Eberhard Jüngel, Predigt über Lukas 21,25-30: „Wenn es unwiderrufbar dunkel wird in unserem Leben, in unserer Welt, dann wird Gott selber das Licht sein, das uns leuchtet und wärmt. Das ist gemeint, wenn es heißt, dass der Menschensohn kommen wird mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und wie das Sonnenlicht die Pflanze dazu bringt, sich aufzurichten und dem Licht entgegenzuwachsen, so wird der in Gottes Licht erscheinende Men-schensohn uns aufrichten: äußerlich und innerlich aufrichten. Er wird aus dem krummen Holz, das wir nach dem Urteil des unbestechlichen Immanuel Kant alle sind, endlich, endlich aufrechte Menschen machen.“

Predigt über Lukas 21,25-30

Von Eberhard Jüngel

Liebe Gemeinde! Ziel oder Ende – das ist hier die Frage: Lang er­sehntes und eifrig erstrebtes glückliches Ziel oder oft befürchtetes und schon im voraus verfluchtes schreckliches Ende? Wenn aber dies zu geschehen beginnt, wenn am Himmel und auf der Erde jene grund­stürzenden Veränderungen vor sich gehen werden, von denen in den drei ersten Evangelien ziemlich übereinstimmend die Rede ist – kommt dann ein Ziel in den Blick, das der Weltgeschichte und deshalb auch unserem Leben in dieser Welt einen Sinn gibt? Oder hebt dann ein sinnloses, ja sinnwidriges Ende an, das allem, was jemals war, ist und sein wird, noch nachträglich das Signet der Vergeblichkeit anhef­tet: alles umsonst? Werden wir oder unsere Nachkommen am Ende unter einer zusammenbrechenden Welt begraben werden? Oder werden wir erhobenen Hauptes ins Ziel gehen und also dabei sein, »when the Saints go marching in«?

Oder ist das alles eine falsche Alternative? Vielleicht bringt das Evangelium für den 2. Advent etwas ganz anderes noch in den Blick als das Entweder-Oder von Ziel und Ende, von Sinn und Sinnlosig­keit? Ein richtiger Advent ist ja allemal die Ankunft einer Zukunft, die sich keineswegs hochrechnen läßt aus dem, was bisher war und was uns gewohnt und vertraut ist. Ein richtiger Advent ist noch immer für Überraschungen gut. Sehen wir also genauer zu, was das Advents­evangelium uns in Aussicht stellt!

Ziele sind für Handelnde da. Ziele setzen wir uns, weil wir etwas erreichen wollen. Oder sie werden uns gesetzt, weil wir etwas er­reichen sollen. Es müssen nicht unbedingt hochgesteckte Ziele sein, ja nicht einmal ehrenhaft müssen sie sein: solange wir zielgerichtet existieren, hat unser Dasein Sinn. Selbst ein Halunke, dem es gelingt, das selbstgesteckte Ziel – sagen wir einmal: der Banknotenfälschung – zu verwirklichen, wird sein Leben als sinnvoll beurteilen. Und solange wir das ganze am Bildschirm verfolgen, urteilen wir auch so. Erst wenn es schiefgeht, erst wenn das schreckliche Ende – zum Beispiel in Gestalt des Kriminaloberinspektors – kommt, bevor das dubiose Ziel erreicht wurde, zerbricht der Sinn. Der Halunke ist frustriert. Seine kriminelle Energie war umsonst.

Ist in diesem Sinne am Ende alles umsonst? Was die synoptische Apokalypse ankündigt an unerhörten Ereignissen am Himmel über uns und im Abgrund unter uns, das scheint in der Tat auf so etwas wie ein Ende mit Schrecken hinauszulaufen. Der Blick nach oben und der Blick in die Tiefe wird dann Schreckliches sich ereignen sehen.

Solche Ankündigungen gehören seit der Zeit des Alten Testamentes zum apokalyptischen Szenario. Die Zeichen am Himmel, von denen bei Lukas die Rede ist, haben Markus und Matthäus denn auch mit Worten der Propheten genauer beschrieben: die Sonne, Quelle des Lichts, wird stockfinster werden; der Mond wird seinen zwar erborgten, aber doch zumindest den Liebespaaren lieblich leuchtenden Schein verlieren; die funkelnden Sterne werden die vertrauten Bahnen verlassen und vom Himmel stürzen. Lukas sagt es kurz und bündig: Die Kräfte des Him­mels werden ins Wanken kommen, will heißen: das Firmament wird in Aufruhr geraten. Auf den gestirnten Himmel über uns, bisher Inbegriff der Verläßlichkeit, wird dann kein Verlaß mehr sein.

Doch damit nicht genug: bei Lukas treten den erschreckenden Ereignissen in der Höhe nicht weniger schreckliche Vorgänge in der Tiefe zur Seite. Die Urgewalt des Meeres wird entfesselt werden. Für die Menschen der alten Welt bedeutete das mehr noch als eine ver­heerende Überschwemmungskatastrophe. Die Fesselung der Wasser­kraft – das war ja ein Teil des göttlichen Schöpfungswerkes. Am Anfang, als Gott Himmel und Erde schuf und die Erde wüst war und leer, tohuwabohu, chaotisch also, da verwandelte Gott das tohuwabohu in eine blühende Schöpfung. Und er tat dies nicht zuletzt dadurch, daß er die zerstörerische Urgewalt tobender Wasser fesselte und als chaoti­sches Urmeer hinab in die Tiefe verbannte. Am Uranfang der Schöp­fung wurde das Wasser-Chaos gebannt. Am Ende aller Dinge aber, so will Lukas uns zu verstehen geben, am Ende bricht das Wasser-Chaos aus der Tiefe wieder empor. Und es ist dann nicht ein einzelner Mensch, es ist vielmehr die Menschheit, der dann das Wasser bis zum Halse steht.

Der gestirnte Himmel über uns bricht herab. Das chaotische Urmeer bricht aus der Tiefe herauf. Eine Welt bricht zusammen.

Aporie, Ausweglosigkeit, ist das Wort, mit dem Lukas die Wirkung dieses kosmischen Zusammenbruchs auf die Menschheit beschreibt: und auf Erden werden die Völker bange sein, ohne Ausweg. Wenn selbst auf den Himmel kein Verlaß mehr ist, wenn der Menschheit das Wasser bis zum Halse steht, dann ist Ausweglosigkeit in der Tat das treffende Wort.

Daß eine Welt zusammenbricht, das kann man freilich jederzeit erfahren. Man muß da nicht erst an das Ende aller Dinge denken. Es muß nicht gleich die Verläßlichkeit des gestirnten Himmels über uns ins Wanken geraten. Es reicht, daß ein Mensch, den ich für unbedingt verläßlich hielt, die Treue bricht – und eine Welt bricht zusammen. In den neuen Bundesländern muß jetzt so mancher Bürger und so man­che Bürgerin die bittere Erfahrung machen, daß der beste Freund, ja sogar der eigene Ehemann als Spitzel des Staatssicherheitsdienstes auf sie angesetzt war. Wer unmittelbar von solchem Treuebruch betroffen ist, dem wird das eigene Leben schnell wüst und leer. Ausweglos.

Ausweglos – das heißt, daß ich mit meinen Möglichkeiten am Ende bin, daß ich nichts mehr machen kann, nichts mehr bewirken kann. Im Neuen Testament wird so »die Nacht« geschildert, »da niemand wirken kann«.

Zur Zeit der ältesten Christenheit hat man offensichtlich massen­weise und immer wieder dergleichen Erfahrungen von Ausweglosig­keit gemacht. Die antike Heiterkeit war längst verschwunden. Graue Resignation hatte sich über die einst so bunte Welt gelegt. Die Sonne Homers war verblaßt. Vergeblich suchte man seinen glücklichen Stern.

Vorbei die Lebensfreude früherer Zeiten! Vergangen die Zeiten der Götter Griechenlands, »da Ihr noch die schöne Welt regiertet an der Freude leichtem Gängelband!« Nichts war mehr leicht. Jedenfalls wurde nichts mehr leicht genommen. Die damalige Menschheit litt – darin der unsrigen durchaus vergleichbar – unter der Last des eigenen Versagens. Und sie wußte sich durch das Versagen früherer Generatio­nen noch zusätzlich belastet.

Wenn aber das tägliche Leben derart penetrant als ausweglos erfah­ren wird, dann mag man der Weltgeschichte auch keine Fortschritte zum Besseren mehr zutrauen, dann traut man der Welt insgesamt kein gutes Ende zu. Da erscheinen dann die dunklen prophetischen Ankün­digungen eines letzten, schrecklichen Tages wie ein gefundenes Fres­sen. Mit ihnen konnte man die tiefe Melancholie zum Ausdruck bringen, die sich auf die Gesamtstimmung der damaligen Welt gelegt hat: Endzeitstimmung, Weltuntergangsstimmung. Als Tag des Zornes wurde jener Tag, der letzte Tag, erwartet, an dem zutage treten soll, was wir aus Gottes guter Schöpfung gemacht haben:

dies irae, dies illa
solvet saeclum in favilla
teste David et Sybilla.

In den gewaltigen Klängen des Requiems hallt auch unser Predigttext unüberhörbar nach. Und es ist wohl wahr, liebe Gemeinde, daß auch viele von uns unserer Welt keine andere Zukunft mehr geben als ein Ende mit Schrecken.

Muß ich aufzählen, was uns, die wir eben noch voller Hoffnung waren angesichts des Zusammenbruchs der östlichen Diktaturen, heute so bitter und mißtrauisch macht? Daß unsere jüdischen Mitbürger wieder Angst haben müssen in Deutschland, sagt mehr als genug. Und daß nun Woche für Woche sich mörderischer Terror gegen Ausländer richtet, das treibt uns die Schamesröte und die Zornesröte ins Gesicht. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« und wird doch täglich mit Füßen getreten. Und das keineswegs nur in politischen Zusammenhän­gen und mit groben Stiefeln, sondern auch in sehr persönlichen, sehr privaten, sehr intimen Beziehungen, sozusagen auf Zehenspitzen, aber mit derselben zerstörerischen Wirkung. Wenn der gestirnte Himmel über uns sich empören könnte über die hemmungslose Unverfrorenheit und die bösartige Raffinesse, mit der das moralische Gesetz in uns Tag für Tag und Stunde für Stunde gebrochen wird, dann müßten Sonne und Mond sich augenblicklich verfinstern und die Sterne rei­henweise vom Himmel fallen. Keiner von uns ginge dann noch einem Ziel entgegen. Jedem von uns käme dann nur noch ein zukunftsloses Ende entgegen.

Ingeborg Bachmann, unter den Dichtern dieses Jahrhunderts viel­leicht die prägnanteste, hat die ganz persönliche Erfahrung einer zusammenbrechenden Welt in Worte gefaßt, als sie formulierte:

Nichts mehr wird kommen.

Frühling wird nicht mehr werden.
Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.

Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen
wie »sommerlich« hat –
es wird nichts mehr kommen.

Du sollst ja nicht weinen,
sagt eine Musik.

Sonst
sagt
niemand
etwas.

Wenn niemand mehr etwas sagt, dann wird weiß Gott nichts mehr kommen. Dann gilt: soviel Ende war noch nie.

Wir haben kein Recht, liebe Gemeinde, die Wahrheit einer solchen Erfahrung, wie sie die Dichterin in Worte gefaßt hat, in Frage zu stellen. Aber wir haben die Pflicht, ihr eine andere Wahrheit zur Seite zu stellen: eine Wahrheit, die nicht in tausendjährigen Kalendern, sondern im Evangelium zur Sprache kommt. Und die sich gerade an jener bitteren Wahrheit bewähren will und also genau eben da gesagt zu werden verlangt, wo wir erfahren: »Nichts mehr wird kommen …« Und: »… Sonst sagt niemand etwas«.

In unserem Predigttext tritt ja, verwirrend genug, der Ankündigung jenes zukunftslosen Endes ein Gleichnis zur Seite, das unsere Augen und unsere Urteilskraft in eine ganz andere Richtung lenkt. Mitten in der Erwartung des Endes der Welt wird unsere Aufmerksamkeit zurück­gelenkt in die Welt und auf einen Feigenbaum gerichtet und auf all die anderen Bäume, deren Zweige gerade eben auszuschlagen be­ginnen, also einen neuen Sommer ankündigen. In Palästina kommt der Sommer – im Unterschied zu unseren Breiten – ohne das Zwischen­spiel des Frühlings plötzlich und schnell. So plötzlich und schnell, daß man über den sommerlichen Anfang den noch herrschenden Winter sofort vergißt. Man hat nicht einmal Zeit, von der eigenen Trauer über die trostlose Winterzeit auch nur Abschied zu nehmen – so plötzlich fängt der palästinensische Sommer an.

Wer die Sprache des Feigenbaums versteht, der wird zwar nicht bestreiten, daß jederzeit eine Welt zusammenbrechen kann und daß am Ende aller Dinge sogar der ganze sichtbare Kosmos kollabieren mag. Aber er wird da, wo er selber nichts mehr machen, nichts mehr bewir­ken kann, den göttlichen Anfänger bereits am Werke sehen. Anfänge zu machen ist Gottes Lieblingstätigkeit, liebe Gemeinde. Das Gleichnis vom Feigenbaum soll uns dessen gewiß machen, daß Gott auch am Ende aller Dinge ein Gott des Anfangs sein wird. Und daß er sogar mit seinem herrlichen Anfang unserem elenden Ende zuvorkommt. Wenn es unwiderrufbar dunkel wird in unserem Leben, in unserer Welt, dann wird Gott selber das Licht sein, das uns leuchtet und wärmt. Das ist gemeint, wenn es heißt, daß der Menschensohn kom­men wird mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und wie das Sonnenlicht die Pflanze dazu bringt, sich aufzurichten und dem Licht entgegen­zuwachsen, so wird der in Gottes Licht erscheinende Menschensohn uns aufrichten: äußerlich und innerlich aufrichten. Er wird aus dem krummen Holz, das wir nach dem Urteil des unbestechlichen Imma­nuel Kant alle sind, endlich, endlich aufrechte Menschen machen.

In vielen apokalyptischen Mythen haben der Menschensohn und all die anderen endzeitlichen Richtergestalten allerdings eine ganz andere Funktion. Sie verschärfen und intensivieren die kreatürliche Angst vor dem Ende und wirken insofern zutiefst demütigend, erniedrigend, niederdrückend. Nicht so unser Evangelium. Erhobenen Hauptes, sagt es, dürfen wir unserem Richter entgegengehen.

Wie das? Wie kann man in einer zusammenbrechenden Welt den Kopf oben behalten und den aufrechten Gang üben?

Weil die Welt nichts anderes ist als der provisorische Ort, die Büh­ne, das Theater auf Zeit, auf dem Gott und wir Menschen die »Per­sonen der Handlung« sind – so haben die theologischen Väter auf diese Frage geantwortet. Handlungen brauchen nun einmal einen Ort, und die Personen der Handlung brauchen Boden unter den Füßen, um agieren zu können. So wie eine Tragödie oder Komödie eine Bühne, ein Theater braucht, um gespielt werden zu können, so haben die alten Theologen die Welt als theatrum dei, als Gottes Theater, bezeichnet. Sie haben dabei allerdings offen gelassen, ob es auf dieser Bühne auch etwas zu lachen gibt.

Die Welt ein Theater? Zutreffend ist diese Charakterisierung doch wohl nur dann, wenn man an das moderne Theater denkt, in dem die Bühne selber ein Teil der Handlung, also sehr viel mehr als nur Bretter und Kulisse ist. Weil sie zur Handlung, zur Geschichte selber als deren Teil dazugehört, deshalb wird die Bühne im modernen Theater so gern bei offenem Vorhang umgebaut. Für einen alteuropäischen Menschen wie mich ist das zwar absurdes Theater. Aber als Gleichnis für die Rolle der Welt in Gottes Geschichte mit uns lasse ich es mir gerne gefallen. Eine Sonne, die ihr Licht, ein Mond, der seinen Schein ver­liert, und Sterne, die vom Himmel fallen – das ist ja in der Tat (und selbst dann, wenn es naturwissenschaftlich wahrscheinlich sein sollte) ein ganz und gar absurdes Theater: so absurd und beklemmend, daß man am liebsten nichts mehr davon hören möchte. Mag’s denn so kom­men! Doch bitte kein Wort mehr davon! Amen. Sela. Psalmende …

Wenn da der Feigenbaum nicht wäre, mit seinen ausschlagenden Zweigen. Er gibt zu verstehen, daß der Winter bereits gebrochen und eine neue Zeit mit einer neuen Geschichte im Anbruch ist. Wer die Sprache des Feigenbaums versteht, der wird es ertragen, daß die Bühne der Welt mitten in der Handlung umgebaut wird. Entscheidend sind dann nur noch die Personen der Handlung. Und deren eine, die göttliche Person der Handlung, die sorgt dafür, daß ihre Geschichte mit uns »weder Ziel noch Ende« haben wird. Denn seit Gott zur Welt gekommen ist, hat seine Geschichte mit uns einen unerschöpflichen Anfang. Einen Anfang, mit dem man immer wieder anfangen und von dem aus man erhobenen Hauptes weitergehen kann.

Wer in diesen Anfang verstrickt ist, liebe Gemeinde, der hat so etwas wie Ziel und Ende, der hat auch jedweden Sinn weit hinter sich gelassen. Verliebte Menschen fragen nicht nach dem Sinn ihrer Liebe. Sie lieben sich und sind sinnlos glücklich. Genau so ist es auch mit der Adventsgemeinde, wenn sie nur weiß, was sie da eigentlich feiert am ersten, zweiten, dritten und vierten Advent: sinnlos glücklich – oder etwas frömmer formuliert: selig sind alle, die mit Gottes Anfang, die mit Gottes Advent etwas anzufangen vermögen. Sie werden auch mitten im Weltzeitwinter vieles entdecken und kommen sehen, »was so gute Namen wie sommerlich hat«. Amen.

Gehalten am 6. Dezember 1992 (2. Advent) in der Stiftskirche Tübingen.

Hier die Predigt als pdf.

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