Gerhard Sauter, Was dürfen wir hoffen? Perspektiven christlicher Eschatologie: „Gewissheit der Auferstehung kann auch heißen: Wir hoffen auf Gott, der uns ins Leben gerufen hat, uns sterben lässt und der uns als Werk seiner Hände nicht preisgibt. Wir hoffen auf Jesus Christus, mit dem unser Leben in Gott verborgen ist. Wir hoffen auf den Heiligen Geist, der unser verborgenes Leben offenbaren, es in all seinen Verflechtungen und Verwicklungen klären und in eins damit unser gelebtes Leben vollendend gestalten wird. Wir hoffen als diejenigen, deren Namen Gott in seine Hände geschrieben hat, weil er unser ewiglich gedenken will.“

Was dürfen wir hoffen? Perspektiven christlicher Eschatologie

Von Gerhard Sauter

Unsterblichkeit?

„Was darf ich hoffen?“: so lautete die dritte der Grundfragen Immanuel Kants, und er meinte, es stehe „der Religion“ zu, jene Frage zu beantworten.[1] Wie viele seiner aufgeklärten Zeitgenossen nahm er an, die religiöse Antwort werde das Postulat der Unsterblichkeit entfalten: als einen Grundsatz, der all unser Tun und Lassen leitet und unser Denken ausrichtet. Mit ihm wird die Verantwortung für unsere Handlungen nicht unserer naturhaften Verfassung überlassen, zu der auch das Sterben zählt. Vielmehr ist sie an unsere Entscheidungsfreiheit gebunden, die einer anderen Dimension angehört, welche nicht durch physische Lebensbedingungen eingeschränkt wird. „Unsterblichkeit“ eröffnet die Aussicht auf eine Grenzüberschreitung, die alle bisherigen hinter sich lässt, eine ungeahnte Horizonterweiterung des Ich jenseits des Diesseits, eine unaufhörliche und unbeschränkte Entdeckungsreise der Seele, des unantastbaren Kerns meiner selbst, oder wie die Gewähr menschlichen Fortlebens „über den Tod hinaus“ sonst noch bezeichnet werden mag. Eine solche Antwort kann, wie Kant überzeugt war, weder von der ersten Grundfrage „Was kann ich wissen?“ noch von der zweiten „Was soll ich tun?“ erreicht werden. Was unserem Wissen verschlossen bleibt, was wir nicht durch unser Handeln bewirken können, und was wir, wie alle Lebewesen dem Werden und Vergehen unterworfen, nicht zu bewahren vermögen: dies alles soll durch Religiosität ausgeglichen werden. Sie hält sich an ein Sinnversprechen, das meiner Existenz auch über die Schwelle des Todes hinweg hilft und so schon mein Leben angesichts des Todes trägt.

Das Postulat der Unsterblichkeit soll erklären, wie vernünftig gehofft werden kann, um verantwortlich zu leben. So hat es für viele seine Überzeugungskraft bis heute nicht eingebüßt, auch in verschiedenen Transformationen und alltagssprachlichen Abschwächungen. Es bestärkt das persönliche Ich in der Erwartung, im Sterben nicht enden zu müssen, sondern den Tod zu überdauern – auch wenn alles, was den Menschen als endliches Wesen prägt, unwiderruflich zu leben aufhört. Was aber diesem Ich mit seiner Hoffnung geschehen wird, kann das Unsterblichkeitspostulat nicht sagen wollen. Doch gerade danach wird gefragt, zumal von Schwerkranken und Sterbenden: „Was wird mit mir geschehen?“ „Was wird ‚dann‘, ‚nachher‘, mit mir sein? Gibt es ein ‚Dort‘, wohin ich komme – oder wohin ich wie hinweggeschleudert werde?“ „Werde ich wiedersehen, die vor mir dahingegangen sind, und wie werde ich sie wiedererkennen? Auch die, welche ich um keinen Preis wiedersehen möchte? Und irgendwann alle, die jetzt noch leben und die ich bald verlassen muss?“ Andere, die von ihrem Ableben sprechen, welches sie einzig und allein als Ende ansehen, das sie in den Kreislauf der Natur entlässt, mögen dennoch im Ernstfall fragen: „Ist mit dem Tode vielleicht doch nicht alles aus und vorbei? Könnte im Sterben womöglich mit mir geschehen, was mich nicht nur völlig auslöscht, sondern das ich auch wirklich noch erlebe – und was könnte das sein? Wie kann ich es bestehen?“ Es sind zumeist formelhafte Fragen, die vielleicht manchem abgedroschen erscheinen und die sich oft mit Bildern erhoffter oder befürchteter künftiger Zustände verbinden. Aber wie schwer fällt es, hier überhaupt Worte zu finden, gar die rechten! Der Schriftsteller Willy Kramp schreibt im Gedanken an seinen todkranken Bruder:

Schwer zu entwirren ist das Verhältnis zwischen der Existenz eines Menschen und den Worten, die er gebraucht, um das Innerste dieser seiner Existenz zu artikulieren. Darum muß man auch in die „Klischees“ aufmerksam hineinhören.[2]

Zu solchen Klischees gehört die Annahme, „das Leben nach dem Tode, jenseits des Todes“, sei eine Art Fortsetzungsgeschichte des Lebens vor dem Tode, auf höherer Stufe und unter idealen Bedingungen. Oder „dort droben“ werde alles ausgeglichen, was zeitlebens abgebrochen, beschädigt und zerstört wurde; denn sonst bliebe ja unbegreiflich, warum wir uns immer wieder so das Rechte, dauerndes Glück, Vollendung ersehnen. Oder ich sei dann besser in der Lage, mein Leben irgendwie zu bereinigen, weil ich dann vieles mehr überblicke und durchschaue, was ich bisher übersah oder was mir unzugänglich blieb. Womöglich geht aber die Sehnsucht dahin, endlich ewige Ruhe zu finden, nicht mehr gestört zu werden, weder vom eigenen Gewissen noch gar von Gott!

Wer Äußerungen von Sterbenden hören, ja in sie hineinhören will, muss vor seinen eigenen Stereotypen auf der Hut sein. Was er, vielleicht nur gestammelt oder phrasenhaft, vernimmt, darf er – gerade als Seelsorger oder Seelsorgerin – nicht durch vorschnelle Antworten niederschlagen. Theologische Radikalität, „Auferstehung der Toten“ als Handeln Gottes aufs schärfste mit menschlicher „Unsterblichkeit“ kontrastiert, ist hier fehl am Platze, auch wenn falscher Trost vermieden und irreführende Vorstellungen abgewiesen werden sollen. „Unsterblichkeit“ wird dann auf die Fortdauer menschlicher Individualität reduziert, die Kontinuität beanspruchen will. Die Auferstehung der Toten – so heißt es dann im Rahmen dieser rigorosen Alternative – setze den völligen Abbruch menschlicher Existenz voraus. Von einer solchen überzogenen Radikalität können Signale ausgehen, die die Botschaft vermitteln: „Mit dem Tode ist alles aus“, jedenfalls alles, was Menschen sind, was sie an sich haben und mit sich bringen. So kann Todesangst verstärkt und können Psychosen ausgelöst werden, statt dass zum Sterben bereitet wird. Und den Angehörigen wird vermittelt: „Die Toten sind tot – wenden wir uns also dem Kummer über euren Verlust zu und begleiten euch bei eurer Trauerarbeit!“

Auch wenn so behutsam wie möglich auf Äußerungen Todkranker und Sterbender eingegangen und zu erschließen versucht wird, was ihren Vorstellungen und bildhaften Erwartungen oder ihrer Skepsis und nackten Verzweiflung zugrunde liegen könnte, stellt sich oft Sprachlosigkeit ein. Hinter ihr steht die Verlegenheit, Glaubwürdiges zu sagen, oder die Scheu, Hoffnung zu bezeugen, ja, „Rechenschaft über die Hoffnung zu geben, die in euch ist“ – eine Rechenschaft, die jedem Christenmenschen abgefordert wird (1. Petrus 3,15). Doch dies setzt voraus, dass die Frage, was ich (noch) hoffen darf oder was ich nicht zu erhoffen vermag, zur Frage „Was dürfen wir hoffen?“ wird: zur Frage, die mitgetragen werden will, außer von Seelsorgern auch von Angehörigen, Ärzten und Pflegenden, je auf ihre Weise, und sei es unausgesprochen. Sie bringen damit ihre Geschichten ein, ihre Erfahrungen mit Wissen und Tun, die Widerfahrnisse, die ihre Erwartungen geweckt, genährt oder aber sie erschüttert haben. Sie tragen auch mit, was Todkranke und Sterbende verfügten oder jetzt noch selbst bestimmen können. Nur so können sie Sterbende nicht allein lassen – und sie zugleich nicht vor ihrem Alleinsein bewahren wollen, das unweigerlich zum Sterben gehört, weil jeder für sich selber sterben muss, unvertretbar. In dieser Lage sprachfähig zu werden, können letztlich weder reiche Lebenserfahrung noch fachliche Kenntnisse, weder Mitgefühl noch Überzeugungstreue gewährleisten, so hilfreich dies alles ist. Doch theologische Markierungen vermögen zu helfen, die rechten Worte zu finden, auch wenn sie sie nur vorbereiten – oder eine Fürbitte zuzusagen, über ein Beistandsversprechen hinaus, und notfalls nur noch wortlos zu kommunizieren.[3]

Bei der Begleitung Sterbender – ebenso wie der Lebenden – wird sich früher oder später zeigen, dass auch die Frage „Was dürfen wir hoffen?“ noch zu unbestimmt ist. Denn sie nötigt zu fragen, worauf wir uns verlassen können. Ist es die unverletzliche Würde, die uns Menschen auszeichnet, die auch Sterbende einfordern dürfen und um deren Wahrung sich manche Sterbebegleitung bemüht, vielleicht sogar ausschließlich kümmert? Ist sie das „Alleinstellungsmerkmal“ des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen? Mit ihr wird so vieles verbunden: Willensfreiheit, Selbstbestimmung, Wissen um mich selbst, mit dem „ich“ in meinem Gedächtnis meine Vergangenheit zu überblicken suche, und intentionale Vorgriffe, mit denen ich mich in die Zukunft hineindenke. Diese persönliche Wesenseinheit bildet ungeachtet aller physischen Veränderungen und psychischen Wandlungen gleichsam den roten Faden, um den ich die verschiedenen Stränge erlebten Lebens miteinander verwebe – und hoffe, weiterhin verknüpfen zu können.

Wie wird Menschsein angesehen – mit welchen Folgen für Leben und Sterben? Um die Antwort darauf wird heute gestritten, politisch wie in den Wissenschaften, die sich um das Studium des Menschen bemühen und ihn erforschen. Es ist ein Kampf, der manchmal sogar subtil am Krankenbett und auf Intensivstationen ausgetragen wird – auch dann, wenn Ärzte sich hauptsächlich darum kümmern, ob ihre Patienten medizinisch und rechtlich korrekt verscheiden. Zwar ist dies angesichts der wachsenden medizintechnischen Möglichkeiten und zunehmend restriktiver Vorschriften durchaus begreiflich. Wo und wie aber findet die Frage: „Wie kann ich gut sterben?“ noch Gehör – „gut“ nicht (nur) im Sinne von würdig oder selbstverfügt, sondern dass es mir und anderen zugute kommen kann. Denn der Tod ist ein Geschehen, das leibhaft alle ergreift, denen er nahe kommt.

Sofern mit „persönlicher Identität“ oder mit anderen Kennworten für Menschenwürde die Sonderstellung des Menschen ausgedrückt wird, soll dies uns davor bewahren, lediglich nach unseren organischen Funktionen (Hirntätigkeit, Kreislauf, Atem, Nervensystem, Stoffwechsel) beurteilt zu werden. Wenn menschliches Ableben nur physiologisch definiert wird – als völliger Ausfall aller Gehirnfunktionen oder als Ergebnis organischer Selbstzerstörung –, soll dagegen in Stellung gebracht werden, dass jeder einzelne von uns eine Person ist, deren Identität als unverwechselbares Ich oder, subjekttheoretisch gesagt, deren „Subjektstatus“ sich solchen Feststellungen entzieht. Über das Geheimnis meines eigenen Todes kann kein Außenstehender befinden.

Wir wissen nichts vom Tod, nichts als die eine Tatsache, daß wir „sterben“ werden – aber was ist das, sterben? Wir wissen es nicht.[4]

Mehr und mehr unserer Zeitgenossen sind überzeugt, dass sie sich mit der Erfahrungstatsache abfinden sollten, dass wir sterben müssen – und zwar so abfinden, dass sie dies als das letzte Wort über ihr Leben ansehen. Sie brauchten dann nichts mehr als dies zu wissen: „Der Mensch stirbt wie ein Tier, nur dass er weiß, dass er stirbt wie ein Tier.“ Mit solchem Wissen könnte, wenn das Lebensende naht, durchaus mit Würde auf das gelebte Leben zurückgeblickt werden, auch wenn dieses Leben mehr schlecht als recht verbracht wurde.

Aber für diese Würde hängt Entscheidendes davon ab, wie „ich“ mit meinem gelebten Leben letztendlich zurechtkomme. Je beruhigender die Bilanz ausfällt, die ich ziehen kann, desto gelassener vermag ich mich allmählich davon zu lösen und Abschied zu nehmen. Im Rückblick können auch Verluste verblassen, manche Enttäuschungen werden unwichtig oder erscheinen durch Gelungenes ausgeglichen. – Das Wissen, sterben zu müssen, kann mich aber auch so auf mich zurückwerfen, dass es mich zu erdrücken droht – vielleicht im Gedanken daran, Verfehltes jetzt nicht mehr bereinigen zu können und darum unversöhnt mit anderen und mit mir selbst enden zu müssen.

Hoffen wider Erwarten

„Wer weiß, ob der Atem des Menschen wirklich nach oben steigt, während der Atem der Tiere ins Erdreich hinabsinkt?“ (Kohelet 3,21) Diese Frage eines biblischen Weisen klingt ähnlich wie die eben erwähnte skeptische Beobachtung: Das Faktum des Sterbens stellt Menschen mit den Tieren gleich – „beide sind aus Staub entstanden, beide kehren wieder zu Staub zurück“ (3,20). Doch Kohelet fragt: „Wer weiß, was dabei geschieht?“, und die Antwort darauf bleibt offen. Deshalb gewinnt er Raum für die Einsicht, dass der Mensch Anfang und Ende aller Dinge nicht fassen kann, auch wenn Gott ihm eine Ahnung davon geschenkt hat, dass alles zusammenhängt. Gerade darum nimmt er so ernst, dass menschliches Leben in die Zeit eingespannt ist – in Geborenwerden und Sterben ebenso wie in alltägliche Möglichkeiten, die einander ausschließen und von denen nur jeweils eine „an der Zeit ist“. Wie bedrückend ist dann zu sehen, wie oft menschliche Anstrengungen sich im Leerlauf erschöpfen, und wer das Glück erhaschen möchte, könnte genauso gut nach dem Wind greifen wollen: das eine ist so unnütz und vergeblich wie das andere! Darauf kann kein Mensch bauen. Und Gottes Tun, das alles trägt, alles bewirkt, ohne dass es dem Menschen seine Handlungsfreiheit nähme, und das immer wieder neue Möglichkeiten hervorbringt: dieses Handeln bleibt dem Menschen verborgen; allenfalls blitzt es auf, wenn er einer Gottesgabe innewird.[5] Von „Hoffnung“ ist bei Kohelet nur ein einziges Mal die Rede, im Sinne der Binsenweisheit „Wo Leben ist, da ist noch Hoffnung“ (9,4). Aber was er schreibt, ist doch von dem Vertrauen auf Gottes ebenso unablässiges wie unabsehbares Handeln und vom Vertrauen darauf durchzogen, dass Gott „das Werk seiner Hände nicht fahren lässt“, wie es ein Psalmbeter erbittet (Ps 138,8).

In biblischen Schriften wird dieses Vertrauen auf verschiedene Weise zur Sprache gebracht. Von zentraler Bedeutung ist die Geschichte von Abrahams zweitem Auszug (Genesis 15,1-6). Zuerst hatte er auf Gottes Verheißung hin das Land seiner Väter verlassen und damit die Großfamilie, in der er verwurzelt war und in der seiner gedacht werden würde, auch nach seinem Tode. Doch auf der langen Wanderschaft verzweifelt er, weil er seine Hoffnung auf den Erben, dessen Geburt Gott ihm verheißen hat, für gescheitert halten muss. Weil er kein Kind mehr zeugen und seine Frau nicht mehr gebären kann, wird der Nachkomme ausbleiben, der die Totenklage für sie beide halten und so ihr Gedenken sichern könnte: die einzige Form einer Hoffnung auf Fortleben über den Tod hinaus, die er sich zu denken vermochte. Es mag wohl heißen: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, aber auch sie wird schließlich sterben. – Aus dieser hoffnungslosen Selbstquälerei ruft Gott ihn heraus und zeigt ihm, dass er ebenso wenig wie die Weite seiner Schöpfung das Ausmaß seiner Segensverheißung ermessen kann. Da wirft Abraham sich gleichsam in die Hoffnung hinein, die Gott ihm bereitet hat, und „macht sich in Gott fest“ (15,6), er verankert sich in ihm. Gott gibt Grund zur Hoffnung, ja, er selbst ist Grund der Hoffnung. Mit diesem Lebensakt bindet Abraham sich ganz und rückhaltlos an Gottes Verheißung, der sich mit ihm verbunden hat. Seine Heimat hat auf Gottes Geheiß verlassen – jetzt verlässt er sich selber, indem er dem Ruf „Komm heraus und sieh!“ folgt und auf Gott hofft. Er vertraut ihm, der sein Wort hält und seinem Handeln treu bleibt. Und gerade so wird Abraham seiner selbst auf ganz neue Weise inne.

Paulus greift diese Geschichte auf und schreibt sie unter dem Kreuz Jesu Christi fort: Abraham „glaubte dem Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft – gegen alle Hoffnung glaubte er auf Hoffnung“ (Röm 4,16-17). Gott hat ihn im Zelt in der Wüste aus der Anfechtung über seine Zukunft herausgerufen; Jesus rief Lazarus, eingeschnürt in Totenbinden, aus der Grabeshöhle heraus (Johannes 11,43). So ruft der Vater Jesu Christi durch seinen sterbenden Sohn am Kreuz uns aus unserer Selbstverschlossenheit heraus, ruft zur Hoffnung des Glaubens auf das Leben mit Christus, den Kommenden. Hoffnung gegen Hoffnung, wider Erwarten: da geht es nicht ohne Kämpfe und schmerzliche Ablösungserscheinungen ab, denn die Hoffnung, die uns als Menschen vorantreibt, kann sich erbittert der Hoffnung widersetzen, die in jene Weite geführt wird, die Gottes schöpferisches und lebendig machendes Handeln bereitet.

Martin Luther erinnert an eine andere Erzählung aus der Geschichte von Abraham und seinen Nachkommen, an Isaaks Errichtung eines lebenspendenden Brunnes in Beerscheba zum Gedenken an die Segensverheißung an seinen Vater, die Gott dort bestätigte (Genesis 26,23-25). Diese Gottesrede legt Luther als Zusage der Unsterblichkeit aus:

Wo […] und mit wem Gott spricht, sei es in Zorn, sei es in Gnade redet, der ist gewiß unsterblich. Die Person Gottes, die da redet, und das Wort zeigen an, daß wir solche Geschöpfe sind, mit denen Gott sprechen will bis in Ewigkeit und unsterblich.[6]

Gottes Zorn ist das schmerzliche Nein zu menschlichem Unfrieden, der sich auch gegen ihn richtet, ein Nein aus seiner unerschöpflichen Treue heraus; seine Gnade erweist sich in seinem richtenden und rettenden Handeln. Unsterblich, ewig ruft er seine Geschöpfe, redet sie an und spricht mit ihnen. Allein daraufhin würdigt er sie seiner Unsterblichkeit. „Ewig“ ist die Teilhabe an Gottes Leben, die dem geschöpflichen Leben „uneingeschränkt Qualität“ verleiht;[7] es ist weder zeitlos noch unendlich dauernd.

So berichtigt Luther beiläufig eine Begründung der Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele, also auf eine habituelle, individuelle Begabung des Menschen, die ihn von allen anderen belebten Wesen abhebt. Eine solche anthropologische Bestimmung war kurz zuvor vom V. Laterankonzil (1512-1517) für lehrverbindlich erklärt worden;[8] das Zweite Vaticanum (1962-1965) wird sie bestätigen und verdeutlichen: Das leibliche Leben ist hochzuschätzen, der Mensch ist aber nicht „Teil der Natur“ oder „anonymes Glied der Gesellschaft“, „denn in seiner Innerlichkeit übersteigt er die Gesamtheit der Dinge“[9]. Über diese Bestimmung des Menschen mag philosophisch gestritten werden; für eine theologische Anthropologie ist sie m.E. irreführend. Hoffen auf unvergängliches, erfülltes Leben bei Gott, auf „ewiges Leben“, wird jedenfalls nicht durch sie begründet. „Man kann nur in Gott selbst das ewige Leben erlangen“ [10] – in Gott, der auf alle seine Menschengeschöpfe hofft und für sie hofft.

„Es lebt nicht mehr Ich“

Der „Gott der Hoffnung“ (Röm 15,13), „der Geduld und des Trostes“ (15,3) sucht die Geschöpfe, mit denen er reden will, zeit ihres Daseins auf Erden in ihren Hoffnungen auf und richtet sie aus – auch dies geschieht wieder unter Schmerzen, desto mehr, je beharrlicher unsere Widerspenstigkeit sich gebärdet. Damit wir zur Hoffnung erweckt werden, bedarf es nichts Geringeres als einer Neugeburt:

Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns in seinem Erbarmen neu geboren, damit wir durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten eine lebendige Hoffnung haben und das unzerstörbare, makellose und unvergängliche Erbe empfangen, das im Himmel für euch aufbewahrt ist. (1. Petrus 1,3-4)

Dieser Spruch gehört wahrscheinlich zu einer Taufunterweisung. Die Taufe ist ein Sakrament lebendiger Hoffnung. Wird an sie erinnert, dann zugleich an den „christliche Namen“, den wir dabei erhalten haben, zum Zeichen dafür, dass der dreifache Gottesname, auf den wir getauft wurden, Kraft, Segen und Zuversicht verleiht, weil Gott hier an uns handelte, so sehr, dass wir in seine Hände eingezeichnet sind (Jesaja 49,16). Mit wem er „in unsterblicher Weise“ redet, den ruft er bei seinem Namen, wie er sein Volk Israel erlösend beim Namen rief und ihm so zeigte, dass es ihm gehört (Jesaja 43,1).

Der Neugeburt „durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ geht nicht nur das Sterben Jesu Christi, sondern auch unser Sterben „mit Christus“ voraus, denn „wir sind auf seinen Tod getauft“ (Römer 6,3). Ohne solches Sterben keine lebendige Hoffnung! Wenn der Apostel Paulus ganz persönlich davon reden will, wie es um ihn steht, dann stolpert er unwillkürlich darüber, sagen zu wollen: „Ich lebe.“ Er kann nicht einfach so weiterreden, er fällt sich ins Wort, weil es ihm wie Schuppen von den Augen fällt und ein Licht aufgeht: „Es lebt nicht mehr Ich – es lebt in mir Christus!“ (Galater 2,20)[11] Da ist der Lebensraum, in dem er sich früher ganz zu Hause fühlte, dahingeschwunden, vieles, was lebensentscheidend für ihn war, ist von ihm abgefallen, für das er nun „tot“ ist, auch wenn es immer wieder die Fänge nach ihm ausstrecken mag. Er hat erfahren, was zum Sterben gehört: ein Prozess, in dem „ich“ mir selbst entzogen werde. Der auferstandene Christus, er, der Kommende, lebt – und „ich“ erhalte Anteil daran: ich wachse in das Leben hinein, das „mit Christus in Gott verborgen“ ist (Kolosser 3,3), in das Leben, das ich empfange durch alles, was Gott an mir vollbringt, auch wenn ich mir dessen nicht immer bewusst werde und es nicht einmal verspüre.

Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder sterben, wir gehören dem Herrn. (Röm 14,8).

Daran hängt die lebendige Hoffnung. Dass „ich“ nicht mir selber überlassen bleibe: was im tätigen Leben vielleicht als Einschränkung meiner Selbstentfaltung empfunden worden ist, wird jetzt zum Trost, im Leben und im Tode.

Die Hoffnung angesichts dieses Todes ist die, dass Gott die Person des Sterbenden in seine Hand nimmt und in Kontinuität und doch radikaler Erneuerung neues Leben schenkt.[12]

Radikale Erneuerung, Leben aus dem Tode, Verwandlung, Neuschöpfung – wie immer die Wörter lauten, mit denen versucht wird, dieser Hoffnung ein noch deutlicheres Gesicht zu geben: allesamt sind sie klägliche Versuche, zu umschreiben, für das die Schranke des Todes den Blick versperrt und wo die Sprache kläglich zerschellt. Doch wenn Christus „in mir“ lebt, dann bleibe „ich“ nicht ohne Vorgeschmack dessen, was Gott zugesagt hat: den Schuldigen Vergebung, den Verzweifelten Trost, den Verdunkelten Erleuchtung, den in die Enge Getriebenen Raum zu atmen, den Ruhelosen Frieden, den Gleichgültigen den Spürsinn für das, was nottut, den Verachteten Beachtung, den Geschädigten Gerechtigkeit.

Heutzutage ist aus Todesanzeigen manches von dem zu erfahren, was Zeitgenossen vom Tod denken, was sie erwarten und wie sie versuchen, einen „Abschied für immer“ zu bewältigen. Was dort zu lesen ist – oft auch in Anzeigen für Verschiedene, die kirchlich beerdigt werden –, verrät, welchem weltanschaulichen Wandel das Verhältnis zu Sterben und Tod unterliegt, welche Anziehungskraft auch von östlichen Religionen ausgeht, die eine Seelenwanderung als Reinigungsprozess oder ein Aufgehen in erlösendes Nichts versprechen. Selten ist schlichte Zuversicht zu vernehmen, noch seltener in geprägten Worten christlicher Hoffnung wie in der Todesanzeige für Otto Graf Lambsdorff, verstorben am 5. Dezember 2009 „in der Gewissheit der Auferstehung“.

Gewissheit der Auferstehung kann auch heißen: Wir hoffen auf Gott, der uns ins Leben gerufen hat, uns sterben lässt und der uns als Werk seiner Hände nicht preisgibt. Wir hoffen auf Jesus Christus, mit dem unser Leben in Gott verborgen ist. Wir hoffen auf den Heiligen Geist, der unser verborgenes Leben offenbaren, es in all seinen Verflechtungen und Verwicklungen klären und in eins damit unser gelebtes Leben vollendend gestalten wird. Wir hoffen als diejenigen, deren Namen Gott in seine Hände geschrieben hat, weil er unser ewiglich gedenken will.

Quelle: Norbert Feinendegen u.a. (Hrsg.), Menschliche Würde und Spiritualität in der Begleitung am Lebensende. Impulse aus Theorie und Praxis, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, 267-278.


[1] Immanuel Kant, Logik, A 25.

[2] Willy Kramp, Der letzte Feind. Aufzeichnungen, München 1969, zitiert nach Karin Ulrich-Eschemann, Leben, auch wenn wir sterben. Christliche Hoffnung lernen und lehren, Göttingen 2008, 49f.

[3] Siehe dazu Karin Kiworr, Bilder der Hoffnung im Angesicht des Todes. Ein Weg christlicher Sterbebegleitung, Mainz 2005, 102-105.

[4] Martin Buber, Nachlese, Gerlingen 31993, 236.

[5] Zum Einzelnen siehe Gerhard Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011, 100-105. 334.

[6] Martin Luther, Genesis-Vorlesungen (1535-45), in: Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe (WA) Bd. 43, Weimar 1912, 481,32-35.

[7] Unsere Hoffnung auf das ewige Leben. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, Neukirchen-Vluyn 2006, 53 (zu Daniel 12,2).

[8] De anima humana (1513), DS 1440.

[9] Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute (1965). 1. Kapitel: Die Würde der menschlichen Person, Artikel 14, Übersetzung nach NR 333.

[10] Karl Kardinal Lehmann, „Was heißt „ewiges Leben“?, in: Grundlinien der Dogmatik, hg. von Ernstpeter Maurer, Rheinbach 2005, 303-317; 314.

[11] Übersetzung von Heinrich Schlier, Der Brief an die Galater, Göttingen 51971, 87.

[12] Karin Kiworr, Bilder der Hoffnung im Angesicht des Todes (s.o. Anm. 3), 83.

Hier der Text als pdf.

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