Sie halten der Bibel Schalldämpfer vor den Mund
Von Fridolin Stier
Was ist denn noch alles zu tun, um das erregendste Buch, die Bibel, zum langweiligsten aller Bücher zu machen?
Ist es nicht genug, daß man sie auf Lehren abhörte, ihr Wahrheiten abzapfte und Theologien damit zusammenbaute? Und daß man sie — neuerdings — auf das „Kerygma“ reduzierte? Aber ihr Sinn ist es nicht, nur als Quelle oder Steinbruch zu glaubender Wahrheiten zu dienen. Diese Wahrheiten in allen Ehren — aber sie ist mehr: lebendige Stimme, Anrede, Aufruf des Menschen zur Umkehr, Umdenken fordernd und Aufbruch, Unruhe stiftend, drängend auf Wandlung. Das „Wort Gottes“, das sie fortlautend bezeugt, bricht aufscheuchend in die Menschenwelt ein, wie der Wolf in die Herde der Lämmer. Wenn es mir gegeben ist, glaube und bekenne ich, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist, aber wenn ich das Wort höre: „Ich bin nicht gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert .. .“, schreckt er mich auf.
Und was ist noch zu tun, um dieses wildeste Buch zu domestizieren? Tut die Sprache seiner Übersetzer noch nicht genug? „JHWH brüllt vom Zion her . . .“ (Amos) — aber du meinst, blökende Schafe zu hören … Sie halten der Bibel Schalldämpfer vor den Mund; denn der theologisch verdolmetschte Gott brüllt nicht.
Quelle: Fridolin Stier, Vielleicht ist irgendwo Tag. Aufzeichnungen, Freiburg-Heidelberg: Kerle, 1981, S. 18f.
1 Kommentar