Karl Rahner, Karsamstag: „Der Gestorbene ist der Abgeschiedene, der Schweigende, der Ferne. Er ist nicht gegangen, weil er irgendwo anders und in anderer Weise sein wollte. Das zwar auch. Aber er ist dadurch auch in Wahrheit der geworden, der dem entrückt ist, worin allein er ganz er selbst und vollendet sein kann: der Welt, der eigenen Leibhaftigkeit, der Konkretheit seines Lebens.“

Karsamstag

Von Karl Rahner

Wenn wir an den Karsamstag denken, können wir eine seltsame Beob­achtung machen: in unserem religiösen Leben überspringen wir ihn. Wir feiern Karfreitag und Ostern, das Sterben und das Auferstehen des Men­schensohnes, der unser Heil ist. Das, was zwischen diesen beiden Tagen ist, nämlich den Karsamstag, übersehen wir. Er bedeutet nichts in unserem religiösen Leben, im Katechismus unseres Herzens. Und doch steht nicht nur im gedruckten Katechismus etwas über diesen Tag. Wir selbst bekennen jedesmal, wenn wir das Apostolische Glaubensbekenntnis, die älteste und heiligste Formulierung unseres Glaubens, beten: abgestiegen zu der Hölle. Und das ist das Wort, das zum Karsamstag gehört, das Wort, das seinen Inhalt aussagt. Wenn, so könnten wir sagen, in diesem ganz kurzen Glau­bensbekenntnis von ein paar wenigen Zeilen nicht nur Gott und dem ewigen Leben, nicht nur dem Herrn und seiner Kirche, nicht nur dem Karfreitag und dem Ostertag ein eigenes Bekenntnis geweiht ist, sondern auch dem Kar­samstag, dann bräuchte doch wohl der Karsamstag in unserem religiösen Leben nicht nur so etwas wie eine Pause sein zwischen zwei großen Tagen des Gedächtnisses an das Ereignis unserer Erlösung. Dieser Karsamstag könnte seinen eigenen Inhalt und sein eigenes Gewicht in unserem Leben haben. Er müßte gefeiert werden als die heilige Anamnese, das heilige Gedächtnis an die Wirklichkeit, die wir bekennen, wenn wir sprechen: abgestiegen zur Hölle.

Aber was meinen wir denn mit diesem Bekenntnis? Und warum könnte das, was wir damit sagen, nicht nur das Vergangene sein, woran als schon längst Vorübergegangenes wir uns gerade noch erinnern, sondern etwas, das weiterwirkt in unserem Leben, weil wir auch in dieser Hinsicht noch das Le­ben und Sterben des Herrn weiterzuleben haben, bis alles vollendet ist?

Wenn wir die Glaubensüberzeugung der alten Kirche, angefangen vom Neuen Testament bis zum fünften Jahrhundert, in dem dieses Wort vom Niederstieg Christi ins Totenreich in die westliche Form des Apostolikums aufgenommen wurde, betrachten, die Glaubensüberzeugung, die sich ge­rade in diesem Wort von der Hadesfahrt Christi niedergeschlagen und ver­dichtet hat, dann können wir zweifellos sagen: es sind zwei Gedanken in die­sem Wort auf jeden Fall ausgesprochen und durchdringen sich gegenseitig: Jesus ist wahrhaft gestorben und zwar den Tod, der erst unseren Tod erlöste; und (zweitens) dieser Tod war die befreiende Erlösung der Menschen, die seit Beginn der Menschheitsgeschichte, obzwar als Gerechte und Gerettete, gestorben waren und noch der Vollendung ihres Heiles entbehren mußten, bis in Christus die Vollendung des Heiles geschehen war. Von diesen beiden Wirklichkeiten, die in dieser einen Glaubensaussage gemeint sind, wollen wir, weil für uns die entscheidendere, nur die erste ein wenig erwägen.

Abgestiegen zur Hölle, oder genauer und deutlicher übersetzt: abgestiegen in das Totenreich, besagt also zunächst einmal: Jesus ist wahrhaft gestorben. Wenn Petrus in der Apostelgeschichte (2, 22-36) in seiner großen Pfingst­predigt sagen will, wer Jesus war und was in seinem Dasein geschehen ist, wenn er also sagen will, daß er der Getötete und der Auferstandene ist, dann formuliert er seinen wahrhaften und wirklichen Tod dadurch, daß er sagt, der Tod habe Jesus gehalten wie in Banden, er sei umfaßt gewesen vom Hades, wie Lukas das hebräische Wort von der Scheol, dem Totenreich der jüdischen Theologie, übersetzt. Für die jüdische Anthropologie kam der Gestorbene, weil er trotz des Todes im Tod weiterlebte, ins Totenreich, an einen „Ort“, wenn wir dieses unvorstellbare Im-Tod-weiter-leben „Ort“ nennen wollen. Die fromme Theologie zur Zeit Jesu hat sich diese Daseins­weise je nach dem Erdenleben der Gestorbenen abgewandelt und sehr ver­schieden — und das mit Recht — gedacht, wie wir z. B. aus der Erzählung Jesu vom armen Lazarus und dem reichen Prasser erkennen können. Aber ein Reich, ein Zustand umfaßt doch alle Toten, eben die Scheol, das Toten­reich. Wenn also Petrus sagen wollte, Jesus sei wahrhaft gestorben, dann konnte er das gar nicht anders tun als dadurch, daß er bekannte: Jesus ist in das Totenreich, die Scheol, den Hades niedergestiegen. Und daran denkt wohl auch Paulus, wenn er sagt, es müsse einer in den „Abgrund“ hinab­steigen (Röm 10, 7), wenn Christus „von den Toten heraufgeführt werden“ solle, er sei ja „in die untersten Teile der Erde hinabgestiegen“ (Eph 4, 9 f), so wie Jesus selbst gesagt hatte, daß er drei Tage und Nächte „im Herzen der Erde“ sein werde (Mt 12, 40).

In diesen Ausdrücken ist zweifellos ein bildliches Element enthalten. Die Toten sind ja nicht an einem Ort, der am Mittelpunkt unserer physikalischen Erde wäre, sie sind nicht an einem Ort, den man in der Räumlichkeit unse­rer Anschauungswelt einordnen müßte. Die Scheol nimmt keinen Punkt im Koordinatensystem unserer Physik ein; nicht darum, weil es dieses Totenreich nicht gäbe oder gegeben habe, sondern weil es von seinem eigenen We­sen her zu dieser unserer endlichen Anschauungswelt unvergleichbar (inkom­mensurabel) ist. Aber man würde der Aussagefülle der zitierten Worte doch nicht gerecht, wollte man in ihnen nur in dem Sinn eine Aussage über den Tod Jesu sehen, daß in ihnen vom Sterben und nicht auch vom Gestorbensein die Rede wäre. Diese Worte blicken ja ganz deutlich über den Vorgang des Sterbens hinüber auf die Tatsache des Gestorbenseins. Sie geben uns also die Aufgabe auf, uns mit ihrer Hilfe zu fragen, was es heißt, wenn wir sagen: es gab nicht nur ein Sterben Jesu, sondern auch ein Gestorbensein, er war nicht nur der Sterbende, sondern er ist auch der Gestorbene gewesen.

Aber was sagt denn dieses Gestorbensein, dieses Totsein, das als neue Aussage zu dem Sterben hinzutritt? Wenn wir dies einigermaßen zu sagen versuchen, dann ist es unerheblich, ob die eine oder andere Aussage eigent­lich doch zunächst mehr vom Sterben, die andere mehr vom Totsein gilt, denn eine Aussage vom ersten ist wenigstens mittelbar auch eine vom zwei­ten. Der Gestorbene ist der Abgeschiedene, der Schweigende, der Ferne. Er ist nicht gegangen, weil er irgendwo anders und in anderer Weise sein wollte. Das zwar auch. Aber er ist dadurch auch in Wahrheit der geworden, der dem entrückt ist, worin allein er ganz er selbst und vollendet sein kann: der Welt, der eigenen Leibhaftigkeit, der Konkretheit seines Lebens. Zwar will er das alles nicht mehr so haben, wie es war, unverklärt und hinfällig. Aber er will darum doch nicht der gespensterhaft Geistige sein. Er mag in dieser sei­ner Geistigkeit sehr vollendet sein (wenigstens Jesus war es, der in der Tiefe seines Geistes in der absoluten Nähe zu dem unendlichen Gott lebte). Aber darum ist ein solcher Geist, fern dieser Welt und seiner Leibhaftigkeit, doch nicht einfach vollendet. Er ist wie ein Same, der zur Fülle von Blüte und Frucht aufwachsen will, wie die Idee eines Künstlers, die nach der anschau­lichen Gestalt verlangt, in der allein sie wirklich zu sich selbst kommt. Der Gestorbene und Noch-nicht-Aufer­standene ist lebendig, aber er ist in einer wesentlichen Dimension seines Wesens wie die bei sich seiende Verwehtheit und antlitzlos gewordene Ferne. Er hat alles, ja alles ist näher und unver­stellter da, er ist dem „Herzen“ der Welt, dem inneren Kern aller Wirklich­keit näher als je, ja erst jetzt eigentlich nahe, aber all dieses Ganze und Nicht-mehr-Trügerische ist doch wie das Entzogene da, ist doch wieder wie durch eine unsichtbare Wand getrennt, stumm, so daß der Tote alles daran erleidet, aber ausgeschlossen ist von der tatvollen Möglichkeit, es an sich zu nehmen und in ihm sich selbst leibhaftig auszudrücken. Was wir von un­serer Seite an den Toten erfahren, eben dasselbe erleben auch sie (wenn auch das nicht allein) von der andern Seite: alles ist wie von unendlicher Ferne, alles ist da, aber wie unwirklich geworden, ferngerückt und wie tot, man ist wie von einer unendlichen Einsamkeit verschluckt, sich selbst überlassen und sich selbst zugleich fremd, ausgesetzt in das Totsein, das selber ist.

Wir wissen, daß dadurch nicht alles gesagt ist, was von den Toten gesagt werden muß, es ist auch selbstverständlich, daß das Gestorbensein Jesu noch ganz andere Dimensionen hatte, da er der Tote in unendlicher Gottesnähe und der Tote war, der den Tod besiegt. Aber er war eben doch auch der Ge­storbene und seine Auferstehung bedeutet nicht nur für uns, sondern auch und zuerst für ihn ein Ereignis, das ihm Neues gibt, dessen er als Toter ent­behrte. Und so wenig wir somit ihn am Karsamstag bloß als den Toten be­trachten dürfen, er war doch wirklich und wahrhaft der Gestorbene. Und er hat so gekostet, was unser Totsein bedeutet. Er ist in dieses Totsein abge­stiegen, er hat das Unterste des Menschseins, das Letzte seines bodenlosen Absturzes erlitten; da er sich fallen ließ, sich aufgebend, in die Hände seines Vaters, erfuhr er zunächst einmal dieses Kommen in das Geheimnis dieser ewigen Liebe wie einen namenlosen Sturz in die Finsternis des Todes, in das wahrhaftige Totsein. Gerade weil er der unsagbar Lebendige war, empfand er notwendig die Unleiblichkeit seines Totendaseins abgründig als das Zu- Überwindende, als das Unnatürliche, mußte er mehr als jeder andere sich dadurch ausgeschlossen empfinden von dem, was er sein mußte und wollte: der in höchster Konkretheit Lebendige. Er, der der Grund der Verklärung der Welt ist, und zwar in dem geschaffenen Grund seines menschlichen Da­seins in dessen ganzer Fülle und Breite (welchen Grund des leibhaftigen Daseins wir Seele nennen), war durch den Tod in den Tod gestoßen, dort­hin also, wo keine lichte und deutliche Leibhaftigkeit ist und darum auch die „Seele“ nicht so ist, wie sie sein will. Er war im Tod. Er hat zwischen dem Sterben des Karfreitags und dem Leben von Ostern wirklich und wahrhaft seinen Karsamstag. Abgestiegen in das Totenreich, bekennen wir ihn.

Tod und Leben sind nicht einfach unvermischt hintereinander liegende Ereignisse im Leben des Menschen. Sie durchdringen sich. Wir sterben im ganzen Leben und was wir Tod nennen, ist das Ende eines lebenslangen Sterbens. Und darum erleiden wir dauernd schon den Vorgeschmack jenes Abstieges, den der Herr auf sich genommen hat. Ist es nicht manchmal, als lege sich zwischen uns und die Dinge eine unendliche Ferne, schweigend und trennend? Werden wir nicht langsam die Abgeschiedenen? Nehmen wir nicht immer wieder aufs neue Abschied? Verwandelt sich nicht immer mehr das Vertraute in das fast gereizt Fremde und Abweisende? Ach, man steigt nicht erst in jenen Augenblicken, die wir Tod nennen, um uns zu verheh­len, daß wir ihn jetzt schon sterben, in das Untere ab, wir werden nicht erst in jenem Augenblick in das „Herz“ der Welt zurückgenommen, das uns zu­nächst wie ein finsterer Abgrund vorkommt. Es hat dieser Abstieg, diese Nie­derfahrt schon immer begonnen. Wenigstens wie in einer leisen Gestimmtheit, die auf dem Grund des Daseins west. Und darum können wir mit dem Herrn wahrhaft Karsamstag begehen, sein Schicksal jetzt schon teilen. Und — im Glauben wissen, daß sein Karsamstag unseren erlöst und geheiligt hat. Unser Karsamstag von sich allein her wäre nur das lebendige Totsein. Seit er ihn erlitten und ihn erlöst hat, ist er der Tag, der in seinem harrenden Schweigen das ewige Leben birgt. Denn seit Er nieder­gefahren ist in das Unterste, gibt es keinen Abgrund des Daseins mehr, in den hineingestürzt man nicht das ewige Leben auf seinem Grund finden könnte. Denn also steht geschrieben: der hinabstieg, ist es auch, der über alle Himmel hinaufstieg, um das All zu erfüllen (Eph 4, 10).

Geist und Leben 30 (1957), S. 81-84.

Hier der Text als pdf.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s