Friedrich Mildenberger über Wilhelm Vischers „Das Christuszeugnis des Alten Testaments“ (1981): „Christologische Auslegung des Alten Testaments verlangt so, sich in zweifacher Hin­sicht der Sache des Alten Testaments zu stellen: in Hinsicht auf die Lebendigkeit des unabgeschlossenen Geschichtszusammenhangs, der in neuen Situationen eine neue Beleuchtung verlangt, und in Hinsicht auf das Gefälle dieser Geschichte hin auf die Kreuzigung Christi.“

Über Wilhelm Vischers „Das Christuszeugnis des Alten Testaments“

Von Friedrich Mildenberger

Besonders energisch hat Wilhelm Vischer (geb. 1895) die Frage Barths nach der Sache der Bibel aufgenommen und versucht, sie nicht nur in grundsätzlichen Erörterungen, sondern auch in einer durchgeführten Auslegung zu fördern (vgl. insbesondere »Das Christuszeugnis des Alten Testaments«, I München 1934, II 1941). Dabei soll der Grundsatz gelten: »Das Alte Testament sagt, was der Christus ist, das Neue, wer er ist, und zwar so, daß deutlich wird: nur der kennt Jesus, der ihn als den Christus erkennt, und nur der weiß, was der Christus ist, der weiß, daß er Jesus ist« (Christuszeugnis 1,7). Diese Fragestellung mußte freilich die an literar­historische und religionsgeschichtliche Auslegung gewöhnten Exegeten seltsam anmuten. Zudem gewann dieser hermeneuti­sche Anstoß seine Verschärfung durch die Ablehnung des Alten Testamentes bei den Deutschen Christen. Diese Situation war einer Klärung nicht besonders günstig. Dabei erfaßte Vischer selbst durchaus die grundsätzliche Dimension des Problems, das da­durch gegeben ist, daß die neutestamentlichen Autoren das Alte Testament auf das Christusereignis beziehen. Wenn ihnen dabei recht gegeben wird, stellt sich das Problem des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament in einer doppelten Hinsicht.

Einmal muß dann die Frage nach der Geschichte erörtert werden, nach ihrem Zusam­menhang und ihrem Sinn. Gelöst ist diese Frage noch nicht, wo man sich auf die Grundsätze der modernen Wissenschaft für die Rekonstruktion alles historischen Ge­schehens einläßt. Gewiß finde die kritische Historie häufig eine Spannung zwischen dem alttestamentlichen Bericht und der Tatsächlichkeit des Berichteten. Aber das sei »eben ein Beweis der geschichtlichen Gebundenheit, der Menschlichkeit der alttestament­lichen Urkunden. Eine solche Feststellung kann überdies darauf aufmerksam machen, daß Geschehen und Geschichte zweierlei sind. Ein Geschehen ist dann Geschichte, wenn es erzählt wird, wenn das Faktum als Verbum ausgesprochen wird. Geschichts­schreibung ist darum immer ein Auswählen, ein Binden und Lösen. Gewiß liegt dann die große Gefahr aller Geschichtsschreibung. Aber wer es nicht auf diese Gefahr hin wagt, wird nie Geschichte schreiben, ob er gleich Bände voll ›Tatsachen‹ regi­strierte« (Das Alte Testament und die Geschichte, ZZ 10, 1932, 25). Diese allgemeine Feststel­lung zur Geschichtsschreibung muß ergänzt werden durch den Hinweis auf die beson­dere Bedeutung des Wortes im Alten Testament. Dieses Wort ist wirksames Geschehen von Gott her. »Und weil das eigentliche Faktum der Geschichte das Verbum Dei ist, darum ist die Geschichte für das Volk Lehre und Gesetz, Mahnung und Warnung. Befehl und Verheißung, Predigt an die Gegenwart. Als solche wird sie berichtet, Thora und Nebiim, Gesetz und Propheten« (a.a.O. 29). Hier kann es gar nicht die Distanz dessen geben, der als wissenschaftliches Subjekt Fakten rekonstruiert. Denn in der erzählten Geschichte ist immer der Anspruch des in der Geschichte und als Geschichte sich realisierenden Gotteswortes da. Das erst recht, weil der Lebenszusammenhang Israels wie der christlichen Kirche noch nicht abgeschlossen ist, die erzählte Geschichte darum nicht einfach Vergangenheit werden kann; die moderne Historie aber stellt die Geschichte als endgültig vergangene fest. Die Schriften, mit denen die alttestamentliche Gemeinde wie die neutestamentliche Kirche umgeht, sind darum lebendig. »Noch mehr: In dem eigentümlichen ganzheitlichen Denken weiß sich ein spätlebendes Geschlecht der Gemeinde dermaßen als ein Leib mit dem Gottesvolk aller Zeiten, daß es alte Geschichte als eigenes Erlebnis betrachtet, das nicht vergangen, sondern ein wesentli­ches Stück der Gegenwart ist.« Es verhalte sich hier ebenso wie bei der individuellen Lebensgeschichte, in der ja Vergangenes auch nicht einfach vorbei sei, sondern mit dem Fortgang des Lebens in höchst unterschiedlichem Licht erinnert und erzählt werde. Solches unterschiedliche Erzählen müsse aber nicht Entstellung sein (a.a.O. 38). Ist die Sache der Bibel Geschichte in diesem Sinne, dann muß von da aus der moderne Umgang mit Geschichte höchst kritisch gesehen werden.

Weiter muß bedacht werden, daß Jesus der gekreuzigte Messias ist. Das bedeutet, daß die Einheit von Altem und Neuem Testament in ihrem Christuszeugnis keineswegs offen am Tag liegt. »Auf Grund der Heiligen Schrift Alten Testaments hat der Hohe Rar der Juden Jesus zum Tode verurteilt. Jesus ist wohl das Telos des Alten Testaments, aber wohlgemerkt: als der gekreuzigte Messias. Jesus hat das Gesetz und die Propheten erfüllt, indem er sich von den Hütern des Gesetzes – hinrichten ließ« (a.a.O. 41). Nun entscheidet sicher nicht allein der Glaube über den Anspruch der Christenheit auf das Alte Testament. Der Schriftbeweis im Neuen Testament wird auch für Nichtglauber.ee geführt. Also muß sich im Alten Testament das Christuszeugnis finden lassen. »Falls wirklich Jesus in den Buchstaben des Alten Testaments verborgen eingeschlossen ist, dann müßte eine ehrliche philologische Exegese irgendwie darauf stoßen: nicht so, daß sie Jesus geradezu entdeckte, wohl aber doch so, daß sie etwa einen unerklärlichen Rest feststellen oder anerkennen müßte, daß die im Alten Testament ausgesprochener Gedanken und bezeugten Geschichten, so wie sie hier ausgesprochen und bezeugt sind, tatsächlich in die Richtung der Kreuzigung Jesu weisen, daß vor allem die Wahrheits­frage von dem, was hier steht, von dort her beantwortet wird« (a.a.O. 40). Dabei denkt Vischer nicht daran, den Anspruch der Synagoge aufs Alte Testament zu bestreiten. »Denn das Recht dieses Anspruchs ist der stärkste Beweis für die Wahrheit der Behaup­tung, daß nach der Schrift Jesus als der Christus getötet werden mußte« (a.a.O. 41).

Christologische Auslegung des Alten Testaments verlangt so, sich in zweifacher Hin­sicht der Sache des Alten Testaments zu stellen: in Hinsicht auf die Lebendigkeit des unabgeschlossenen Geschichtszusammenhangs, der in neuen Situationen eine neue Beleuchtung verlangt, und in Hinsicht auf das Gefälle dieser Geschichte hin auf die Kreuzigung Christi. Ob Vischer in der Auslegung diese doppelte Hinsicht immer durchhalten konnte, ist gewiß zu fragen. Aber er hat darin recht, daß im Glauben erzählte Geschichte anders aussehen muß als die rekonstruierte Geschichte der moder­nen Wissenschaft. Wer ist dann aber der kompetente Erzähler solcher Geschichte? Doch wohl der, der selbst dabei ist, dort, wo es um Glauben und Gehorsam und Leben, und um Ungehorsam, Gericht und Tod geht, aber auch dort, wo sich dieser einsichtige Zusammenhang umkehrt, wie das am Kreuz Christi endlich eindeutig herausgekommen ist.

Quelle: Friedrich Mildenberger, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz: Kohlhammer, 1981, S. 209-211.

Hier der Text als pdf.

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