Paul Ludwig Landsberg über den Stierkampf als Sinnbild tödlichen Lebens (Die Erfahrung des Todes, 1935): „So enden wir alle hienieden mit dem Tode. Jeder Kampf gegen ihn ist im voraus verloren. Der Glanz eines solchen Kampfes kann nie in seinem Ausgang liegen, sondern nur in der Würde der Handlung selbst. Das Definitive ist das Unvermeidliche.“

Vom Stierkampf als Sinnbild tödlichen Lebens

Von Paul Ludwig Landsberg

Von Mai 1934 bis Juli 1936 unterrichtete Paul Ludwig Landsberg an der Universität Barcelona. In seiner Schrift „Die Erfahrung des Todes“, die 1935 in spanischer Übersetzung unter dem Titel „Experiencia de la Muerte“ veröffentlicht wurde, interpretiert er den Stierkampf auf das menschliche Todesschicksal hin:

Das Leben des Menschen ohne Gott gleicht einer Tragödie, wenn man nicht diesen oder jenen Augen­blick seines Verlaufs isoliert ins Auge fasst, sondern sich seine Gesamtstruktur und sein Ende zum Be­wusstsein bringt. Es ist schwer, diese Anschauung vom Ganzen zu verwirklichen. Wir versuchen, sie zu verbildlichen, indem wir den symbolischen Sinn eines überlebenden Mysteriums des Heidentums zu deuten suchen, des iberischen Stierkampfes. Hier ist für uns eine bedeutende Chiffre lesbar geworden.Das Heidentum ist traurig im Grunde, und die wirkliche Erfüllung der Hoffnung, welche den Kern der menschlichen Existenz ausmacht, kann sich nur durch das Versprechen der Ewigkeit und der Aufer­stehung vollziehen.

Der Stier, der in die Arena eintritt, weiß nichts von dem, was ihn erwartet. Freudig entläuft er der Dunkelheit seines Gefängnisses und empfindet wie­der die Fülle seiner jugendlich kraftvollen Vitalität. Geblendet vom plötzlichen Licht, ist er Meister des geschlossenen Kreises, der seine Welt wird und der ihm noch eine grenzenlose Ebene zu beschließen scheint. Heftig peitscht sein Schwanz den Sand, trabend durchläuft er die Arena nach allen Rich­tungen, ohne anderes Fühlen als die Freude seiner Kraft. – Nicht anders kommt das Menschenkind aus dem Schoße der Mutter, und beginnt alsbald in einer lichtvollen Welt zu spielen, die ihm noch sein Schicksal und ihre Gefahren verbirgt.

Die ersten Gegner kommen an. Noch ist es Spiel. Dem Stier ist der Kampf natürlich. Das beginnende Gefecht steigert die Empfindung, die er von seinem Leben und von seinen eigenen Kräften hat. Die klei­nen Ungelegenheiten des Beginns dienen dazu, seine Wut hervorzurufen. Das ist allmählich schon die Wut des Starken, der erst gereizt sein Kräftemaß verwirk­licht. Der Kampf weckt und verwirklicht die bruta­le Angriffskraft, die das tägliche Leben der Prärie verborgen gehalten hat. Noch kein unangenehmes Empfinden stört gar zu sehr das Spiel. Aber langsam tritt ein peinliches Geschehen in Erscheinung. Das Spiel ist gefälscht. Zu listig ist der Gegner. Er provo­ziert und entflieht alsbald. Schwächer an sich wird dieser Gegner zum Stärkeren durch Plan und List. Quälend wird das Rot der geschwungenen Tücher, ist schon nicht mehr nur eine willkommene Gele­genheit, sich zu schlagen. – So hat der Jüngling in der Schule und anderwärts seine ersten Begegnun­gen mit einer listigen Welt, gegen die die Ehrlichkeit seiner Kraft wenig vermag. Aber die ersten Enttäu­schungen der Jugend sind noch nicht allzuschwer.

Für den Stier beginnt der wahre Ernst mit dem Eintritt in den Ring seiner zentaurischen Gegner. Von ihren Pferden herab verwunden ihn die »pica­dores« mit ihren Lanzen, die weithin reichen. Der Stier greift an, und seine Wut verwandelt sich und überschreitet sich selbst. Das ist nun schon jene schmerzliche, großartige, verblendende Wut, in der der Höhepunkt des Rasens heimlich aus vitaler Ver­zweiflung hervorzugehen scheint: Wut, die erstarkt durch ein ständiges Übertönen dieser Verzweiflung. Es ist der Unschuldige, es ist das arme alte Pferd, das vorzüglich leiden muss unter dieser Erbitterung. Der listige Picador entfernt sich lächelnd aus dem Ring nach der Erfüllung seiner blutigen Arbeit. – So tritt der Mensch in den Ernst des Lebenskampfes ein. Niemals kann er das Böse besiegen. Wenn er einen seiner Gegner niedergeworfen hat, so hat er auch nur einen Unschuldigen niedergeworfen. Es gibt schließlich nur Unschuldige. Unsere Gegner sind auch nur die Masken jenes Bösen, das wir nie­mals töten werden.

In diesem Augenblick ist der Stier noch stark ge­nug. Aber von jetzt ab scheinen ihm die Reserven zu fehlen. Er scheint wohl stärker, als er in Wahrheit noch ist. Das Leben in ihm hat begonnen, an sich selbst zu zweifeln. Schwer haben ihn die Lanzen verwundet, und das Blut rinnt. Eben jetzt muss ein Zwischenspiel die Handlung verzögern. Man wird ihn schmücken, indem man ihn wieder verletzt. Der unerschrockene Kämpfer wird durch eine seltsa­me Krönung zugleich verherrlicht und verspottet. Man setzt die »banderillas«. So muss das heroische Tier zum beinahe lächerlichen Vorwand dienen für den eleganten Tanz des Menschen, der ihm diesen schmerzhaften Kopfschmuck aufsetzt: des »ban­derillero«, der seine Waffen einpflanzen kann in das Fleisch des Tieres, trotz seiner eigenen Angst, dank der Größe und Schwere selbst des Angegrif­fenen. – So gelangt der reife Mensch zu Erfolg und Ruhm, eben im Moment, wo er schon geschwächt ist von den Verwundungen des Lebens. Im Grunde aber ist der Ruhm dieser Welt nur eine besonders intime Verwundung, ein traditioneller und beinahe lächerlicher Schmuck, ein leeres Schauspiel des Sie­ges. Nein, der Mensch hat nicht gesiegt. Niemand ist Sieger in dieser Welt. Man tut so, als ob es ei­nen Sieger gäbe, als wenn der wahre Ruhm in der Hand der Menschen wäre. Heißt das nicht einen Menschen verhöhnen? Der Stier zum wenigsten glaubt nicht an seine neue Würde. Hat er vielleicht das Vorempfinden, dass die Welt vor allem ihre Op­fertiere verherrlicht?

Mit dem Matador, dem Hohenpriester und Mystagogen dieser Feier, betritt der Tod selbst die Arena. Da ist er! Er wohnt dem schlanken, schönen, unvermeidlichen Degen inne. Er ist verborgen un­ter dem aufstörenden Rot des Tuches; aber nur dem verborgen, dem er bestimmt ist. Die Anderen sehen ihn, diesen Tod. Und der geschwächte Stier gerät, wie unter ihrem Einfluss, in Angst. Und diese Angst wiederum überwindend, tritt er ein in den Ernst des zweiten Grades, tritt er ein in den definitiven Ernst, nun nach dem tragikomischen Zwischenspiel. Die Tragödie beginnt. Oder vielmehr der tragische Cha­rakter des Ereignisses wird endlich offen sichtbar. Ein guter Stier bleibt würdig, bleibt ein Kämpfer bis zum Ende. Ich glaube nicht, dass er noch eine wirk­liche Hoffnung zu siegen besitzt. Diese Vitalität, so gering ihre Intelligenz ist, ist doch keineswegs unfä­hig einer dunklen Empfindung von dem Verhängnis, das herannaht, Empfindung und Ahnung, die plötz­lich erstarkt ist in den Abenteuern dieser zwanzig Minuten, die ein Leben enthalten. Man kämpft, man greift an, man flieht, man kommt wieder, es gibt Erfolge und Verluste auf beiden Seiten, auch bleibt der Kampf keineswegs rein körperlich. Sich in seinem Willen sammelnd, sucht der Matador das Tier zu führen, es zu beherrschen, es schließlich in jene einzige Position zu setzen, die seinen Stoß un­mittelbar tödlich machen kann. Die rote Fahne des Todes, die er schwingt, wird Herr über das Tier, das gezwungen ist, ihm zu folgen, wie sich ein Lieben­der unter dem Zauber einer beherrschenden Gelieb­ten bewegt. Und plötzlich ist der Stier am Boden. Sein mächtiger Körper trägt den Degen wie ein End­zeichen, einen stolzen und verzweifelten Schrei des Finales. Einige Augenblicke scheint er noch wider­stehen zu können. Aber der Tod erfüllt sich: Dieser Tod, der schon so lange gegenwärtig war, identifi­ziert mit dem Degen, identisch mit seinem Urheber, dem Matador selbst, der den Degen führt. Das tote Tier wird fortgeschleift wie eine Sache, und im glei­chen Augenblick stürzt ein neues hervor.

So enden wir alle hienieden mit dem Tode. Jeder Kampf gegen ihn ist im voraus verloren. Der Glanz eines solchen Kampfes kann nie in seinem Ausgang liegen, sondern nur in der Würde der Handlung selbst. Das Definitive ist das Unvermeidliche.

Im Geschehen des Stierkampfes hat das Tier die Rolle des Menschen inne, und der kämpfende Mensch übernimmt die Rolle einer Gottheit oder ei­nes Erzengels, die Rolle des Dämons. Er rächt sich, unter dem Joche des Verhängnisses zu sein, indem er sich selbst zum Verhängnis eines Andern macht. Dies eine Mal ist er es, der weiß und der voraus­sieht, weil er es ist, der vollziehen wird. Auf diese Weise verbirgt er sich selbst für zwei Stunden seinen eigenen Tod, den er nicht vermeiden kann, indem er sich zum Herrn über den Tod eines Stellvertreters macht. In den Grenzen einer ausschließlich imma­nenten Auffassung vom menschlichen Leben und vom menschlichen Tod kann es wohl kaum ein in umfassenderer Weise symbolisches Mysterium ge­ben. Dies eine Mal erschafft sich der Mensch den Glauben, Sieger zu sein, indem er sich zum vollzie­henden Bundesgenossen des unbesieglichen Feindes macht. Aber im Grunde seiner Seele weiß er nur zu gut, dass der Stier er selbst ist, dass die stoische Übermenschlichkeit des Matadors eine Fiktion ist, und dass dieser Kampf mit seinem tragisch vor­ausbestimmten Ausgang der Kampf des Menschen selbst ist. Und doch verzweifelt der Mensch nicht vor einer solchen Wahrheit. Er kann aber seine Hoffnung nur dann erfüllen, wenn es trotz allem die Möglichkeit eines ungespielten, eines wahren Sieges über den Tod gibt. Der Mensch verzweifelt nie voll­kommen, so lange er lebt. Die Gewissheit aber eines möglichen Sieges haben wir nur im christlichen Le­ben angetroffen.

Quelle: Paul Ludwig Landsberg, Die Erfahrung des Todes, Luzern: Vita Nova, 1937.

Hier der Text als pdf.

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