Franz Rosenzweig, Die Einheit der Bibel. Eine Auseinandersetzung mit Orthodoxie und Liberalismus (1927): „Wir übersetzen die Thora als das eine Buch. Auch uns ist sie das Werk eines Geistes. Wir wissen nicht, wer er war; daß es Mose war, können wir nicht glauben. Wir nennen ihn unter uns mit dem Sigel, mit dem die kritische Wissenschaft ihren ange­nommenen abschließenden Redaktor be­zeichnet: R. Aber wir ergänzen dieses R nicht zu Redaktor, sondern zu Rabbenu. Denn, wer er auch war und was ihm auch vorgelegen haben mag, er ist unser Lehrer, seine Theologie unsre Lehre.“

Die Einheit der Bibel. Eine Auseinandersetzung mit Orthodoxie und Liberalismus

Von Franz Rosenzweig

Frankfurt a. M., d. 21. 4. 27.

Sehr verehrter Herr … [Rosenheim],

ich möchte an das Gespräch von heut Vormittag, in dem ich Ihnen, aus der Besorgnis, gaunew daas zu sein[1], einen Schmerz bereiten mußte, anknüpfen, um das Gesagte noch näher zu präzi­sieren und es vielleicht auch an einigen Beispielen zu beleuchten.

Unsre Differenz von der Orthodoxie liegt darin, daß wir aus unserm Glau­ben an die Heilig­keit, also die Sonder­stellung, der Thora und an ihren Offenbarungscharakter keine Schlüsse über ihren literarischen Entstehungsprozeß und über den philologischen Wert des auf uns gekommenen Textes ziehen können. Wenn Wellhausen mit all seinen Theorien recht hätte und wenn die Sa­maritaner wirklich den besseren Text hätten, würde das unsren Glauben nicht im mindesten berühren. Das ist ein tiefer Gegensatz zwischen uns und Ihnen, — ein Gegensatz, der, wie mir scheint, zwar durch gegenseitige Achtung, aber nicht durch Verstehen überbrückt werden kann; ich wenigstens verstehe die Glaubensgrundlage des Hirschschen Kom­mentars oder der Breuerschen Schriften nicht. Wie kommt es, daß dennoch unsre Übersetzung keiner früheren sich so verwandt weiß als der von Hirsch?

Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht. Nur der Vorder-Grund, nicht der wahre, scheint mir darin zu liegen, daß unsre prinzipielle Bereitschaft zu philologischen Textände­run­gen durch eine ebenso prinzipielle philologische Ängstlichkeit und ein immerwaches Miß­trauen gegen das notwendig Hypothe­tische aller Wissenschaft neutralisiert wird. Der eigentliche, der Hinter-Grund liegt tiefer. Auch wir übersetzen die Thora als das eine Buch. Auch uns ist sie das Werk eines Geistes. Wir wissen nicht, wer er war; daß es Mose war, können wir nicht glauben. Wir nennen ihn unter uns mit dem Sigel, mit dem die kritische Wissenschaft ihren ange­nommenen abschließenden Redaktor be­zeichnet: R. Aber wir ergänzen dieses R nicht zu Redaktor, sondern zu Rabbenu. Denn, wer er auch war und was ihm [401] auch vorgelegen haben mag, er ist unser Lehrer, seine Theologie unsre Lehre. Ein Beispiel: hätte die Kritik auch recht und waren Genesis 1 und 2 wirklich von verschiedenen Verfassern (worüber ich nicht entscheiden möchte, nachdem mir ein Mann wie B. Jacob gesagt hat. er glaube es nicht), so wäre auch dann, was uns von der Schöpfung zu wissen nottut, nicht aus einem der beiden Ka­pitel allein zu lernen, sondern erst aus ihrem Zusammenstehn und Zusammen­klingen. Und grade aus dem Zusammen­klingen ihrer anscheinenden Wider­sprüche, von denen die kritische Schei­dung ausgeht: also der „kosmologischen“, zum Menschen führenden Schöpfung des ersten und der „anthropologischen“ vom Menschen anhebenden Schöpfung des zweiten Kapitels. Erst dieses sauf maasseh bmachaschowo tchillo[2] ist die Lehre. Ein andres Beispiel: nicht der rauchende Sinai und das Kapitel der dreizehn middaus[3] allein kann uns lehren, was Of­fenbarung ist, sondern erst die Ver­flechtung dieser Berichte mit den mischpotim[4] und mit dem Zelt. Und so überall — ich käme an kein Ende.

Die andre Seite des Hinter-Grundes ist das Verhältnis zur Tradition. Auch hier trotz ganz verschiedener Glaubensgrund­lage Ähnlichkeit des Ergebnisses. Für Hirsch ist die mündliche Thora der aus der gleichen Quelle entsprungene Parallelstrom zur schriftlichen. Uns ist sie die Ergänzung der Einheit des geschriebenen Buchs durch die Einheit des gelesenen. Beide Einhei­ten sind gleich wunderbar. Der historische Blick entdeckt sowohl beim geschriebenen wie beim gelesenen Buch eine Vielheit: Vielheit der Jahr­hunderte, Vielheit der Schreibenden und Lesenden. Dem Blick, der nicht von außen auf das Buch blicken will, son­dern in innerer Verbundenheit und Zu­gehörigkeit, geht nicht nur die Einheit des geschriebenen Buchs auf, sondern auch die des gelesenen. Wie dort die Einheit der Lehre, so erfährt er hier die Einheit des Lernens, des eigenen Lernens mit dem Lernen der Jahr­hunderte. Die Tradition, hala­chische, doch auch haggadische, wird selber ein Element der Übersetzung. Nicht wie für Hirsch ein den Pschat[5] beherrschendes und bestimmendes, sondern, gemäß dem andern Glaubensgrund, ein den Pschat erweiterndes und ergänzendes. Ein Bei­spiel: Wir konnten uns nicht überzeugen, daß die traditionelle Deutung von Deu­teronomium 23,20f.[6] der Pschat ist: wir brachten es aber auch nicht übers Herz, diese Halacha, die ja einen un­mittelbaren Blick in das Innerste des Judentums erschließt, beiseite zu lassen; also wählten wir eine Übersetzung, die wie das Hebräische beide Auffassungen der Stelle zuläßt. Ein haggadisches Bei-[402] spiel: wir waren stark in Versuchung, die von der Kritik allgemein angenom­mene Lesart zu Exodus 17,16 (nes für kes) zu übernehmen; die Entscheidung für den massoretischen Text war wesent­lich bestimmt durch den Wunsch, dem großartigen messianischen Midrasch[7] zur Stelle nicht seinen Anknüpfungs­punkt zu nehmen. Auch da könnte ich in diesem „Plaudern aus der Werk­statt“ fortfahren und käme an kein Ende.

Aus diesen beiden Einheiten, der der schriftlichen, geschriebenen, und der der mündlichen, gelesenen, Thora, erwächst für den Übersetzer die Aufgabe eines Kampfs um die Wörtlichkeit der Termi­nologie, der in andern Übersetzungen kaum unternommen wird und der wohl das umschreibt was wir als unsre Ver­wandtschaft mit Hirschs Übersetzungs­unternehmen em­pfinden. Terminologie dabei verstanden in einem Umfang, der sowohl weiter als intimer ist gegenüber dem was sonst als terminologisch be­zeichnet wird. Denn es handelt sich nicht etwa nur um Begriffe wie rachamim[8] und dergl., sondern um anschei­nend ganz „untheologische“ Worte. So ist es etwa von grundsätzlicher Wich­tigkeit, daß die Fäden, die zwischen den erzäh­lenden und den gesetzlichen Teilen der Thora hin und her laufen, auch in der Übersetzung er­kennbar werden. Um ein Beispiel zu geben: es ist von größter Wichtigkeit, daß rekom[9] Ge­nesis 31,42, Exodus 3,21, Deuteronomium 15,13 mit einem gleichen und eigentümlichen Ausdruck übersetzt wird; nur so kann die berüchtigte Exodusstelle richtig ver­standen werden. — Ins Intime muß der Begriff der Terminologie ausgedehnt werden insofern, als er nicht nur auf die Worte, sondern oft auch auf die Wortwurzeln zu gehen hat. Etwa Levitikus 19,4 muß in elilim sowohl die Beziehung zu al wie die zu el spürbar werden.[10] Auch hier könnte ich viel­leicht aus jedem Vers ein Beispiel bringen. Aber für den, der Hebräisch kann, ist es ja nicht nötig; er merkt von selber, warum so und nicht anders über­setzt ist.

Und für den, der kein Hebräisch kann, bleibt es nun einmal eine „künst­lerische“ Übersetzung. Mit diesem Mißurteil, das die Übersetzung seit dem ersten Erscheinen begleitet, habe ich mich allmählich abgefunden. Ich bin schon froh, wenn es als Tadel gemeint ist und nicht, wie leider meist, als Lob. Eine lächerliche Verkennung bleibt es in beiden Fällen. Nicht um Schönheit geht es, sondern um Treue. Beurteilt soll [403] nicht ein „Kunstwerk“ werden, sondern eine Übersetzung, ihre Treue und Un­treue. Und anerkannt oder verworfen, im ganzen oder im einzelnen, der Glaube, der hinter der Treue, hinter ihrer Art und ihrem Grad, steht. Das darf, wenn nicht die Übersetzung, so doch gewiß das Übersetzte fordern.

Ich bin Ihr in Verehrung ergebener
Franz Rosenzweig.

Nachbemerkung.

Da ich weiß, wie Gedrucktes gelesen wird, füge ich dem Abdruck dieses Briefs noch ein Wort an. das zwar für den Leser, der aus dem Gelesenen erfahren will, was der Schreiber meint, ganz un­nötig ist; da es aber diesen Leser nur gegenüber Tinte gibt und Drucker­schwärze die magische Kraft hat, den 1-eser, jeden Leser, in einen zu ver­wandeln, der schon bei der Über­schrift, ja schon beim Namen des Verfassers ge­nau weiß, was er lesen wird, und wirk­lich nichts andres lesen wird als er weiß: so ist es doch nölig.

Das in dem Brief Gesagte meint nicht eine Scheidung zwischen „Wis­senschaft“ und „Reli­gion“. Diese Schei­dung, der vorletzte Schrei der protestan­tischen Theologie, scheint jetzt bei un­sern neusten „Irrationalisten“, mit dem beim Judentum nun einmal üblichen akademischen Vierteljahrhundert, dernier cri werden zu wollen. Er stammt von Kant — um so schlimmer für Kant! er stimmt sich auf die Barth- und Gogartenweis — um so schlimmer für Barth und Gogarten!

Wenn Wissenschaft und Religion nichts voneinander wissen wollen, aber doch voneinander wissen, taugt weder die Wissenschaft noch die Religion etwas. Es gibt nur eine Wahrheit. Zu einem Gott, den er als wissenschaftlicher Mensch leugnet, kann kein Ehrlicher beten. Und wer betet, kann Gott nicht leugnen. Damit ist noch nicht gesagt, daß der Gelehrte Gott in seinem Reagenzglas oder in seinem Aktenfaszikel feststellt. Aber der Inhalt des Reagenzglases so­wohl wie des Aktenfaszikels existierte nicht ohne Gott. Gott ist nicht Gegen­stand der Wissen­schaft, das ist die Welt. Aber Gott hat die Welt, also den Gegen­stand der Wissenschaft geschaffen. Er ist also, um es nun nicht mehr deutsch und also unverständlich, sondern in den Üblichen und also anscheinend gemeinverständlichen Fremdworten zu sagen, der Wissen­schaft zwar transzendent, aber auch transzendental: sie hat ihn nicht, aber sie wäre nicht ohne ihn; er ist nicht in ihr, aber sie ist unter ihm.

Das ist aber auch nicht ohne Konse­quenzen im Einzelnen. Das Wort von Helmholtz: er würde einem Optiker, der ihm einen solchen optischen Apparat wie das Auge anbrächte, ihn zurück­geben, könnte ein gläubiger Forscher nicht sagen; er würde zwar nichts gegen Heimholtzens Beurteilung des Auges als mangelhaften optischen Apparats einzu­wenden brauchen, aber er würde daraus folgern, daß also das Auge noch etwas andres ist als ein — optischer Apparat. Ein Beispiel andersherum: In der eng­lischen Geschichte kommt Ranke auf den Konflikt in Königin Mary zwischen dem Gefühl der Tochter und der Gattin zu sprechen und sagt: Ich glaube an die innere Wahrhaftigkeit der Menschen in großen innern Entschließungen. Ranke, der Begründer der modernen kritischen Methode, glaubt. — Und wie würde sich [404] ein ungläubiger Historiker verhalten? — Nun, eben ungläubig.

Nicht Glaube steht gegen Wissen, son­dern gläubiges Wissen gegen ungläubiges. Oder ei­gentlich, da ja eben dies die Legi­timation des gläubigen Wissens ist, daß es das ungläubige miteinschließt, während umgekehrt dem ungläubigen Wissen das gläubige unzugänglich bleibt: gläubig-ungläubiges Wissen steht gegen beschränkt ungläubiges. Im Fall des oben abge­druckten Briefs: ein Bemühen um die neuen („R“-Fragestellungen neben den alten „E“- und „P“-) Fragestellungen gegen ein auf die alten Frage­stellungen sich beschränkendes Erkennen. Und das Wort gläubig meint hier nicht ein dogmatisches Sichbinden, sondern ein totales, den ganzen Menschen umfassen­des Gehaltensein. Sodaß also der Ketzer gläubig in diesem Sinn sein kann und der Hochorthodoxe ungläubig. Etwa Graetzens nationales Verhältnis zur jüdi­schen Geschichte gläubig und Breuers juristische Ansicht der jüdischen Ge­schichte (ich sage bewußt: Ansicht, ich glaube, daß sein wirkliches Verhältnis gläubiger ist als seine Ansicht) — un­gläubig.

Quelle: Der Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland, Jg. 4 (1928-1929), Heft 4 (Oktober 1928), S. 400-404. Wiederabgedruckt in: Franz Rosenzweig, Die Schrift. Aufsätze, Übertragungen und Briefe, hrsg. v. Karl Thieme, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, o.J. [1964], S. 28-33.


[1] Talmudische Redensart, etwa: eine gute Meinung erschleichen.

[2] Zitat aus dem Sabbateingangshymnus Lecho daudi: der Schluß der Tat ist der Anfang im Gedanken.

[3] Die Gnadennamen Gottes, Ex. 34,6f., an die im Zusammenhang mit 33,12-23 die jüdische Religionsphilosophie bis auf Hermann Cohen hinab ihre tiefsten Einsichten über Gottes Offenbares und Verborgenes anschließt.

[4] Die „Rechtsprüche“, Kap. 21 ff.

[5] den schlichten Wortsinn.

[6] das die Tradition bekanntlich nicht vom Zinsen Nehmen, sondern vom Zinsen Geben versteht (nicht etwa nur unverbindlich apologetisch, sondern in vollster gesetzlicher Verbindlichkeit)!

[7] Das verkürzte Wort für Hochsitz (kes statt kisseh) und der verkürzte Gottesname (Joh statt Jhwh) seien das Zeichen dieser unserer Weltzeit, in der „Geschlecht zu Geschlecht“ der Kampf gegen „Amalek“ währe; wenn aber einst „Amalek“ gebändigt ist, dann ist „der Hochsitz vollkommen, der Name vollkommen“.

[8] Erbarmen.

[9] Leer, an den angeführten Stellen: lohnleer. Die traditionelle Erklärung des Heischens (nicht Leihens) der goldenen Geräte durch die aus Ägypten Ziehenden als des für die jahrhundertelange Knechtsarbeit geschuldeten Lohns ist erst durch B. Jacob (MGWJ. 68,281 ff,) aus einer Apologese zu einer wissenschaftlichen Exegese erhoben: die entlassenen Knechte heischen das Geschenk, das nach jüdischem Recht der Herr dem entlassenen Knecht als materielle Grundlage seiner freien Existenz zu geben hatte.

[10] al = ja nicht, el = Gott, elilim = Gottnichtse.

Hier der Text als pdf.

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