Eberhard Jüngel, Was ist »das unterscheidend Christliche«?: „Das ist ja Vertrauen: dass man sich auf jemanden auch in der Verlassenheit verlassen kann. Und das ist Gottvertrauen, ist Glaube: daß man sich auch in der Gottverlassenheit auf Gott verlassen kann.“

Was ist »das unterscheidend Christliche«?

Von Eberhard Jüngel

I.

Früher antwortete nun auf diese Frage mit dem Glaubensbekenntnis und dazu vielleicht mit einigen erklärenden Sätzen aus dem Katechis­mus. Für uns heute ist charakteristisch, daß wir zwar einerseits weder einen überzeugenden neuen Katechismus noch ein von den christlichen Kirchen gemeinsam verantwortetes neues Glaubensbekenntnis haben, daß wir aber andererseits die alten Bekenntnisse und Katechismen nicht ohne weiteres mehr nachsprechen können. Sie müßten in die Sprache unserer Zeit übersetzt werden. Und das heißt soviel wie: wir müßten unser eigenes Glaubensbekenntnis formulieren und einen Katechismus für unsere Tage schreiben. Aber eben das will nicht gelingen. In Theo­logie und Kirche herrscht Streit um die Grundfragen des christlichen Glaubens.

Nun kann meiner Meinung nach ein solcher Streit nicht schaden, wenn er nur sachlich ausgetragen wird. Es ist besser, um die Sache des christlichen Glaubens zu streiten, als sie ohne Streit belanglos werden zu lassen. Solange um den christlichen Glauben öffentlich gestritten wird, ist es um seine Zukunft nicht schlecht bestellt Ja, es wäre ver­hängnisvoll, diesen Streit zu unterdrücken — eine Gefahr, die heute allerdings droht, und zwar von zwei Seiten, gegen die sich die Theo­logie wehren muß. Die Theologie hat zu kämpfen gegen Denkfaulheit auf der einen und gegen Glaubensverfälschung auf der anderen Seite,

Man wird gegen beide Fronten im gegenwärtigen theologischen und kirchlichen Streit gleichermaßen scharf Stellung nehmen müssen: auf der einen Seite gegen den Versuch, die kritische Anstrengung des Den­kens im Namen dessen, der höher ist als alle Vernunft, zu diskredi­tieren; auf der anderen Seite gegen den Versuch, im Namen einer scheinbar kritischen Vernunft den christlichen Glauben in moralische Engagements umzufunktionieren und damit den Glauben selber für überflüssig zu erklären und nur die gute Tat für relevant zu halten. Das sind zwei einander sehr ähnliche Kurzschlüsse, weil sie jeweils das Gegenteil dessen bewirken, was sie wollen. Gegen den Kurzschluß des Verzichts auf intellektuelle Anstrengung ist nämlich folgendes zu be­denken: Was dem Glauben an kritischer Vernunft vorenthalten wird, das wird zwangsläufig durch Aberglauben ersetze. Gerade der Glaube muß deshalb auf kritisches Denken bedacht sein. Andererseits ist gegen den Kurzschluß der Umfunktionierung des Glaubens folgendes einzuwenden: Was die kritische Vernunft an Glauben verfehlt, das ersetzt sie zwangsläufig durch Unverstand. Aberglaube und Unverstand vom Glauben abzuwenden ist heute nötiger als je. Deshalb gibt es — Gott sei Dank — einen öffentlichen Streit um die Fra­ge, was christlicher Glaube ist.

Es soll der Versuch einer Antwort, also eines Beitrags zum Streit, gewagt werden.

II.

Erstens: Glaube — das ist eine Beziehung, ein Verhältnis, ein Ver­trauensverhältnis. Nun freilich nicht eine x-beliebige Beziehung, auch nicht jedes mögliche Vertrauensverhältnis, sondern ein Vertrauensver­hältnis zwischen Mensch und — Gott. Aber wer oder was ist Gott?

Der Glaube sagt: mein Vertrauter — derjenige, dem ich unter allen Umständen vertrauen kann, auf den ich mich auch dann verlassen kann, wenn mich nicht nur alle guten Geister verlassen haben, wenn ich nicht nur von aller Welt verlassen bin, sondern wenn ich von ihm selbst, wenn ich sogar von Gott verlassen erscheine. Auch und gerade dann. Jesus betete, als er sterbend ans Kreuz hing: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Das war Glaube. Denn hier schrie ein Mensch nach Gott gerade aus seiner Gottverlassenheit heraus. Das ist ja Vertrauen: daß man sich auf jemanden auch in der Verlassenheit verlassen kann. Und das ist Gottvertrauen, ist Glaube: daß man sich auch in der Gottverlassenheit auf Gott verlassen kann. Genau das, scheint mir, hätten wir heute aufs neue zu lernen. Denn das Stigma der Gottverlassenheit haftet unserer Zeit in ganz besonderem Maße an. Umso besser müßte sich heute artikulieren können, was Glaube ist: nämlich ein Schrei nach Gott aus einer gottlosen Welt und einem gott­verlassenen Menschenleben, ein Schrei, der mehr an Gott vertrauen zum Ausdruck bringen kann als das korrekteste Glaubensbekenntnis,

Aber das erste christliche Glaubensbekenntnis ist ja nach dem Markusevangelium gar nichts anderes ab die Aufnahme jenes Schreies des sterbenden Jesus nach Gott. Als der heidnische Hauptmann sah, daß Jesus so — schreiend — starb, sagte er: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.« Jedes christliche Glaubensbekenntnis muß sich mit dem Todesschrei Jesu vertragen — oder es bekennt sich eben nicht zum Glau­ben an Gott.

Zweitens: Es hängt also mit Jesu Todesschrei zusammen, daß der christliche Glaube begründetes Gottvertrauen ist. Der heidnische Haupt­mann nannte den so verstorbenen Menschen Gottes Sohn. Das heißt, daß Gott im Ereignis des Todes Jesu, also da, wo die Gottverlassenheit kulminierte, mit diesem Menschen eins geworden ist. Gott hat sich mit Jesus, mit diesem sterblichen Menschen, identifiziert, um so, in der Ein­heit mit diesem Toten, für alle sterblichen Menschen da zu sein. Am Kreuz Jesu ereignet sich deshalb das Heil der Menschheit. Denn das ist Heil: daß Gott für uns da ist. Im gekreuzigten Jesus ist Gott für uns da, und zwar für immer. Deshalb lebt dieser Gekreuzigte, lebt er in einer unvergleichlichen Weise: mit Gott für uns. Das in mit »Aufer­stehung Jesu von den Toten« gemeint: daß Gott, der das ewige Leben in Person in, sich ein für allemal mit dem Gekreuzigten identifiziert hat, um für uns da zu sein alle Tage bis an der Welt Ende. Da, obwohl man ihn nicht sieht. Aber er läßt von sich hören — in unseren mensch­lichen Worten nämlich, die von Jesus Christus reden.

Der christliche Glaube glaubt also an einen menschlichen Gott. Dies­seits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz, Zeit und Ewigkeit sind für ihn keine Alternative. Der Glaube an Gottes Identität mit dem gekreuzigten Christus bedeutet vielmehr, daß Gott in seiner Gött­lichkeit menschlich ist, daß er in seiner Ferne nah ist und sich uns Menschen zu ewiger Treue verbunden hat.

Drittens: Daß Gott in seiner Göttlichkeit menschlich ist, bedeutet nun jedoch nicht, sondern schließt vielmehr aus, daß der Mensch in seiner Menschlichkeit göttlich ist. Er will es zwar sein. Aber er wird eben dadurch unmenschlich. Der christliche Glaube ist eine Auseinan­dersetzung mit der Unmenschlichkeit des Menschen. Es gehört offen­sichtlich zur Eigenart des Menschen, daß er sich mit göttlichen Prädi­katen schmückt, daß er sein Vermögen, seine Vernunft, seine Liebe, seine Kräfte oder auch seine Schwächen und in all dem sich selber auf mehr oder weniger sublime Art vergöttert oder vergöttern läßt. Man sage nicht, das sei eine Übertreibung. Vergötterung des Menschen ge­schieht überall da, wo ein Mensch einen anderen verteufelt. Und auch da, wo er Herr über andere Menschen sein will. Und das geschieht täglich. Diese Tendenz zur Selbstvergötterung und Verteufelung ande­rer ist nichts anderes als die Tendenz zu totaler Selbstbezogenheit, die freilich de facto gerade in totale Verhältnislosigkeit führt. Der christ­liche Glaube nennt das Sünde.

Sünde ist heute freilich ein fast schon vergessenes Wort. Wir leben, als gäbe es keine Sünde, etsi peccatum non daretur. Ein schreckliches Als-ob! Denn die Sünde liebt es, sich klein und unsichtbar zu machen, um so auch Gott klein und unsichtbar zu machen. Die Sünde trium­phiert umso mehr, je weniger man sie wahrnimmt. Luther hat es des­halb für eine entscheidende Funktion des christlichen Glaubens gehal­ten, die Sünde in einem guten Sinne groß zu machen. Magnificare peccatum — das ist etwas »unterscheidend Christliches«. Die Sünde groß zu machen, das muß die Christenheit wieder lernen. Nun freilich nicht so, daß man viel darüber redet, sondern so, daß man alles zum Besten wendet. Die Sünde wird in einem guten Sinn groß gemacht, wo sie vergeben wird.

Das geschah ein für allemal, als Gott sich mit dem gekreuzigten Jesus identifizierte. In seiner selbstlosen Identität mit diesem einen unschul­dig zu Tode gebrachten Menschen hat Gott der gottlosen Tendenz des Menschen zu totaler Selbstbezogenheit, mithin zur Selbstvergötterung, sich selbst entgegengesetzt, damit der Mensch aufhören kann, Gott zu spielen. Der Glaube läßt sich das gefallen, gern gefallen, Wohlgefallen. Und das heißt, er läßt Gott Mensch sein, damit der Mensch aufhören kann, ein kleiner oder größerer Gott werden zu wollen. Dadurdi ge­winnt der Mensch dann Zeit für andere Menschen. Wer nicht mehr total auf sich selbst bezogen Ist, der Ist befreit zur Sorge für das Wohl anderer Menschen und für das Wohl einer ganzen Welt.

III.

Summa: Der christliche Glaube ist diejenige menschliche Einstellung zu Gott, in der sich der Mensch darauf verläßt, daß Gott Mensch ge­worden ist und bleibt, damit der Mensch menschlich sein und immer menschlicher werden kann. Kürzer: das Wesen des christlichen Glau­bens ist die rechte Unterscheidung zwischen Gott und Mensch, nämlich zwischen einem menschlichen Gott und einem immer menschlicher wer­denden Menschen. Und man muß hinzufügen, daß der christliche Glaube über diese Unterscheidung von Gott und Mensch froh ist, weil es dem Menschen und seiner Welt wohltut, daß der Mensch kein Gott ist und sein wollen muß. — Insofern kann man noch kürzer sagen: das Wesen des christlichen Glaubens ist Freude an Gort und deshalb Sorge für eine menschlichere Welt.

Als Vortrag 1971 gehalten im Südwestfunk.

Quelle: Eberhard Jüngel, Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, BevTh 61, München: Chr. Kaiser, 1972, S. 296-299.

Hier der Text als pdf.

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