Hans Ferdinand Fuhs, Schuld und Gerechtigkeit. Auslegung zu Ezechiel 18,1-32 (NEB): „Ezechiel ist davon überzeugt, daß das Ge­richt, das auf Grund der Schuld und des inneren Zusammenhanges von Schuld und Strafe kommen muß, noch abwendbar ist. Gott ermöglicht es, weil er, der Herr allen Lebens (4), nicht Tod und Gericht will, sondern Heil und Leben für seine Geschöpfe (23.31). Einzige Bedingung für eine solche Wende zum Leben ist: Um­kehr des Schuldigen.“

Schuld und Gerechtigkeit. Auslegung zu Ezechiel 18,1-32

Von Hans Ferdinand Fuhs

In der Mitte seiner Gerichtsbotschaft steht eine erregte und erre­gende Diskussion des Propheten mit leinen Hörern über Möglichkeit und Bedingung für eine Wende. Was hin­ter jedem Wort und jeder Zeichen­handlung aufleuchtete und als deren eigentlichem Ziel sich enthüllte, wird hier eingehend begründet: Es gibt kein tragisches Geschick, das allein dem Gesetz von Ursache-Wirkung, Tun-Ergehen, Haltung-Schicksal folgend unaufhaltsam den Menschen überrollt. Der Mensch kann viel­mehr das Geflecht dieses Geschehenszusammenhanges durchbrechen und seinem Geschick eine Wende geben. Er kann es deshalb, weil Gott es will und weil er es dem Menschen ermöglicht (4.23.32). Die Richtung der Wende bestimmt der Mensch in vol­ler Freiheit und Verantwortlichkeit. Ez ist davon überzeugt, daß das Ge­richt, das auf Grund der Schuld und des inneren Zusammenhanges von Schuld und Strafe kommen muß, noch abwendbar ist. Gott ermöglicht es, weil er, der Herr allen Lebens (4), nicht Tod und Gericht will, sondern Heil und Leben für seine Geschöpfe (23.31). Einzige Bedingung für eine solche Wende zum Leben ist: Um­kehr des Schuldigen. So mündet die Diskussion in einem leidenschaftlichen Appell des Propheten an seine Gesprächspartner: »Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt« (32). Deren Po­sition ist eine andere. Sie steht unter dem Eindruck des in der Antike all­gemein anerkannten Prinzips vom Tun-Ergehen-Zusammenhang »mit seinem unerbittlichen Determinis­mus, aber auch mit seiner verstehba­ren Gerechtigkeit« (Schenker, 459). Die Weisheit Israels hat es in den Glauben integriert als Interpreta­tionsschlüssel für religiöses und sittli­ches Handeln. Verkürzt gesagt: Jahwe garantiert den Tun-Ergehen-Zusammenhang. Deshalb ist für die Leute, die mit Ezechiel diskutieren, nicht seine Gerichtsankündigung un­verständlich. Unbegreiflich und da­her erklärungsbedürftig ist für sie die Botschaft vom Ende der sich auswir­kenden Schuld im Akt der Wende. Die Straflosigkeit von Söhnen schul­diger Väter ist für sie das Problem (19a). Das widerspricht ihrer Lebens­weisheit (2), und deshalb erscheinen ihnen die Wege Jahwes nicht richtig (25.29)

Diese Position hält Ezechiel für ge­fährlich. Sie stellt ein Hemmnis für Umkehr dar, ja, läßt sie als im Grunde undurchführbar und zweck­los erscheinen. In einem doppelten Redegang (5-20.21-30a), der ene Einheit bildet (gegen Schulz), versucht der Prophet, diese Position zu ent­kräften und seine Gesprächspartner für die befreiende Botschaft gottgewährter Umkehr empfänglich zu ma­chen, in die die ganze Rede mündet (30b-32). Beide Redegänge entspre­chen sich in ihrem Aufbau: 5-9 / 21f; / 10-13 / 24.26;14-17 / 27-28. Bei aller Kontinuität der Generationenfolge und des Lebensablaufes ist das ethische Verhalten jeweils diametral entge­gen­gesetzt. Um von einem zum an­deren zu gelangen, bedarf es einer totalen Kehrtwendung. Diese Wende hat zwei Aspekte: Abkehr und Umkehr mit ihren immanenten Folgen: Tod und Leben. Beide ste­hen nicht gleichgewichtig nebenein­ander. Das volle Gewicht fällt schon formal auf die Lebenszusage.

1-4: Die ganz als Gottesrede stilisierte Disputation beginnt mit dem Zitat einer Redensart, vgl. Jer 31,29. Es handelt sich um ein Zitat im Zitat, d.h. die Redensart drückt nicht nur die Meinung der Leute aus, die mit Ezechiel sprechen, sondern eine all­gemeine Erfahrung. Dieselbe Erfah­rung steht hinter der Frage in 19 und den Einwänden in 25.29. Es ist deshalb nicht ratsam, hinter der Redensart und der Frage eine andere Position zu vermuten (Smend, 1880) und von einem Einlenken des Propheten zu sprechen (Smend, Cooke). Fast ein­hellig vermuten die Kommentatoren von Schroeder (1873) bis Zimmerli hinter der Redensart eine frivole, freche oder zynische Gesinnung und Kritik an der Gerechtigkeit Jahwes. Von Orelli und Cooke erkennen zwei Tendenzen: Zweifel an Gottes Gerechtigkeit und Pessimismus in bezug auf die Sinnhaftigkeit ethi­schen Handelns unter der Last sich auswirkender Schuld in der Folge der Generationen. Allein Hitzig (1847), dem sich Schenker an­schließt, versteht die Redensart aus dem Kontext von 18 und der paralle­len Stelle 33,10-20. Darin äußert sich keine Kritik, es wird vielmehr eine schlichte Erfahrungstatsache festge­stellt: »die Vergangenheit stutzt der Gegenwart die Flügel« (Schenker, 457). Diesem aus der Welterfahrung abgeleiteten Grundsatz stellt Gott sein Lebensprinzip entgegen, dem aufhebende Kraft innewohnt. Vor Gott ist jeder einzelne für sein von Gott geschenktes Leben verantwort­lich, woraus folgt: »Nur der Sündi­gende muß sterben« (4). Dieser Grundsatz, der die Form eines sa­kralrechtlichen Deklarationswortes hat (vgl. 14) und an die verkürzten Todesrechtssätze der priesterlichen Tradition erinnert, erneuert eine alte, offenbar in Vergessenheit geratene Wahrheit (vgl. Dtn 24,16; 2.Kön 14,5f). Er wird 20a wiederholt und rahmt den ersten Redegang (5-19).

5-19: In lehrhaft anmutenden Ausführungen wird der göttliche Grundsatz von der Eigenverantwortlichkeit in der Folge dreier Generationen erläu­tert: Gerechter (5-9) – ungerechter Sohn (10-13) – gerechter Enkel (l4-17). Um zu zeigen, daß hier nichts schlechterdings Neues gesagt wird, benutzt der Prophet Sprache und Form des alten kultischen Rechts, die seinen Gesprächspartnern aus dem Gottesdienst von Jugend an ver­traut sind. Es mag sein, daß ihm da­bei das Formschema der Todes­rechtssätze von Lev 20 als Vorlage gedient hat. Die kleinen Einheiten haben denselben dreiteiligen Aufbau: Tatbestandsfeststellung (5 / 10-11a / 14); Erläuterung in Form der Rechtsreihe (Prohibitive) (6-9a / 11b-13a / 15-17a); De­klaration (9b / 13b / 17b). Die Gebotsrei­hen, die erläutern, was Gerechtsein heißt (oder nicht), erinnern an die bekannten katechismusartigen Rei­hen, die zehn (Ex 20,1-17; Dtn 5,6-21) oder zwölf Gebote (Ex 34,14-26; Dtn 27,15-26) umfassen. Solche Rei­hen geben immer nur Beispiele an für eine gläubige Existenz des Men­schen vor Gott, fassen in einer Art Merkformel den Willen Jahwes für alle Lebensbereiche zusammen. Sie wurden regelmäßig von den Besu­chern des Gottesdienstes am Ein­gang zum Heiligtum als Bekenntnis zum Willen Jahwes rezitiert (vgl. Ps 15.24). Damit wird deutlich, was mit »Leben« und »Tod« letztlich gc meint ist. Leben heißt, in der Nähe Gottes weilen zu dürfen, sein Ange­sicht zu schauen, Wohnstatt zu ha­ben in seinem Heiligtum (Ps 15,1; 16,6; 27,4; 36,8-10 u.ö.), während Tod die Negation dazu darstellt. Das Leben vor und mit Gott kann nur durch eigene Schuld verwirkt werden, wie es auch nur durch eigene Umkehr wie­der erworben werden kann. Weder Gerechtigkeit noch Schuld der Väter determinieren das Leben. Jeder bleibt vor Gott selbstverantwortlich für sein Leben.

21-30a: Während der erste Redegang eine Entfaltung des Grundsatzes von (4) darstellt, führt der zweite Redegang darüber hinaus. Er zeigt einen weiteren Aspekt des Problems auf. Sich auswirkende Schuld spielt nicht nur im Verhältnis der Genera­tionen zueinander eine wichtige Rolle, sondern auch innerhalb eines Menschenlebens selbst. Auch hier gilt, daß die Vergangenheit für eine gegenteilige neue Grundausrichtung in der Gegenwart ohne determinie­rende Wirkung ist. Ez erläutert dies an der Folge dreier Lebensab­schnitte: Ein Schuldiger wird gerecht (21); der Gerechte wird schuldig (24.26); der Schuldige wird gerecht (27). Der Prophet verwendet wieder das sakralrechtliche Deklarations­wort, hier in einer verkürzten Form.

Daran schließt sich jeweils ein Diskussionswort an (23.25.29). Die Gesprächspartner verstehen den Propheten nicht, ja, sie halten das Verhalten Gottes für nicht richtig. Das hebr. Wort hat nicht den Beiklang »ungerecht«, sondern »nicht dem Maß, der Regel entsprechend«, d.h die Leute halten die Wege Jahwes nicht für ungerecht, sondern für nicht sachgemäß, nicht der Ordnung entsprechend. Wer vom reinen Ordnungsdenken herkommt und in Gott nur den Hüter und Vollstrecker eherner Ordnungen sieht, gerät leicht in Gefahr, in Selbstgerechtigkeit oder Fatalismus abzugleiten Dieses Denken will der Prophet aufbrechen, er will sensibel machen für die Möglichkeit einer totalen Wende, durch die jede Vergangenheit in ihrer Fortwirkung für Gegenwart und Zukunft aufgehoben wird.

30b-32 sind Höhepunkt und Ziel der ganzen Disputation: Gottes werben­der und einladender Ruf an das ganze Haus Israel und seine führen­den Repräsentanten, die alte Schuld hinter sich zu lassen und in einem Leben mit Gott einen neuen Anfang zu wagen, der die Last der Vergan­genheit aufhebt und eine verhei­ßungsvolle Zukunft eröffnet. Bedin­gung dieses Neuanfanges ist Um­kehr, totale Umorientierung im ethi­schen Verhalten. Das ist möglich. Der Gott des Lebens hat dem Men­schen die Freiheit geschenkt, im Akt der Wende den unerbittlichen Deter­minismus des Tat-Folge-Zusammen­hangs zu durchbrechen und seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Ohne totalen Wandel von Gesin­nung und Haltung (»neues Herz, neuer Geist«) bleibt das Gesetz sich auswirkender Schuld ungebrochen in Kraft. Deshalb ist Umkehr dringend geboten. Nur so kann nach Meinung des Propheten das von ihm anzukün­digende Gericht über Jerusalem und das Haus Israel noch abgewendet werden.

Diese Disputation ist das Herzstück der Botschaft Ezechiels. Sie dem Propheten abzusprechen, heißt seine Botschaft verstümmeln. Die meisten nehmen an, daß Ez in die Notsituation der Deportierten hineinspricht, um ihrem angefochtenen Glauben aufzuhelfen, vgl. 33,10-20. Die dort vorausgesetzte Situation darf nicht hier eingetragen werden. Die Dispu­tation gehört noch in die Zeit vor der Katastrophe. Die Grundgedan­ken des Propheten sind von bleiben­der Aktualität und verdienen, in einer Zeit zu Gehör gebracht zu werden, in der der Mensch in der Gesellschaft sich unüberschaubaren Zwängen und vermeintlich unrevidierbaren Prägungen durch Erzie­hung und Umwelt ausgesetzt fühlt, die ihm die Freiheit sittlicher Ent­scheidung einzuschränken oder gar zu nehmen scheinen.

Quelle: Hans Ferdinand Fuhs, Ezechiel 1-24, NEB 7, Würzburg: Echter, 21986, 93-98.

Hier der Text als pdf.

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