bild des Weinstocks verwendet, um ein Ideal der organischen, fast unterschwelligen, symbiotischen Einheit zu beschwören. Materie und Geist, fruchtbarer Weinstock und unfruchtbares Holz, irdischer Schatz und Himmel (die normalerweise als gegensätzlich und sich gegenseitig ausschließend betrachtet werden) konnten ineinander übergehen. In den christlichen Gemeinden in Rom wie auch bei ihren jüdischen Nachbarn ging es nicht nur um die Frage, wie man sich um die Armen kümmern sollte, sondern auch um die Frage, wie man die Solidarität in einer Gemeinschaft aufrechterhalten konnte, in der die Armen nur einen (wenn auch hoch belasteten) Pol in einer kulturell und sozial differenzierten Gruppe darstellten.

Diese Beschäftigung mit der Solidarität und der Überwindung möglicher Spaltungen passt sehr gut zu dem, was wir über die soziale Zusammensetzung der christlichen Gemeinden in Rom wissen, an die sich Hermas gewandt hatte. Im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus waren die meisten Christen nicht reich. Die meisten betrachteten sich als Mittelmäßige – als respektable, mittelmäßige Menschen, die in großen Städten wie Rom und Karthago immer eine soziale Nische für sich gefunden hatten. Ihre Wohltätigkeit war nicht spektakulär. Sie war unauffällig und beschränkte sich tatsächlich auf Mitchristen. Die heidnischen Armen wurden kaum oder gar nicht bedacht. Vielmehr war die durchschnittliche „arme“ Person in den christlichen Gemeinden ein Glaubensbruder, der vom Pech verfolgt war.

Aus diesem Grund sollten wir der hochtrabenden Sprache der christlichen Schriftsteller und Prediger dieser und späterer Zeiten misstrauen. Sie wollten das christliche Geben als die Verbindung mächtiger Gegensätze darstellen. Ihre Sprache zeichnete eine fiktive Kluft zwischen Arm und Reich, die in Wirklichkeit eine sozial unauffällige und relativ ungeschichtete Gemeinschaft war. Für diese Autoren ging es nicht darum, die Massen zu ernähren, sondern darum, imaginäre Gegensätze innerhalb der christlichen Gemeinschaft zu beschwören, die nur durch christliche Nächstenliebe und christliches Gebet überwunden werden konnten.

Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass die Aufrechterhaltung des Solidaritätsgefühls in den christlichen Gemeinschaften weit mehr beinhaltete als den Umlauf von Geld. Rituelle Praktiken, die das Almosengeben mit intensivem Gebet für die (lebenden oder verstorbenen) Mitchristen verbanden, spielten eine noch zentralere Rolle für die Aufrechterhaltung der Solidarität unter den Christen als die Almosen an die Armen allein.

Die entscheidende Frage war, wie die Solidarität mit den Verstorbenen am besten zum Ausdruck gebracht werden konnte. Dabei war die Praxis des Fürbittgebets entscheidend. Das Gebet sollte die schmerzlichste aller Klüfte überbrücken – die letzte, kalte Kluft zwischen den Lebenden und den Toten. Eine Besonderheit in jüdischen und christlichen Kreisen war die Art und Weise, in der die Beziehungen zu den Toten eng an die Metaphern angelehnt waren, die mit der Vorstellung eines Schatzes im Himmel verbunden sind, der durch Almosen an die Armen angesammelt wird.

Almosen für die Armen wurden zu einem unverzichtbaren Bestandteil der christlichen Begräbnisfeiern und Gedenkmähler. Dies geschah nicht zuletzt deshalb, weil der Zustand der physisch Toten mit kühler Präzision den Zustand der sozial Toten widerspiegelte. Sowohl der Tote als auch der Arme waren Geschöpfe, die auf äußerste Hilflosigkeit reduziert waren. Bei­de waren auf die Großzügigkeit anderer angewiesen. Beide schrien danach, dass man sich ihrer in einer Welt erinnert, die sie nur allzu leicht hätte vergessen können. Die Toten oder die Armen zu vergessen, war religiösen Gruppen wie den Juden und den Christen doppelt zuwider, deren schlimmste Befürchtung es war, dass ihr Gott sie vergessen könnte.

Peter Brown ist emeritierter Professor für Geschichte an der Princeton University. Dieser Artikel stammt aus seinem Buch The Ransom of the Soul: Afterlife and Wealth in Early Western Christianity (Harvard University Press, 2015). Eine deutsche Fassung in der Übersetzung von Tobias Gabel ist erschienen unter dem Titel: Der Preis des ewigen Lebens. Das Christentum auf dem Weg ins Mittelalter (Philipp von Zabern, Darmstadt 2018).

Hier der Text als pdf.

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