Der arme Jesus. Über die Notwendigkeit einer verfremdenden Betrachtung biblischer Texte
Von Walter Jens
Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege. Matthäus 8,20
Ich stelle mir vor, irgendwo in Südkorea lebte ein Handwerker, ein nachdenklicher Mann, der, wegen eines politischen Vergehens ins Gefängnis gesperrt, während seiner Haft zum ersten Mal das Neue Testament läse: Zeile um Zeile, Kapitel um Kapitel, Wegzehrung für lange und längere Nächte; ich stelle mir weiterhin eine Frau in Tansania vor, die, hochbetagt, mit Hilfe der Evangelien das Lesen erlernte, und ich stelle mir schließlich einen jungen ceylonesischen Marxisten vor, einen unorthodoxen Anwalt des Sozialismus, der auf Trotzkis statt auf Lenins Fahne schwört und, und da ihn ein ebenso unbekanntes wie bedeutsames Werk christlich-marxistischer Provenienz, Rosa Luxemburgs anno 1905 unter dem Pseudonym Chmura (Wolke) geschriebener Traktat »Kirche und Sozialismus« beschäftigt, mit einem genauen Studium des Neuen Testaments beginnt: angeregt durch Chmura, der rosanen Wolke, Meditationen über den Unterschied von Religion und Dogmatik, biblischer Demut im Sinn von Gleichheit und Brüderlichkeit und kirchlicher Hierarchie, liest der Trotzkist mit der gleichen Unvoreingenommenheit und kritischen Begier wie der koreanische Handwerker und die alte Frau in Tansania, die über der Bibel zur Alphabetin wird – liest sie, die Bibel, unbeeinflußt von aller theologischen Entschlüsselungskunst, wie eine Geschichte, die wirklich genug ist, um möglich zu sein.
Was, frage ich, werden sie denken, die drei Leser, für die der Bericht von der Hochzeit zu Kanaan und von der Vision des ungläubigen Thomas den Charakter staunenswerter Lektüre hat: ein »Es war einmal«, dem es an feierlicher Beschwörung gebricht, weil Auferstehung und Fischfang, Flucht und Wunder, ein Feigenbaum und das Kreuz auf einer und derselben Ebene angesiedelt sind: weil die Taube unter den Himmeln mit der gleichen Selbstverständlichkeit vorgeführt wird wie der Ochs im Stall oder das Brot, das, wiederum, alltägliche Nahrung und heilige Wegzehrung, Brocken und Oblate zugleich sein kann.
Wie nüchtern und wie prall von Wirklichkeit nimmt sich, was hier beschrieben wird, aus, werden sie denken, die drei, und werden sich Wüste und Tempel, Mücken und Netze so genau vorstellen können, als läge Jerusalem nah bei Seoul, mitten in Afrika oder auf Ceylon: Bäuerliche Gleichnisse, Fischergeschichten, Fangfragen, wie sie die Intellektuellen lieben, die Worteverdreher im Schulhaus und den Gemeindezentren der Partei – alles lebensnah und mühelos vom Einst ins Jetzt übertragbar.
Hohe Rede neben schlichtem Fingerzeig, fromme Setzung Seit an Seit mit Marktplauderei; das Bescheidene, Leiblich- Konkrete, eingeschmuggelt ins Hymnisch-Spirituelle: »Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung.« »Seltsam«, werden sie denken, die drei, die das Evangelium, zum ersten Mal, staunend und erwartungsfreudig, mit frischem Blick und einem gerüttelt Maß Skepsis lesen, »seltsam, wie konsequent hier einer, der betet, vom heiligen Namen aufs Himmelreich, von Gottes Willen auf Schuld und Erlösung, den Wechselbezug zwischen Himmel und Erde, Versuchung und Bewahrung kommt – und dazwischen dann plötzlich: Bedürftigkeit des Leibes, Sättigung durch das Brot, ein Hinweis auf die Speise, derer der Mensch bedarf, zwischen Morgen und Abend.« Ein Hauch von Nüchternheit im Zentrum geistiger Rede: Unser täglich Brot gib uns heute. Wären sie Theologen, die drei, sie würden bei der Auslegung von Matthäus 5, Vers 9 bis 13 darüber staunen, daß ausgerechnet der Zentral- und Mittelvers das Bescheidenste evoziert: Brot für den Tag, und damit dem Materiellen jene Wichtigkeit gibt, die sich exemplarisch in der geistig verwegensten Schrift auf den Begriff gebracht sieht, die die deutsche Literatur kennt, in Schillers »Aesthetischen Briefen«, worin es heißt: »Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er satt gegessen hat, aber er muß satt zu essen haben, wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll.« Nagel und Distel, Ackerkrume und Weinkrug, Futterraufe und verrosteter Beschlag: Das Allerkleinste ist es – werden unsere drei denken-, das Sinnfällig-Reale, was den biblischen Berichten ihre Glaubwürdigkeit gibt und Jesus von Nazareth, diesen in konkreter Besonderheit geschilderten Menschen zum großen Schattenwerfer über die Zeiten hinweg macht – wäre er »allgemeiner«, »zeitloser«, »ubiquitärer« geschildert, sein Schatten hätte längst Kontur und Farbe und damit jenes ureigene Profil verloren, das ihn, so bescheiden es ausgemalt ist, dort überdauern läßt, wo das Erhaben-Allgemeine verblaßt.
Welch ein seltsamer Mensch, werden sie sagen, die drei: unter den Himmeln und im Staub, den Wolken nah, aber auch dem Gewürm, sehr weit entfernt und uns zugleich hautnah verbunden, arm geboren, elend gestorben, gejagt von Kindheit an – ein Mann, dessen Besonderheit erkennbar wird, wenn man sich vorstellt, was ihm alles nicht zuteil geworden ist: Geburt im elterlichen Haus, Heranwachsen unter den Freunden; Einssein mit Verwandten und Nachbarn; Marktgespräche, Plaudereien am Brunnen; die Hochzeit und der Beruf, Altwerden unter Kindern und Enkeln und ein Tod nach Abrahams Weise – Jesus, der Zimmermann und Lehrer des Volkes, beschrieben im Stil des Alten Testaments: ein wiedererstandener Joseph zum Beispiel, der, in die Grube gefahren, die Höllenfahrt nur gleichnishaft durchmacht und, nach kurzer Nacht, ein langes Licht anschauen darf.
Und statt dessen nun: die Futterraufe als Wiege und der Galgen als Totenbett; statt dessen die Straße und nicht der herodianische Palast, statt dessen die kleinen Leute, der Troß der Frauen, die Sünder und Zwielichtsgestalten, ein Hofstaat, der eher zu Don Quichote und Sancho Pansa als den Artus-Rittern, den Reinen und Feinen im Umkreis des Grals, paßt: Da wird gezecht, gehurt und geschachert, da sind die im Dunkel versammelt und nicht die im Licht; da wird jeder Schritt von Spitzeln, römischen und jüdischen Zuträgern, verfolgt; da geht’s einem schlecht, den die Großen mißachten und die Kleinen nicht minder – einem, über den die Hauptstädter die Nase rümpfen – als Kasper allenfalls mag Jesus bei einem Herodes passieren – und mit dem die Dörfler, die Eigenen, am liebsten kurzen Prozeß machen möchten: »Und standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn auf einen Hügel des Berges, darauf ihre Stadt gebaut, daß sie ihn hinabstürzten.«
Jesus von Nazareth, würden die drei sagen (die von Augustin so wenig wüßten wie von Luther und Bultmann, sich aber dafür auf ergriffenes Lesen verstünden; Lesen im Stil des Barlachschen Klosterbruders: versunkenes Dabeisein, präsente Verzauberung) … Jesus von Nazareth, ein Sohn der Nacht, Bruder der Sterne und nicht der Sonne, war einer von uns: die Mühseligen und Beladenen preisend, weil er zu den Mühseligen und Beladenen gehörte; die leidenden und Verfolgten, Friedfertigen und Barmherzigen lobend, weil er zum Lager der Leidenden, Verfolgten, Friedfertigen und Barmherzigen gehörte; die Geängstigten tröstend, weil er selbst ein Geängstigter war – immer allein: von Freunden verlassen; immer in der Wüste und nicht in den Städten; Jesus der Preisgegebene: Während er litt und klagte und am Ende aufbrüllte vor Schmerzen, wurde um ihn herum geschlafen und gelogen und unter den Himmeln geschwiegen.
Jesus, der Elende: ein Mensch, der Tiere, Füchse und Vögel beneidet – er, der von den Häschern, aber auch von verwegenen Gerüchten verfolgt wird und die Menschen »von sich schaffen muß«, um beten zu können.
Jesus, der Schuldige: Wie viele Kinder, werden die drei Lesenden sagen, mußten sterben, damit ein Auserwählter überlebte (überlebte, um gekreuzigt zu werden!); wie viele Menschen, die in die Verderbensstrudel des Einen gerieten, haben ihn, den Unschuldigen, der sich schuldig machte, verflucht: die Eltern, die mitansehen mußten, wie ihre Kinder niedergemacht wurden, nicht anders als der auferweckte Lazarus, der Jesus (könnten unsere drei denken) verflucht haben mag, weil er wußte, wie entsetzlich es ist, in die Grube fahren zu müssen und dies – dem Wundertäter zu Dank! – ein zweites Mal: am Ende tagtäglich erfahrener Todesalpträume!
Lazarus als Ankläger Jesu – wie anders lesen sich die um- und umgewendeten Geschichten, wenn man sie, aus verfremdender Perspektive, mit dem frischen Blick unserer drei Führfiguren betrachtet; wenn der schuldige, der leidende, der einsame, der gejagte, der bedrohte und gefolterte Jesus ins Blickfeld gerät: einer, der die Menschen anfährt »Sagt es nicht weiter, ich beschwöre euch, was ich an Wundern vollbrachte!«; einer, der versagt, wo ihm, wie in der Vaterstadt, Feindschaft begegnet; einer, der weinen macht und verstummt – immer weniger Worte und am Ende dann nur noch der Schrei und das Schweigen.
Jesus, der Bruder in einer Welt, in der, in argentinischen Todeszonen, den Folterkammern El Salvadors und den Arbeitslagern der Sowjetunion, Gethsemane und Golgatha so gegenwärtig wie Majdanek und Treblinka sind. Jesus mit der gestreiften Jacke, dem J auf dem schäbigen Linnen, Jesus, der Jud: heimgeholt in die Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts; Jesus, der, anders als in Dostojewskis Gleichnis vom Großinquisitor nicht hinaus, nicht in die Freiheit gejagt, sondern auf die Rampe geschickt worden wäre, zuerst in den Steinbruch, dann in die Kammern, von Weihrauch umgeben, der aus Zyklon-B-Schwaden besteht. Ja, so sieht er aus, unser Nächster, werden die drei Lesenden sagen, so in einer Welt, in der es immer weniger Menschen gibt, die Folterung und gewaltsamen Tod, das Erwürgen und das Versaften, nicht als tagtägliche Drohung erleben.
Und da frage ich mich nun: Was werden sie denken, die drei, in Südkorea, Tansania und Ceylon, wenn man ihnen erzählt, daß der Name des Verstummten mit dem gelben Fleck – denn er war ja Jude: Inbegriff eines Preisgegebenen… was werden sie sagen, wenn sie erfahren, daß der Name des Bruders und Opfers heute dazu herhaken muß – und zwar unter den Eigenen, die sich seine Gefolgsleute nennen! Macht zu befördern, Schrecken zu verteidigen, Autorität zu verherrlichen, Erfolg anzubeten, Angst zu verketzern, Armut zu übersehen? Jesus von Nazareth dem Gespött preisgegeben! Der Ohnmächtige verhöhnt in einer Kirche, die mächtig ist! Der Mann, der die Wechseltische umstieß, verlacht in einer Kongregation, die sich auf Aktiengeschäfte und Börsentransaktionen versteht! Der Anwalt des Friedens ausgezischt in einer Klerikerschar, wo viele den Verzweifelten, die da fragen: »Und wenn ich von Jesus wissen wollte: Soll ich sie werfen, die Bombe? Was würde er sagen?« väterlich zunicken, absolvo te, mi fili.
Feindesliebe zum Haß auf den Bösen entstellt, die Bergpredigt in eine Bilanz verwandelt, gemeinsam Dienende in Oberkirchenräte, Diakone, Päpste, Bischöfe, Vikare, Prälate und Haufen gemeinen Volkes zerteilt; aus demokratischen Mustern autoritäre Strukturen entwickelt; den Triumphalismus der Sieger an die Stelle der Leiden eines Besiegten gesetzt; das Honoratioren-Dasein – Herr Pfarrer in der ersten Reihe, dem Bürgermeister zur Seite – gegen die jesuanische Rolle des Letzten eingetauscht, der im Dunkel auf der Armesünderbank sitzt.
Und warum das alles, werden sie fragen, unsere drei Leser, warum die Domestizierung des Armen und Fehlbaren durch die Vertreter der Macht? Warum die Trennung des Plebejers von den Eigenen; warum die Einordnung des Gewaltlosen an der Seite der Gewalthaber? Warum die Versetzung des Nachtkinds unter die Sonne von Wohlstand, Prunk und Erfolg? Warum schließlich die millionenfache Wiederholung des Petrus-Worts »Ich kenne den Menschen nicht« von Seiten der Amtskirche in einem Augenblick, da in Lateinamerika Märtyrer minütlich die mors turpissima Jesu erleiden?
Nun, ich bin sicher, die drei Lesenden werden die Antwort auf die Fragen wissen, warum Jesus von Nazareth, preisgegeben nunmehr von den Eigenen, noch immer am Kreuz hängt:
Der menschlichste Gedanke, der je gedacht worden ist – ist, eben deshalb, unerträglich für uns: unerträglich, weil er, in der Umkehr traditioneller Wertsysteme, besagt, daß allein Kreuzesnähe, Leidensvorstellung und Mit-Leidenskraft über den Rang eines Menschen befinden, die Nähe zur Nacht und zur Wüste, zur Einsamkeit und Verzweiflung, daß dem Christen »Niederlage« für »Würde« steht, »Ohnmacht« zum Garanten von Glaubwürdigkeit wird, »Anfechtung« als conditio sine qua non des Glaubens erscheint und Dienst sehr viel, Sich-Bedienen-Lassen hingegen weniger als nichts bedeutet.
Die große jesuanische Kehre ist es, diese Negation des puritanischen Tugendsystems, die Erfolg im Sinn des »Hast du was, bist du was« zum Gespött macht und Selbstgewißheit christlicher Politiker Teufelskunst sein läßt: Wo die Ersten nicht die Letzten geworden sind, bleibt Jesus, der Bruder, draußen vor der Tür.
Und das eben wissen die Ersten, und darum, so das Fazit unserer drei Leser, fürchten sie den Nazarener, und da sie ihn fürchten – ihn, den Menschensohn, der das alter ego von Millionen Gefolterter ist-, darum verwandeln sie ihn in ihren Komplizen, machen den Geschundenen (und mit ihm den leidenden Vater) zum Teilhaber ihrer Siege auf dem Feld von Krieg oder Diplomatie und rücken, mit dem Christus der Konzilien, dieser zweiten Figur der Trinität, über die sich so urban und kenntnisreich parlieren läßt, den Schmerzensmann aus dem Blick: »Dogmen«, heißt es bei Kurt Marti, »machen ihn dingfest, Herrschaft legt ihn aufs Kreuz, Begriffe nageln ihn fest, Kirchen hissen ihn hoch!«
Unsere drei Leser jedoch werden den Blick nicht erheben zur Siegesfahne der Kirche. Sie wissen nämlich: Die Ruhestatt für jenen Einen, der die Füchse um ihrer Gruben und die Vögel um ihrer Nester willen selig pries: sic ist nicht in der Höhe, sondern mitten unter uns. In Staub, Blut und Not gewinnt Jesus von Nazareth mit der Distelkrone, dem Mantel aus rotem Papier und dem gelben Stern, auf dem J steht, die Majestät des Bettlers, den die Mächtigen fürchten, weil er, der Unbehauste, eben darum der Allgegenwärtige ist: der Bruder, der, statt des Richtschwerts, die Scherbe hält, das Stück Glas, das uns spiegelt und uns, halbblind und verstaubt wie es ist, zum Gericht wird: Aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege.
Gehalten am 25. Mai 1983 aus Anlaß des Symposions »Ein neues Paradigma von Theologie?« in der Kirche zu Bebenhausen.
Quelle: Walter Jens, Kanzel und Katheder. Reden, München: Kindler, 1984, S. 135-142.
Ein grosser
Teil der Menschheit
ist in Armut
Unschuldige
Frauen und Kinder
sind die Leidtragenden
von Hunger
Not und Krieg