Von Adrian Schenker
Wie kommt ihr dazu, auf dem Ackerboden Israels das Sprichwort zu gebrauchen: Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf? (Ez 18,2 EÜ)
Aus der Geschichte der Exegese zeigt sich deutlich, dass das Sprichwort in V. 2 eine Schlüsselrolle für das Verständnis des Kapitels 18 spielt. Dieser Maschal ist eines der vier Zitate, die der Prophet wörtlich aus seiner Disputation anführt: Neben V. 2 stehen die Frage von V. 19 und der doppelte Einwand der VV. 25 und 29 (= 33,17.20). Es ist darüber hinaus zweckdienlich, auch das Zitat aus der parallelen Disputation 33,10-20, nämlich die verzweifelte Frage von 33,10, heranzuziehen.
Von diesen verschiedenen Zitaten ist das Verständnis der Frage in 33,10 eindeutig. Sie drückt die Verzweiflung von Untergehenden an ihrer Rettung aus. Die anderen Zitate leisten der Interpretation zunächst einigen Widerstand.
Zuerst das Sprichwort 18,2. Was ist die Aufgabe dieses ohne weitere Erklärung angeführten geflügelten Wortes? Die Gesprächspartner des Propheten haben es nicht erfunden, sondern sie tradieren es, wie Jer 31,29f. erweist. In Ezechiel ist dieses Sprichwort somit ein Zitat im Zitat: Die Leute zitieren den Volksmund oder eine zum Sprichwort gewordene Sentenz. Die formale Parallele zwischen Ez 12,22f. und 18,2f. erlaubt den Schluss nicht, in 18,2 diene das geflügelte Wort den Skeptikern, über Gottes Gerechtigkeit zu ironisieren, wie sie in 12,22f. dem Propheten mit ablehnender Skepsis begegnen. Denn aus der formalen Ähnlichkeit darf man nicht ohne weiteres auch inhaltliche Identität ableiten.
Erhellender als diese formale Berührung zwischen 12,22f. und 18,2f. ist die Konfrontation zwischen dem Sprichwort des V. 2 und der Frage in 18,19a. Die Israeliten haben den Propheten gefragt, warum der gerechte Sohn die Schuld des Vaters nicht tragen müsse. „Warum“ fragt man, wenn man etwas nicht begreift. Unbegreiflich für die Israeliten ist es also, dass der Sohn die Schuld des Vaters nicht tragen muss. M.a.W. wäre das Begreifliche und demzufolge das Erwartungsgemäße genau das Umgekehrte: dass nämlich der Sohn an der Schuld seines Vaters trägt!
Die Schwierigkeit der Israeliten, die mit Ezechiel disputieren, ist somit das Gegenteil der Schwierigkeit, an die die meisten modernen Erklärer denken! Schwierig und erklärungsbedürftig ist nicht die Behaftung der Nachfahren mit der Schuld ihrer Vorväter, sondern umgekehrt: schwierig und der Erklärung bedürftig ist die Straflosigkeit der Söhne schuldiger Väter! Unverständlich ist offenkundig der Stop der sich auswirkenden Schuld.
Der Prophet steht einer Meinung gegenüber, der die Freunde Ijobs anhangen, und die einer anerkannten, oft ausgesprochenen Erfahrungstatsache entspricht: Tun und Lassen des Menschen bleiben nicht wirkungslos, sondern ereilen in ihren Auswirkungen die gegenwärtigen und künftigen Betroffenen (Ex 20,5f. = Dtn 5,9f.; Thr 5,7; Gen 18,22-32; usw.).
Im Lichte von V. 19 gewinnt der Sinn des Maschal in V. 2 klare Konturen. Er enthält keine Kritik; er ist so gemeint, wie er lautet: der eine brockt die Suppe ein, der andere löffelt sie aus. Das ist der Lauf der Dinge. Die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart. Der Vergangenheit entrinnt niemand, wie es das Zitat von 33,10 unumwunden, aber auch verzweifelt feststellt. Das ist kein Vorwurf an JHWH, denn so muss es sein! Der Vorwurf wird gerade dort laut, wo Gott dieses Gesetz außer Kraft setzt und den Zusammenhang zwischen Tun und Folgen des Tuns aufhebt.
Wie Sprichwörter von Natur aus meistens keine kritische Funktion haben, sondern eher neutral und ohne Werturteil der Welt Lauf, wie er eben ist, in eine Sentenz einfangen, so auch hier in diesem Maschal: die Vergangenheit stutzt der Gegenwart die Flügel. Die Israeliten sind realistisch genug, dieses Gesetz anzuerkennen, weit entfernt sich dagegen prometheisch oder zynisch aufzulehnen. Für sie ist damit kein Theodizeeproblem verbunden; es sind nicht die Israeliten, die sich hier an einem Problem stoßen, es ist vielmehr JHWH, der diesem Gesetz widerspricht! Es ist ja in der Tat nicht so, dass maschal nur „Spottvers” bedeutet; im Gegenteil, meistens bezeichnet es den „Spruch“ überhaupt, und dieser neutrale Sinn ist auch für Ezechiel bezeugt.
Quelle: Adrian Schenker, Saure Trauben ohne stumpfe Zähne. Bedeutung und Tragweite von Ez 18 und 33,10-20 oder ein Kapitel alttestamentlicher Moraltheologie, in: P. Casetti/O. Keel/A. Schenker, Mélange, Dominique, Barthélemy, OBO 38, Fribourg Suisse-Göttingen, 1981, S. 449-470, hier 456-458.