Hannah Arendt über die Versöhnung (aus ihrem Denktagebuch vom Juni 1950): „Nur wenn man nicht mit der verlogenen Lautverstärkung, als sei die eigene Stimme Gottes Stimme, urteilt, kann man ein Leben ohne Rache und Verzeihung, die ja beide Gottes Zorn und Gottes Gnade nachzuahmen vorgeben, aushalten.“

Über die Versöhnung

Von Hannah Arendt

Juni 1950

Das Unrechte, das man getan hat, ist die Last auf den Schultern, etwas, was man trägt, weil man es sich aufgeladen hat. Dies gegen den christlichen Sündenbegriff, wonach das Unrechte aus einem hervorgestiegen ist, als Sünde in einem verbleibt und den bereits potentiell affizierten inneren Organismus vergiftet, sodass man Gnade und Vergebung braucht, nicht um ent-last, sondern um gereinigt zu werden.

Die Last, die man sich selbst auf die Schultern geladen hat, kann einem nur Gott abnehmen. Christen aber niemals. Verzei­hung gibt es nur unter prinzipiell qualitativ voneinander Ge­schiedenen, also: Die Eltern können den Kindern verzeihen, solange sie Kinder sind, wegen der absoluten Überlegenheit. Die Geste der Verzeihung zerstört die Gleichheit und damit das Fundament menschlicher Beziehungen so radikal, dass eigent­lich nach einem solchen Akt gar keine Beziehung mehr möglich sein sollte. Verzeihung zwischen Menschen kann nur heissen; Verzicht, sich zu rächen, schweigen und vorübergehen, und das heisst: der grundsätzliche Abschied – während Rache immer nah am Anderen bleibt und die Beziehung gerade nicht abreisst. Verzeihung, oder was gewöhnlich so genannt wird, ist in Wahr­heit nur ein Scheinvorgang, in dem der Eine sich überlegen gebärdet, wie der Andere etwas verlangt, was Menschen einan­der weder geben noch abnehmen können. Der Scheinvorgang besteht darin, dass dem Einen scheinbar die Last von den Schul­tern genommen wird von einem Andern, der sich als unbelastet darstellt.

Versöhnung dagegen hat ihren Ursprung im Sich-abfinden mit dem Geschickten. Dies muss unterschieden werden von der fundamentalen Dankbarkeit für das Gegebene. Mit dem Geschickten, weil es sich als Schicksal zeitlich auseinanderlegt, muss ich mich immer erst versöhnen, während ich mich mit dem Gegebenen, auch mit mir selbst, sofern ich auch mir gegeben worden und nicht von mir selbst gemacht worden bin, ein für allemal abfinden muss. Dieses Sich-abfinden kann im Modus der grundsätzlichen Dankbarkeit – dass es überhaupt für mich so etwas wie Sein gibt – oder im Modus des grundsätzlichen Res­sentiments – dass Sein überhaupt so etwas ist, was ich nicht selbst machen kann und nicht gemacht habe – vor sich gehen.

Versöhnung mit dem Geschickten ist nur auf der Grundlage der Dankbarkeit für das Gegebene möglich. Versöhnung mit dem Andern ist zwar kein Scheinvorgang, denn sie gibt nicht vor, Unmögliches zu leisten – verspricht nicht die Entlastung des Andern und spielt nicht eigene Unbelastetheit –; aber dafür geschieht auch in der Versöhnung verzweifelt wenig: Der sich Versöhnende lädt sich einfach die Last, die der Andere ohnehin trägt, freiwillig mit auf die Schultern. Das heisst, er stellt Gleichheit wieder her. Dadurch ist Versöhnung das genaue Gegenteil der Verzeihung, die Ungleichheit herstellt. Die Last des Unrechts ist für den, der es begangen hat, das, was er sich selbst auf die Schultern geladen hat; dagegen für den, der sich versöhnt, das, was ihm geschickt wurde.

Alles sieht natürlich anders aus auf der Grundlage der Erb­sünde. Dann ist Verzeihung vielleicht möglich, insofern sie nur die ausdrückliche Anerkennung des Wir-sind-alle-Sünder ist, also behauptet, dass jeder jedes hätte tun können, und auf diese Weise eine Gleichheit – nicht der Rechte, sondern – der Natur herstellt: Pharisäertum ist dann die Anmassung, die Gleichheit der Menschen nicht anerkennen zu wollen.

Als sich entsprechende Gegensätze gehören Verzeihung und Rache zusammen. Der Verzeihende verzichtet darauf, sich zu rächen, weil er ja auch hätte schuldig sein können. Der Rächen­de wünscht nicht zu verzeihen, weil er ja das Gleiche tun kann, was man ihm angetan hat. Di« ist eine An negativer Solidarität, die aus dem Begriff der Erbsünde, d. h. aus der Vorstel­lung, dass wir alle vergiftet geboren sind, entspringt.

Der entsprechende Gegensatz der Versöhnung ist der abge­wendete Blick – schweigen und vorübergehen. Die Versöhnung versöhnt sieh mit einer Wirklichkeit, unabhängig von aller Mög­lichkeit. Die Rache kann zwar die Wirklichkeit auch nicht ein­fach auslöschen, aber überspringt sie, indem sie aus der Realität des Erleidens sofort die Re-aktion macht. Reaktion ist wahr­scheinlich der äusserste Gegensatz der Aktion. Von nun an spielt sich alles im rein Subjektiven, Re aktiven ab, Genau das Gleiche gilt für die Verzeihung, die auch dies ist vom Verzei­henden wie von dem, der um Verzeihung bittet, intendiert – den hybriden Versuch macht. Geschehenes ungeschehen zu machen.

Mit anderen Worten, in der Verzeihung und in der Rache wird das, was der Andere getan hat, zu dem, was ich selbst hätte tun können, beziehungsweise tun kann. In der Versöhnung oder dem Vorübergehen wird das, was der Andere getan hat, zu dem, was mir nur geschickt ist, das ich akzeptieren kann oder dem ich, wie jeder Schickung, aus dem Wege gehen kann. Das Wesentliche ist einmal, dass Wirklichkeiten nicht in Möglich­keiten zurückverwandelt werden und dass andererseits keine Selbst-Reflexion auf eigenes Schuldigwerden-können statthat.

Politisch gesprochen setzt die Versöhnung einen neuen Be­griff der Solidarität. Innerhalb der christlichen Welt ist in der Tat die Alternative zwischen Verzeihung – d. h. christlichem Ver­zicht auf irgendein Tun in der Welt – und der Re-aktion der Ra­che unausweichlich. Beides entspringt der christlichen Solidari­tät zwischen Menschen, die allzumal Sünder sind und sich selbst wie ihren Mitmenschen alles, auch das Böseste Zutrauen. Es ist eine Solidarität, gegründet auf dem fundamentalen Misstrauen in die menschliche Substanz.

Die Solidarität der Versöhnung ist vorerst nicht das Funda­ment der Versöhnung (wie die Solidarität des Sündigseins das Fundament der Verzeihung ist), sondern das Produkt. Die Ver­söhnung setzt handelnde, und möglicherweise Unrecht tuende, Menschen, aber keine vergifteten Menschen voraus. Übernommen als Last, die der Andere verursacht hat, wird nicht die Schuld – d. h, ein psychologischer Fakt –, sondern das wirklich geschehene Unrecht. Man entschliesst sich, mit-verantwortlich zu sein, aber unter keinen Umstanden mit-schuldig.

Diese Eliminierung der Schuld im Solidaritätsbegriff kann auf der einen Seite es den Völkern sehr erleichtern, sich zu versöhnen, weil ihnen die Qual der Möglichkeit – die Qual, sagen zu müssen: Auch dies ist menschlich, mit der falschen (vergifte­ten) Folgerung, auch dies hatten wir tun können – erspart bleibt. Aul der anderen Seite hat die Versöhnung eine unbarmherzige Grenze, die die Verzeihung und die Rache nicht kennen – näm­lich an dem, wovon man sagen muss: Dies hatte nie geschehen dürfen. Dies hatte Kant im Auge, als er die Regeln für den Krieg formulierte, in dem keine Handlungen Vorkommen dürften, die einen späteren Frieden zwischen den Völkern unmöglich machen würden.

Das radikal Böse ist das, was nicht hatte passieren dürfen, d. h, das, womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf. Es ist das, wofür man die Verantwortung nicht übernehmen kann, weil seine Folgerungen unabsehbar sind und weil es unter die­sen Folgerungen keine Strafe gibt, die adäquat wäre. Das heisst nicht, dass jedes Böse bestraft werden muss; aber es muss, soll man sich versöhnen oder von ihm abwenden können, bestraf­bar sein.

Rache und Verzeihung können zwar bestrafen, aber da sie von der sündigen Natur des Menschen ausgehen, d.h. davon, dass jeder möglicherweise jegliches begangen haben kann, kön­nen sie eigentlich nicht urteilen. Sie können nur wider-tun oder verzeihen. Daher haftet der Strafe im christlichen Rechtssystem immer noch das jüdische Element der reinen Vergeltung an. Die Versöhnung oder das Abwenden des Blickes dagegen setzt Urteil voraus – und das ist das eigentlich Furcht-einflössende: dass wir imstande sein sollen zu urteilen, ohne Einfühlung, ohne die Voraussetzung der Möglichkeit, ohne Reflexion auf uns selbst.

Solches Urteilen wiederum ist möglich nur, wenn man eine Gottesvorstellung hat, die nun in vollem Ernst dies offen lässt, d.h. wenn man in nur menschlichen Masstäben urteilt und dabei ausdrücklich offen lasst, dass Gott alles vielleicht gar nicht und vielleicht ganz anders beurteilt. Nur wenn man nicht mit der verlogenen Lautverstärkung, als sei die eigene Stimme Gottes Stimme, urteilt, kann man ein Leben ohne Rache und Verzeihung, die ja beide Gottes Zorn und Gottes Gnade nachzuahmen vorgeben, aushalten.

Hannah Arendt, Denktagebuch, Bd. 1: 1950-1973, herausgegeben und transkribiert von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München: Piper, 2002, S. 3-8.

Hier der Text als pdf.

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