Eberhard Jüngel, Licht in der Finsternis (Neujahrsbetrachtung): „Seitdem Gott zur Welt gekommen ist, hat alles in ihr eine noch zu entdeckende neue Bedeutung, hat die ganze Welt ein neues Gesicht gewonnen. Diese neue Bedeutung, dieses neue Gesicht ist das Antlitz einer menschlichen und immer noch menschlicher werdenden Welt, in der der Mensch das Maß aller Dinge ist. Was einst vermessen klang, das hat der christliche Glaube ins Recht gesetzt: Der Mensch ist wirklich das Maß aller Dinge. Denn der Mensch gewordene Gott verweist den nach Gottähnlichkeit dürstenden und dabei doch nur zum Wolf regredierenden Menschen zurück in die ganz und gar irdische Existenz des homo humanus.

Licht in der Finsternis

Von Eberhard Jüngel

Das nun zu Ende gehende Jahr war ein finsteres Jahr. Wenige Augenblicke haben es zum Inbegriff jener Finsternis werden lassen, die Menschen gegen Menschen ins Werk setzen. Als eine dämonische Mixtur von religiösem und politischem Fanatismus das Tohuwabohu wieder über die Schöpfung heraufzubeschwören drohte, da blickte die Menschenwelt in ein selbst erzeugtes abgründiges Dunkel. Zumindest für die westliche, am Erfolg orientierte, sich auf die Potenzierung ihres eigenen geistigen und wirtschaftlichen Vermögens fixierende Leistungsge­sellschaft, von der wir – wer wollte es leugnen! – alle zehren, zumindest für sie symbolisierten jene beiden New Yorker Türme die Erfahrung, «wie wir’s . . . zuletzt so herrlich weit ge­bracht». Und nun sahen wir zumindest diese «Herrlichkeit der Erden . . . zu Rauch und Asche werden».

Gibt es gleichwohl Licht, dann muss es ein solches Licht sein, das aller selbst erzeugten und selbst verschuldeten Finsternis ein Ende zu machen verspricht. Das Aufscheinen eines solchen auch in die abgründigste Finsternis vordringenden Lichtes – das ist das Wunder der Weih­nacht. Das Evangelium bezeugt es. Die Kirche verkündigt es. Und die Christenheit feiert es, wenn sie der Geburt Jesu Christi gedenkt. Denn «in ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis. Und die Finsternis hat es nicht überwältigt» (Joh. 1,4f.).

Licht ist nicht nur in der alten und neueren Philosophie, sondern auch in den Texten des Alten und Neuen Testamentes eine Metapher für Wahrheit. Doch während für die Philosophie Licht die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ist, sind die biblischen Überlieferungen stärker daran interessiert, dass Licht Leben ermöglicht und dass Leben nur möglich ist als Zusam­menleben. Ein sich isolierendes Leben stirbt. Deshalb ist die Bibel geradezu wahrheitsbeses­sen. Und der Gegner der Wahrheit ist beides zugleich: «der Mörder von Anfang an . . . und ein Lügner» (Joh. 8,44). Redet die Bibel vom Licht, dann also von dem der Wahrheit Geltung verschaffenden Licht, das Leben ermöglicht und das dem Zusammenleben zugute kommt: dem Zusammenleben nun freilich nicht nur der Menschen untereinander, sondern auch und vor allem dem Zusammenleben der Menschen mit Gott.

Doch Wahrheitsansprüche können, wie schon Goethe befürchtete, sich nur zu leicht «zum Starren wappnen». Europa hat das einst in Gestalt kirchlicher Inquisition und im letzten Jahrhundert gleich zweimal in Gestalt der nationalsozialistischen und der kommunistischen Ideologie bitter erfahren. Und die Welt hat es in diesem annus horribilis in Gestalt des isla­mistischen Fanatismus noch einmal bitter erfahren müssen.

Bedeutende zeitgenössische Philosophen, die ihren eigenen bisherigen Atheismus von Grund auf in Frage zu stellen wagen, haben in ihrer Annäherung an das Christentum deshalb die Forderung aufgestellt, dass dessen Wahrheitsanspruch aufgegeben werden und an seine Stelle allein das Liebesgebot treten müsse. Diese Forderung entspringt zweifellos einer tiefen Ein­sicht in das Wesen des Christentums, das in der Tat die Religion der Liebe ist. Und dennoch liefe die Forderung, die Wahrheit der Liebe zu opfern, die bezeichnenderweise schon Ludwig Feuerbach erhoben hat, auf die Zerstörung des christlichen Glaubens hinaus. Denn zum Glau­ben kommen heisst in der biblischen Sprache immer auch so viel wie: zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Gegen religiösen Wahrheitsfanatismus hilft nicht der Verzicht auf Wahr­heitsansprüche. Gegen religiösen Wahrheitsfanatismus hilft nur die Wahrheit selbst, die ihr Kriterium allerdings darin und nur darin hat, dass sie – im strikten Gegensatz zu jedem Fanatismus – befreit (Joh. 8,32).

Wenn am Ende des annus horribilis 2001 für die Christenheit etwas wirklich wichtig ist, dann ist es die sich inmitten aller Trauer, aller Anfechtung und aller Angst durchsetzende Gewiss­heit, dass es auch und gerade heute die Wahrheit des Evangeliums zu feiern gilt, die mit dem Wunder der Weihnacht identisch ist. In der Feier der weihnachtlichen Wahrheit weiss die Religion allerdings um die in ihr schlummernden bösen Potenzen. Sie weiss aber zugleich, indem sie den zur Welt kommenden Gott begrüsst, dass das ewige Licht diesen bösen reli­giösen Potenzen siegreich gegenübertritt. In der Feier des Wunders der Weihnacht gehen der Religion die Augen über sich selber auf.

Wunder – das heisst, dass das Aufgehen dieses Lichtes keines Menschen Werk ist. Die von diesem Licht ausgehende Aufklärung ist zwar durchaus, mit Kant formuliert, der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Aber Aufklärung im Lichte des Evangeliums ist, obwohl sie die beste Freundin des gesunden Menschenverstandes ist, durch den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, keineswegs zu bewerkstelligen. Von dem in das Dunkel der Welt vordringenden ewigen Licht geht vielmehr eine Aufklärung aus, die uns den ganz anderen Mut zumutet, auf den Sieg des göttlichen Lichtes zu vertrauen, und zwar auch und gerade dann, wenn man von diesem Licht kaum etwas zu sehen vermag – so wie man ja auch dem Kind im Stall zu Bethlehem keineswegs anzusehen vermochte, dass in ihm Gottes Sohn zur Welt gekommen ist. Und dennoch hat die alte Christenheit von diesem Kinde bekannt, es sei «Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott».

Das ist zweifellos ein frommes Bekenntnis. Heute schämt man sich solcher Frömmigkeit. Vielleicht könnte die geradezu demonstrative – mit jenen bösartigen Terrorakten wahrhaftig nicht zu verwechselnde – Frömmigkeit der Muslime die Christenmenschen daran erinnern, dass wahre Frömmigkeit eine der Welt wohl tuende Unterbrechung unseres allzu geschäftigen Lebens ist – eine Gott ehrende schöpferische Pause im Alltag der Welt. Auf jeden Fall aber ist wahre Frömmigkeit die beste Verhinderung jeder Art von religiösem Fanatismus. Denn rech­ter Glaube sucht der Stadt Bestes. Je mehr der Mensch Gott vertraut, desto mehr hält er seiner Welt die Treue und verlässt sich darauf, dass in dieser alten und verbrauchten Welt noch immer herrliche Zukunftspotenziale schlummern, die es zu entdecken gilt. In einem der schönsten Weihnachtslieder heisst es: «Das ewige Licht geht da herein, gibt der Welt einen neuen Schein.» Will heissen: Seitdem Gott zur Welt gekommen ist, hat alles in ihr eine noch zu entdeckende neue Bedeutung, hat die ganze Welt ein neues Gesicht gewonnen.

Diese neue Bedeutung, dieses neue Gesicht ist das Antlitz einer menschlichen und immer noch menschlicher werdenden Welt, in der der Mensch das Mass aller Dinge ist. Was einst vermessen klang, das hat der christliche Glaube ins Recht gesetzt: Der Mensch ist wirklich das Mass aller Dinge. Denn der Mensch gewordene Gott verweist den nach Gottähnlichkeit dürstenden und dabei doch nur zum Wolf regredierenden Menschen zurück in die ganz und gar irdische Existenz des homo humanus. Dessen Grenzen sind sein wahrer Reichtum, den man entdeckt, wenn man begreift, dass der Mensch nicht mehr zu sein vermag und nicht mehr zu werden bestimmt ist als dem Menschen ein Mensch. Seit Weihnachten gilt nicht mehr homo homini lupus und schon gar nicht homo homini deus, sondern homo homini homo.

Wo sich solche Menschlichkeit ereignet, da bricht sich das ewige Licht in den irdischen Lich­tern, mit denen auch wir mit unseren begrenzten Möglichkeiten der selbst verschuldeten Finsternis entgegenwirken können und sollen. Gewiss, die von uns entfachten Lichter sind vergänglich. Sie leuchten auf Zeit. Aber was lässt sich von einem vergänglichen Licht Schö­neres sagen als dies: dass es in seiner ganzen Vergänglichkeit ein Widerschein des ewigen Lichtes und also ein authentischer Zeuge ewiger Wahrheit ist?

NZZ, 24.12.2001

Hier der Text als pdf.

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