Karl Barths Brief an Pfarrer Kooyman (Holland), 1940: „Die Schuld daran, daß so etwas wie der Hitlerismus mitten in Europa möglich und wirklich geworden ist, ist gewiß eine gemeinsame Schuld aller europäischen Völker, Menschen und Regierungen. Aus jener gemeinsamen Schuld folgte nicht notwendig dieser Krieg, wie es denn auch Unsinn wäre, zu behaupten, daß dieser Krieg zur Bereinigung jener Schuld geführt werde. Verpflichtet sind sie [die Völker] wohl dazu, jene gemeinsame Schuld nicht durch irgendwelche Nachgiebigkeiten dem Hitlerismus gegenüber noch größer zu machen. Verpflichtet sind sie also dazu, der Beteiligung am Krieg, wenn ihnen diese von Deutschland her aufgedrängt wird, nicht auszuweichen.“

Brief an Pfarrer Kooyman (Holland), 1940

Basel, 28. Februar 1940.

Sehr geehrter Herr Pfarrer!

I. Der Satz: „Die Ursachen des gegenwärtigen Krieges liegen in den internationalen Entscheidungen von 1919, an welchen unser Land nicht beteiligt war, und es ist die Ordnung der großen europäischen Angelegenheiten auch seither (wie schon vorher) ohne unsre Mitwirkung zustandegekommen“[1] hat in meinem Brief nicht ganz den Sinn und das Gewicht, den man ihm dort offenbar beigelegt hat. Er sollte gerade nur den historischen Grund angeben, der der Schweiz heute verbietet, von sich aus auf der Seite Englands und Frankreichs in den Krieg einzutreten, ohne daß sie dazu durch einen Angriff von Seiten Deutschlands dazu genötigt wäre. Den Rechtsgrund dieses Verbotes sehe ich in dem, was die folgenden Sätze sagen: Wir haben uns seit 125 Jahren nach allen Seiten immer wieder zu der Staatsmaxime der militärischen Neutralität bekannt und es ist diese Maxime auch von allen unsern Nachbarn praktisch anerkannt worden. Pacta sunt servanda. Also müssen wir uns auch dem Hitlerreich gegenüber, solange es unsre militärische Neutralität seinerseits respektiert, zu dieser unsrer Staatsmaxime bekennen. Wir würden uns sonst selber des Hitlerismus, d. h. der politischen Treulosigkeit schuldig machen.

Ich bemerke zunächst zu diesem für mich entscheidenden Rechtsgrund noch Folgendes: Es ist meine Meinung, daß es dieser unsrer Staatsmaxime nicht widersprochen, sondern entsprochen hätte, wenn sie von unsrer Seite längst extensiv, statt wie es leider geschehen ist und bis heute geschieht, nur intensiv interpretiert und angewendet worden wäre. Warum hat die neutrale Schweiz als solche nicht eine aktive Außenpolitik? Sie hätte darin bestehen können (und könnte vielleicht noch darin bestehen), daß unsre Staatsführung — in Anwendung unsres innenpolitischen Prinzips des Föderalismus — sich [119] mit den Regierungen der andern kleineren Staaten: Luxemburg, Niederlande, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen (früher vielleicht auch der baltischen Staaten und jedenfalls der Tschechoslowakei (Polen??) zu solidarischer Behauptung und Verteidigung ihrer Neutralität vereinigt hätten. Wir „Kleinen” würden heute nicht nur den Großen gegenüber ganz anders dastehen, sondern wer weiß, wieviel Übel schon hätte verhindert werden können, wenn man auf Seiten der Großen gewußt hätte: wer einen von uns angreift, greift uns alle an, verletzt unser aller Neutralität und wird automatisch auch von uns allen angegriffen. Ich stehe also auch jenem Rechtsgrund unsrer (bis auf eine Verletzung von Seiten Deutschlands aufrechtzuerhaltenden) militärischen Neutralität mit dem Bedenken gegenüber, daß er, um als Rechtsgrund durchschlagend zu sein, als ein allgemeiner und nicht nur als unser besonderer Rechtsgrund in Kraft stehen würde. Daß er das leider nicht tut, kann nun aber wieder kein Grund sein, ihn nicht wenigstens in der Besonderheit, in der er faktisch in Kraft steht, zu respektieren.

Über den Sie interessierenden Satz über den historischen Grund, unsre Neutralität, bis sie von Deutschland verletzt wird, nicht aufzugeben, möchte ich Folgendes sagen: Die Schuld daran, daß so etwas wie der Hitlerismus mitten in Europa möglich und wirklich geworden ist, ist gewiß eine gemeinsame Schuld aller europäischen Völker, Menschen und Regierungen. Und es ist wiederum wahr, daß diese gemeinsame Schuld die primäre Ursache des gegenwärtigen Krieges ist. Ich habe aber in meinem Brief an seine sekundäre Ursache gedacht, d. h. an das, was ihn — nicht als irgend eine Katastrophe (aus jener Schuld hätten sich ja auch ganz andersartige Katastrophen ergeben können!), sondern eben als die bestimmte Aktion dieses Krieges notwendig gemacht hat. Aus jener gemeinsamen Schuld folgte nicht notwendig dieser Krieg, wie es denn auch Unsinn wäre, zu behaupten, daß dieser Krieg zur Bereinigung jener Schuld geführt werde. Dann kann man aber auch nicht sagen, daß alle an jener gemeinsamen Schuld Beteiligten um ihrer Bereinigung willen zur Teilnahme an diesem Krieg verpflichtet seien. Verpflichtet sind sie wohl dazu, jene gemeinsame Schuld nicht durch irgendwelche Nachgiebigkeiten dem Hitlerismus gegenüber noch größer zu machen. Verpflichtet sind sie also dazu, der Beteiligung [120] am Krieg, wenn ihnen diese von Deutschland her aufgedrängt wird, nicht auszuweichen. Zunächst zum Kriege verpflichtet sind aber die, welche, abgesehen von ihrer Teilnahme an der gemeinsamen Schuld, dafür verantwortlich sind, daß der Hitlerismus nun eben gerade Krieg bedeuten muß. Eben das sind nun aber nicht Alle und Jene, sondern diejenigen, welche für die rechtliche Regelung der europäischen Verhältnisse, wie sie zuletzt in den Verträgen von 1919 getroffen wurde, verantwortlich sind. Hätte man damals einen zugleich strengeren und wohlwollenderen, fürsorglicheren, kurz: einen vernünftigeren Frieden diktiert, dann wäre der Hitlerismus heute vielleicht eine innerdeutsche politische Sekte, aber nicht die Kriegsdrohung gegen ganz Europa. An jenem Friedensdiktat als solchem und also an der Kriegsursache (im engeren, sekundären Sinn des Begriffes) war aber die Schweiz und war auch Holland nicht beteiligt. Man hat uns nicht um unsern Rat gefragt und wir wurden auch hinsichtlich des ganz an jenem Friedensdiktat orientierten Völkerbund vor ein fait accompli gestellt (ich bin darum auch 1920 in der Volksabstimmung über den Eintritt der Schweiz in den Völkerbund gegen diese Sache gewesen). Es scheint mir darum billig und recht zu sein, daß heute, wo es sich um die Abwendung des zur Kriegsdrohung gewordenen Hitlerismus handelt, diejenigen den Vortritt nehmen, die ihn damals genommen und gehabt haben. Sie, England und Frankreich an der Spitze der damaligen Alliierten, haben das Recht aufgerichtet, dessen Unvollkommenheiten den Hitlerismus groß werden ließ und in dessen Bruch der Hitlerismus zur Kriegsdrohung geworden ist. In der Sache dieser besonderen Folge der gemeinsamen Schuld sind zunächst sie gefragt. Wir andern (z. B. Holland und die Schweiz) werden es dann sein, wenn der Hitlerismus (über allen Zusammenhang mit 1919 hinaus) auch das Recht, das Stück europäischer Rechtsordnung antasten wird, für das nun tatsächlich wir verantwortlich sind und das nun eben in unsrer Neutralität besteht. Solange es keine „Vereinigten Staaten von Europa” gibt, solange auch jene Union der europäischen Kleinstaaten ein schöner Traum ist, kann ein Staat nur daraufhin Krieg führen, bzw. sich an einem Krieg beteiligen, daß er selber zur Wahrung des nun eben ihm anvertrauten Stückes europäischer Ordnung aufgerufen ist. Zu einer Art Polizeiaktion [121] oder gar zu einem Kreuzzug kann er durch kein göttliches oder menschliches Recht aufgerufen sein: auch dadurch nicht, daß die Mehrzahl seiner Bürger sich über die Frage von Recht und Unrecht im Kriege der Andern ihre sehr bestimmten, gar nicht neutralen Gedanken machen und auch offen aussprechen.

Ich könnte also denen nicht wohl recht geben, die bei Ihnen jetzt einfach fordern, daß Holland von sich aus in den Krieg eintreten oder daß man als Freiwilliger in die englische Armee gehen solle. Das hieße, daß man der eigenen, der holländischen Verantwortlichkeit ausweichen und mutwillig fremde Verantwortlichkeiten übernehmen würde. Wir müssen in der Schweiz wie in Holland alles tun, um das Verständnis zu wecken und wach zu erhalten dafür, daß es in diesem Krieg allerdings um die Freiheit von ganz Europa und insofern jetzt schon um unsre eigene Sache geht, daß aber, bis wir direkt zu etwas Anderem aufgerufen werden, unser Tun für diese Sache darin besteht, daß wir unsern Posten halten. Daß es in der Schweiz wie in Holland Leute gibt, die die „geistige Neutralität” proklamieren und fordern, das beruht natürlich auf dem schlimmsten Mißverständnis unsrer Stellung und Aufgabe und wenn sie sich dabei auf mich berufen, so sollen sie wissen, daß ich sie für böswillig oder trottelhaft halte. Ich habe dazu wirklich nichts Anderes zu sagen.

II. Der Hitlerismus als „der böse gegenwärtige Traum des erst in der lutherischen Form christianisierten deutschen Heiden”. Ich will natürlich nicht behaupten, daß eine „nihilistische Revolution” nur in Deutschland als einem lutherischen Land oder gar daß sie in jedem lutheri­schen Land als solchem möglich sei. Es ist ganz klar, daß allerlei Entsprechendes (es gibt da gewiß noch viele andere teuflische Möglichkeiten) auch in andern Ländern und ohne allen Zusammenhang mit dem Luthertum möglich werden könnte. Und wiederum ist es klar, daß andere lutherische Länder solchen andern Möglichkeiten nihilistischer Revolution vielleicht ebenso gewaltig widerstehen könnten, wie ihr das lutherische Deutschland nun eben erlegen ist. Ich habe bei jenen Sätzen schon ganz konkret an die besondere, die nationalsozialistische Form der nihilistischen Revolution gedacht, an ihre Aufmachung und Tarnung als Aufrichtung wahrer obrigkeitlicher Autorität. Und ich habe konkret an die Verbindung [122] des Luthertums nun eben mit dem deutschen Heidentum gedacht. Hier sehe ich allerdings — natürlich in der Relativität, in der man so etwas allein sehen kann — eine Beziehung: das Luthertum hat dem deutschen Heidentum gewissermaßen Luft verschafft, ihm (mit seiner Absonderung der Schöpfung und des Gesetzes vom Evangelium) so etwas wie einen eigenen sakralen Raum zugewiesen. Es kann der deutsche Heide die lutherische Lehre von der Autorität des Staates als christliche Rechtfertigung des Nationalsozialismus gebrauchen und es kann der christliche Deutsche sich durch dieselbe Lehre zur Anerkennung des Nationalsozialismus eingeladen fühlen. Beides ist tatsächlich geschehen. Ich denke aber, daß es in dieser Kombination nur in Deutschland möglich ist und möchte darum bitten, keine verallgemeinernden Folgen daraus zu ziehen. Und man muß bei jenen Sätzen meines Briefes beachten, daß sie in einem Zusammenhang stehen, in welchem ich das deutsche Volk erklären und entschuldigen und nicht etwa anklagen wollte.

Ich weiß nicht, ob Ihnen dieser Brief für den von Ihnen vorgesehenen Zweck genügt. Er mußte in einiger Eile geschrieben werden. Sehr dankbar wäre ich Ihnen, wenn Sie mir von solchen Veröffentlichungen im Weekblad jeweilen ein Exemplar zusenden wollten.

Mit freundlichem Gruß!

Ihr Karl Barth.

Quelle: Karl Barth, Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, Zollikon-Zürich: EVZ 1945, 118-122.


[1] Aus Barths Brief nach Frankreich vom Dezember 1939.

Hier der Brief als pdf.

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