„Dies ist nicht Gottes Weg, uns zu Bekennern und Märtyrern zu machen.“ Tagebucheintrag
Von Jochen Klepper
Obwohl Jochen Klepper als Christ Gegner des NS-Regimes war, das ihn schließlich mit seiner jüdischen Frau und ihrer Tochter in den selbstgewählten Tod zwang, glaubte er dennoch, gegen das Regime als Obrigkeit keinen aktiven Widerstand leisten zu dürfen. Dazu sein Tagebucheintrag vom 12. März 1942:
12. März 1942 / Donnerstag
Die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen; ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen. (Jesaja 42,16)
Ja, wie die Blinden; auf Steigen, die wir nicht kennen; so sind wir. Denn wie man handelt, plant, arbeitet – das ist ja nur ein Akt dumpfen Gehorsams (den Gott jederzeit in vertrauenden Gehorsam verwandeln kann), ist wie ein über einen hinweg laufender Mechanismus (doch kann unter diesem Anschein Gott uns gerade am Werk erhalten).
Tag und Nacht sind gleich schwer; doch gibt es immer wieder einmal eine Nacht erschöpften Schlafes.
Wie seltsam, daß nach außen der Zustand, in dem man sich befindet, als große Ruhe wirkt. Aber es ist gut so.
Heute schreibt mir Professor von Soden, der Marburger Kirchenhistoriker: »Käte Staritz ist am 4. März hier im Auftrag der Stapo verhaftet worden. Die Gründe sind nicht bekannt geworden, ebenso wenig die Stelle, von der der Auftrag ausging.« … »Hier in Marburg ist nichts geschehen, was zu ihrer Verhaftung Grund geben könnte; es sei denn, daß es ihr zum Vorwurf gemacht würde, daß sie neben ihren theologischen und sprachlichen Studien im Kindergottesdienst und im kirchlichen Religionsunterricht ausgeholfen und in der hiesigen Frauenhilfe wie im Evangelischen Frauenbund je einen Vortrag über biblische Themata gehalten hat.«
Ob es solche »illegale« kirchliche Tätigkeit der in Schlesien vom Amte suspendierten Vikarin ist, ob es Schneiders Versendung von Privatdrucken heute nicht zu veröffentlichender Gedichte ist – hier steckt das gleiche Problem.
Dies ist nicht Gottes Weg, uns zu Bekennern und Märtyrern zu machen. Wir müssen lernen, daß Gott auch ohne uns wirken kann. Wissen wir, was Gott in uns wirkt, indem er uns zu dieser Zeit Schweigen auferlegt? Auch Hanni, die so temperamentvoll, so gradlinig, so entschieden, so kämpferisch, so rechtlich denkend, so aktiv ist, stimmt vorbehaltlos mit mir überein: für uns und die in irgendeinem Sinne unsersgleichen sind, heißt es schweigen, tragen, warten; und nicht hoffen auf das Irdische. Im Irdischen kann uns Gott zugrunde gehen lassen; er hat es je und je auch an den Frömmsten getan. Es steht bei ihm, wodurch er wirken will.
Noch ist es aber in uns völlig ungeklärt, ob die Ruhe und Geduld aus der Vorbereitung auf den Selbstmord als ultima ratio kommt oder aus dem Glauben. – Ich möchte meinen: von uns aus der Vorbereitung auf den Selbstmord; von Gott aus aber ist auch dies Führung zum Glauben hin.
Der ganze Tag und lange, lange Nachtstunden sind ein einziges geheimes Stöhnen – indes alles Äußere weitergeht -, Gott möge die Last von einem nehmen, sie wenigstens tragbar machen. Denn es ist mit keinem Worte zuviel: die Last ist kaum mehr tragbar. Es ist nicht gut, zu wissen, was »des Satans Engel« ist, der mit Fäusten schlägt. Das Aufeinanderprallen innerer und äußerer Schicksale vermag einen aufzureiben, auch wenn das Aushalten fast schon etwas von Gewohnheit angenommen hat (was der christlichen Übung zur Geduld nicht zu widersprechen brauchte).-
Manchmal ist großer Friede in mir: es geht nicht um das Entsetzen vor dem Abgrund im Menschen, es geht um den Glanz Gottes, der noch den Abgrund überstrahlt, über ihm, sich vollendend, sich verklärt.
Quelle: Jochen Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932-1942, Stuttgart: DVA, 1956, S. 1042f.