Der Gottesknecht. Predigt über Jesaja 52,13-53,12
Von Rudolf Bohren
Am Anfang und am Ende unseres Textes hat der Gott Israels das Wort, sagt: „mein Knecht“ (52,13; 53,11) In der Mitte respondiert das Volk, sagt „unser“, sagt beispielsweise „unsere Krankheiten“. – Und nun feiern wir heute Karfreitag, damit wir in das Geschehen hineinkommen, das unser Text signalisiert: Der Anfang dieses Textes soll unser Anfang, seine Mitte unsere Mitte, sein Ende unser Ende werden.
I.
„Siehe“, sagt Gott heute zu uns und setzt einen Anfang. „Siehe“ macht sichtbar, was übersehen wird, was noch verborgen ist. Verborgen ist zur Zeit des Propheten der Knecht. Der hat keinen Namen, und die Ausleger diskutieren, wer gemeint sei: die Personifikation des Volkes Israel, ein Prophet wie Jeremia, Ezechiel oder Deuterojesaja, ein neuer Mose, ein messianischer Fürst. Es ist nicht mit Sicherheit auszumitteln, wen der Text ursprünglich meinte. – Der Knecht wird erst in Zukunft zu einem Namen kommen, und er bekam einen Namen, als Jesus in Bethlehem zur Welt und auf Golgatha zu Tode kam; aber das beginnt unwahrscheinlich mit einem Aufgesang: „Siehe, mein Knecht wird Glück haben.“ Bekannt ist uns der Name des Knechtes. Verborgen ist heute noch sein Glück: Das Glück des Knechtes, das Knechtsglück weltweit wird jetzt vom Gott Israels herausgestellt, plakatiert. Der Knecht wird Erfolg haben, emporsteigen, erhöht werden, so dass Völker ins Staunen geraten, „und Könige werden vor ihm ihren Mund verschließen.“ Die das Sagen haben, werden stumm. Das Glück des Knechtes wird ein herrscherliches, ein überwältigendes Glück sein.
Die ganze Welt wird am Glück des Knechtes beteiligt sein; denn letztlich soll das Glück des einen das Glück aller werden. – Aber noch ist das Glück des Knechtes nicht an die Weltöffentlichkeit gedrungen, noch blüht es verborgen, dieses Glück, sozusagen wie die Soldanelle unter dem Sulzschnee blüht. Aber es soll einmal sichtbar werden, unser werden. – Einmal soll ein „Sommertag“ kommen, der endgültig über die Kälte siegt.
Und dieser Tag ist der Tag des Knechtes. Der Tag des Staunens, der Tag, an dem die schweigen, die jetzt das Sagen haben: „Was ihnen nie erzählt ward, schauen sie, und was sie nie gehört, das werden sie gewahr.“ – Der Anfang ist gemacht. Seit dem Karfreitag ist der Anfang gemacht. Der Aufstieg des Knechtes ist nicht aufzuhalten, auch wenn die Grossen der Welt immer noch reden, als hätten sie das letzte Wort.
Station auf dem Weg zum Glück weltweit machen wir heute hier. Wir haben uns versammelt, weil der Erfolg, der Sieg des Knechtes weitergeht. Station auf dem Weg dahin, wo der Schnee endgültig schmilzt und das Blühen nicht aufhört. So wird der Anfang unseres Textes zu unserem Anfang, dass wir ja sagen zum Aufstieg des Knechtes, ja sagen zu seiner Zukunft. Auf diese Weise macht der Knecht heute schon sein Glück. Noch ist dieses Glück verborgen; aber es kann nicht verborgen bleiben.
Die Soldanelle, die unter dem Schnee schon wächst, bildet oftmals eine Höhle, eine Mulde unterm Schnee. Um ihr Blau herum blüht schon die neue Zeit.
Wir feiern den Karfreitag, damit wir nicht länger mit unseren Neurosen und Zweifeln, mit unserem Gegenglück allein bleiben, damit eine neue Zeit um uns sei und wir Christenmenschen miteinander den Kältemantel aushöhlen, der noch die Erde bedeckt. Wer dem Knecht recht gibt, der ist schon gleichsam eine Soldanelle, eine blaue Blume, ein Geschöpf auf Zukunft. – Dazu sind wir jetzt als Gemeinde versammelt, damit etwas blüht in Gottes Zukunft hinein.
Ich kann auch sagen: Wer dem Knecht recht gibt, wird selber zum Knecht, wird den Aufstieg des Knechtes teilen. Wo der Knecht hinkommt, soll auch der hinkommen, der dem Knecht recht gibt.
II.
Und da wird die Mitte unseres Textes unsere Mitte, da werden wir einstimmen ins Responsorium des Volkes. Noch hat der Knecht kein Glück. Da wird zunächst nichts sichtbar von blauer Blume und neuer Zeit und Gottes endgültigem „Sommertag“.
Unglaublich, der Unscheinbare, der Unansehnliche, Unattraktive, dieser Knecht: Im Tiervergleich wird von ihm gesprochen, orientalisch vom Schaf bei seinem Schlächter und Scherer. Im Pflanzenvergleich von Senkreis und Wurzelschorn aus dem Dürregebiet. – Da ich vermute, dass die meisten von uns im Umgang mit Schafen wenig Erfahrung haben und wenig Anschauung von der Botanik des Propheten, lasst mich aus der Nähe berichten, von einem Kirschbaum, dessen Passion ich seit dem letzten Jahr vor Augen habe.
Im letzten Jahr bin ich ihn oft gegangen, einen Rebweg bei Dossenheim. Asphaltiert und über ihm, am Rande des Wingerts, der Baum. Über dem Asphalt trug er Früchte. Gegen die Reben zu ist er dürr geworden. Blätter wurden gelb, Früchte verdorrten, bevor sie reiften. Der Rebbauer wollte das Unkraut vernichten, chemisch, versteht sich, und da traf es den Baum. – Gestern sah ich ihn wieder. Das dürre Geäst weggeschnitten. Verstümmelt hob er die verbliebenen Äste hilfesuchend über den Asphalt. Der Winzer wird weiter Gift streuen, der Baum auf Raten sterben. – Was sind das für Zeiten, da der Asphalt einem Kirschbaum Schutz gewährt?
Immer wollen wir als redliche Winzer Unkraut vernichten, und der Unschuldige muss leiden. Das Gift, das wir spritzen, trifft immerfort auch den Kirschbaum – und wir zucken die Achseln. „… ihn aber ließ der Herr treffen unser aller Schuld. Er ward misshandelt und beugte sich und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt“ (6b-7).
Was ist das für ein Gott, der den Gerechten mit Gift tränkt, ihn der Verstümmelung aussetzt? Was ist das für ein Gott, der unerbittlich schlägt, den, der ihm dient? – Er liebt die Bestie Mensch, liebt den, der seinen Kirschbaum vergiftet.
Es mag uns altertümlich anmuten, dass im Lied vom Gottesknecht von Stellvertretung und Satisfaktion die Rede ist, vom Leiden für uns. – Das passt so gar nicht zu dem Gott, den wir uns nach dem Bilde unserer verlogenen Harmlosigkeit und nach der Vorstellung unserer harmlosen Verlogenheit von Gott machen. Er liebt genau. – Der Gott, der den einen unser aller Schuld treffen lässt, passt nicht in unserer Vorstellung, passt aber in unserer Wirklichkeit, in der wir immerfort damit beschäftigt sind, einem andern Schuld anzulasten.
Da liegt ein Mann in der Nacht und redet stumm vor sich hin. Am Vormittag hat ihn einer beleidigt, verleumdet, und nun kann er nicht schlafen, weil er seinem Gegner die Schuld vorrechnen muss. – Wenn einer die Anklagen, Verurteilungen, die wir alle schon über Menschen gefällt haben, aufschreiben und vorlesen wollte, der würde nicht fertig mit Schreiben und Vorlesen. Die Zeit würde ihm lang, die Zeit würde zur Ewigkeit und die Ewigkeit zur Hölle.
Friedrich Dürrenmatt hat kürzlich über Israel geschrieben, was allgemeine Gültigkeit hat für die Konflikte unter den Völkern und zwischen den einzelnen: „Dem Kampf einen Sinn zu geben, ist leicht, weil wir uns vorlügen, dieser Sinn des Kämpfens liege im Frieden; mit dieser Lüge legen wir den Sinn in ein Ziel außer uns, wir legen es in unseren Gegner und damit ins Unerreichbare, denn auch wenn wir den Gegner erlegen, steht gegen uns ein neuer Gegner auf, den Erlegten zu rächen, den wir, um nicht seiner Rache zu erliegen, wieder erlegen müssen. So schieben wir den Frieden vor uns her, statt ihn zu erreichen.“
Den Frieden erreichen wir da, wo wir zum Knecht kommen. Der kämpft nicht für den Frieden. Der leidet in allen Höllen und stirbt an unseren Anklagen, damit wir aufhören mit Vorrechnen, damit wir den Frieden nicht länger vor uns herschieben, sondern ihn erreichen. „Aber dem Herrn gefiel es, ihn mit Krankheit zu schlagen. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer einsetzte, sollte er Nachkommen sehen und lange leben und die Sache des Herrn durch ihn glücken“ (10).
III.
Am Ende unseres Textes kommt es nochmals zur Gottesrede. Der Knecht bleibt nicht in den Höllen, bleibt nicht unter den Anklagen liegen. Und nun soll deutlich werden, dass er sein Glück mit uns teilt; was er erreicht, schanzt er uns zu: „… durch seine Erkenntnis wird er, der Gerechte, mein Knecht, vielen Gerechtigkeit schaffen, und ihre Verschuldungen wird er tragen“ (11b).
Das Neue Testament hat uns nicht nur den Namen des Knechtes genannt, es hat uns auch dessen Zukunft erneut angesagt. Der Karfreitag leitet einen „Sommertag“ ohnegleichen ein. So legt der Hebräerbrief unseren Text aus: Nachdem Christus einmal geopfert worden ist, um die Sünden vieler hinwegzunehmen, so wird er zum zweiten Mal erscheinen, denen, die ihn zum Heil erwarten (9,28). Die allseits beliebte und langweilige Sünde ist für die kein Thema mehr, die auf ihn warten. Sie ist abgenommen.
Irdisch, auffällig profan ist hier vom Kommenden die Rede. Er soll erben unter den Grossen, also Macht übernehmen. Mit Starken soll er Beute teilen, also nicht allein sein. – Es passt wiederum nicht in das Bild, das uns die kirchliche Tradition von der Zukunft des Gekreuzigten vermittelt, dass er hier im Verein mit den Grossen und Starken erscheint, ganz und gar menschlich, ich möchte fast sagen, kollegial. Der bei den Gottlosen beerdigt wurden, soll die Grossen beerben. Der Gestaltlose bekommt ihre Statur. Der Verachtete steht jetzt neben den Starken. Die Grossen und Starken tragen das Ihre bei zum Glück des Knechtes. „Darum soll er erben unter den Grossen und mit Starken soll er Beute teilen.“
Der, den man kaputt machte, kommt nicht als Kaputtmacher. Der liquidiert wurde, kommt nicht zum Liquidieren. Was Gott zu Anfang unseres Textes verheißt, wird am Schluss bestätigt: „Siehe da, mein Knecht wird Glück haben. „Und wir sind hier versammelt, damit sein Glück unser Glück werde.
Und nun gehen wir hinaus in den Karfreitag, in einen Tag, an dem voraussichtlich Menschen sinnlos zu Tode gefahren werden. – Noch klagen die Menschen einander an, rechnen einander ihre Schuld vor. Aber unter dem Schnee blüht die Soldanelle. – Noch schieben die Menschen den Frieden vor sich her. Aber ein verkrüppelter Kirschbaum, zum Sterben in Raten verurteilt, blüht über dem Asphalt. Allem Gift zum Trotz. – Noch ist der Knecht nicht wieder sichtbar. Noch ist sein Glück verborgen. Aber es kommt ein „Sommertag“ ohnegleichen, der Tag Jesu Christi. Ihm gehen wir entgegen, wenn wir heute auseinandergehen.
Du Knecht aller Knechte, es wird Zeit, dass sichtbar wird, was du am Karfreitag vollbracht, dass dein Sieg sich durchsetzt in aller Welt.
Du Knecht aller Knechte, es wird Zeit, dass du aus deiner Verborgenheit heraustrittst. Mach du dein Glück mit uns, dass wir als deine Gemeinde auf deinen endgültigen Sieg hin leben und dich groß machen in einer Welt, die Bäume vergiftet und Völker vernichtet, weil du ihr gleichgültig bist.
Da du unser Knecht geworden bist, lass uns dir dienen als die Freien. Da du uns Gerechtigkeit bringst, mach uns unbesorgt um uns selbst, und lass uns hoffen auf deinen endgültigen Sieg.
So bitten wir für die wissenschaftliche Arbeit an unserer Universität, dass sie etwas sei für deine Zukunft.
So bitten wir für die Völker im Nahen Osten, dass sie deinen Frieden finden.
Auch um der Kranken und Sterbenden willen bitten wir dich, du Knecht aller Knechte, mach sichtbar, was du am Kreuz vollbracht hast!
Gehalten am 16. April 1976 in der Peterskirche zu Heidelberg.
Rudolf Bohren, Trost. Predigten, Neukirchen-Vluyn 1981, 56-63.