Eugen Rosenstock-Huessy, Das Versagen des Namens (Soziologie, 1925): „Der Name ist der Strohhalm, an den sich das ertrinkende Leben klammert, damit ich es rette, damit ich es mir, gerade weil es Abschied genommen hat, ins Gedächtnis zurückrufen kann. Über die Brücke des Namens treten die Mächte des gesichtlichen Lebens in mein Bewußtsein.“

Das Versagen des Namens

Von Eugen Rosenstock-Huessy

Man hört jetzt oft in Gesprächen, schriftlich oder mündlich jemand sagen: „Das muß man eben sozio­logisch verstehen.“ Juristisch läßt sich z. B. die Riesen­rolle des Beamtentums nicht erklären, wohl aber sozio­logisch. Ethisch läßt sich die Empörung der heutigen Jugend gegen ihre Eltern nicht verstehen, wohl aber soziologisch. Philosophisch kann man nicht begreifen, weshalb Amuletts getragen werden, wohl aber sozio­logisch. Politisch sind die meisten Parteiprogramme heute unverständlich, nicht aber soziologisch. Nur soziologisch läßt sich der Kampf der Burschenschaft gegen die heutige Reichsflagge verstehen, der geschicht­lich völlig unverständlich bliebe.

Diesem Jemand erscheint also das „Soziologische“ als ein wahres „Sesam öffne dich“ für sehr viele sonst un­verständliche Vorgänge. Aber dieser selbe Jemand wird meist in große Verlegenheit kommen, wenn er sich über das, was er mit dem Soziologischen meint, näher äußern soll. Was denn soll man sich unter Soziologie vorstellen? Es kann sich bei dieser Frage nicht darum handeln, was unter diesem Namen im Konversations­lexikon steht. Sondern die Frage sei als die umfassende Frage genommen: Wie gewinnt ein Name, über den ich plötzlich stolpere, wieder die innere Selbstverständ­lichkeit und Vertrautheit, mit der ich ihn vor der Stockung handhabte, wie wird er mir wieder — und nun bewußt — in meinen Gedanken, in Rede und Schrift — geläufig?

Einen seltenen Stein, eine Pflanze, ein Ding — die bringe ich dir. Du siehst sie an. Nun kennst du sie. Du kannst sie dir jetzt vorstellen. Sie werden dir durch Betasten, Begreifen und Anschauen vertraut und ge­läufig.

Auch einen Begriff der Schule oder der Wissenschaft kann ich dir übermitteln, indem ich ihn dir „evident“, innerlich anschaulich und begreiflich mache. Alle Theorie verfährt so. Es ist aber unmöglich, einen Namen bloß theoretisch oder bloß sinnlich geläufig zu machen; und so ist es bis heute auch nicht gelungen, die Soziologie theoretisch zu erfassen, trotz zahlloser Anläufe.

Die meisten Bücher über Soziologie bleiben darin stecken, daß jemand auf vielen Seiten sagt, was er sich unter Soziologie denkt und was man sich daher seines Erachtens unter ihr vorstellen sollte. Aber schon kommt ein anderer und entwickelt eine andere Theorie.

Jeder also kann sich anscheinend unter Soziologie etwas anderes vorstellen. Die Theorie hat daher nicht die Kraft, den Namen wieder gesprächsfähig zu machen, also so geläufig, wie ihn unser Jemand doch einmal verwenden konnte. Die Theorie versagt hier.

Danach wird die Soziologie wohl zu den unanschau­lichen Größen unseres Lebens zählen — wie die meisten Namen. Unsere Frage lautet daher jetzt schon genauer, ob es denn solche Größen gibt?

Alle Theorie ist augenbesessen. Man schließt zwar vielleicht die leiblichen Augen, aber nur um sich um so klarer innerlich etwas „vorzustellen“, um es genau und von allen Seiten zu „betrachten“. So erfaßt man am deutlichsten die Idee (das ist Bild, Ansicht und Gesicht) der Sache. Die Sache zeigt sich dem inneren Auge klarer als dem bloß körperlichen Sinneswerkzeug. Alsdann ist man aufgeklärt, der Sachverhalt hat sich aufgehellt durch Theorie (d. h. deutsch: Schau), und nun kann man sich aus der reinen Theorie, aus diesem Zustande der Betrachtung, der reinen Praxis zuwenden. Die theoretisch gewonnene Einsicht be­herrscht nun das Handeln. So gelangt man z. B. von der theoretischen Erfassung der chemischen Elemente zur praktischen Analyse, von der Theorie der Mechanik zur Konstruktion einer Maschine. Was man innen erfaßt hat, kann man nach außen wenden und in dieser Anwendung siegreich der Außenwelt die innere Theorie aufprägen.

Aber unsere Augen — es seien nun die äußeren oder die inneren — möge noch so viele Einsichten und Aus­sichten erschließen, sie mögen die Dinge von allen Seiten betrachten —, eines vermögen sie nicht: sie können nie den sehen, der da sieht! Im Märchen wird von der Prinzessin erzählt, die aus ihren dreizehn Fenstern alles, aber auch alles auf dem Erdenrund sehen konnte, und die doch mit ihrer Kunst scheiterte, als der prinzliche Freiersmann sich ihr als Kätzchen in die Haarflechten setzte. Gerade so versagt die „Schau“ des Menschen bei der Erfassung dessen, was den Hintergrund hinter all seiner Sehkraft und unter seinem Bewußtsein ausfüllt. Dies Hinterland seines wirklichen Menschen ist aber nichts anderes als alles das. was mit uns in Liebe oder durch Leidenschaften anderer Art verbunden ist: also das liebe leb, das ge­liebte Du, der verhaßte Er, die gefürchtete Sie usw.

Diese Verbindung im „Hinterland“ weigert sich aller Theorie. Denn diese Mächte wallen und wogen un­ruhig und wechselvoll darin. Und uns bleibt nur, in uns hineinzuhorchen, um sie rauschen zu hören. Und es bedarf dessen meist nicht einmal. Diese Gewalten sprechen aus uns, wir mögen wollen oder nicht. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Das wird also niemals sichtbar, sondern es wird in uns laut! Durch die Augen und die Theorie erfassen wir, was für unser Empfinden von draußen, aus der Natur, stammt: Sven Hedins Karte von Tibet macht uns den Fleck Erde anschaulich, den er entdeckt hat; oder das reine Element, das bisher unbekannte, stellt uns der Chemiker vor Augen. Lichtbild und Zeichnung ver­gegen­wärtigen uns die entferntesten Kulturen. Auch uns selbst können wir gelegentlich so kalt als Natur betrachten, eben unsern Körper können wir so anato­misch und physiologisch uns zur Anschauung bringen — aber niemals das, was aus uns spricht. Der Schrei, mit dem die rechte Mutter vor Salomos Richterstuhl das Band offenbart, das sie und ihr Kind verknüpft, der allein bringt ihr und dem König die Macht der Liebe zum Bewußtsein, die sie beherrscht. Der Redner am Volksfest will durch seine Ansprache die wirklichen Gefühle zum Erklingen bringen, die alle Fest­genossen mit ihrem Volk verknüpfen. Der politische Kämpfer will die Dinge beim rechten Namen nennen, die unser Leben wirklich bedrohen oder vergiften oder stocken machen. Und ihre erste Wirkung auf einen Menschen äußern alle diese Wirklichkeiten, indem sie ihn, den Sprecher, zum Sprechen bringen. Er ist ein Teil ihrer Wirkung! Sie haben Macht über ihn. Sie nicken ihm zu wie Schutzgeister oder Dämonen. Genien und Gespenster sind die Mächte, die uns zum Reden zwingen. Denn wir müssen sie beschwören.

Schließe ich nun die Augen, um mich zu besinnen, was Soziologie sei, so habe ich nur und nichts als den Namen übrig. Die naive Sicherheit, mit der ich das Wort im Gespräch eben noch verwendet habe, ist mir zerbrochen. Es ist mir jetzt plötzlich unbegreiflich, mit welcher Kühnheit ich es — und zwar richtig — handhaben konnte. In diesem Augenblick versagt sich mir das vorher noch lebendige Wort. Die Wirkung versagt. In Erinnerung ist mir in diesem Augenblick einzig der Sprachgebrauch, also die Tatsache, daß hier ein Name besteht und von mir fordert, daß ich ihn mit Leben, mit Sinn erfülle. Der Name — so merken wir uns — ist der Strohhalm, an den sich das ertrinkende Leben klammert, damit ich es rette, damit ich es mir, gerade weil es Abschied genommen hat, ins Gedächtnis zurückrufen kann. Wenn ich nun anfange, nach-zu-denken, so wirkt die Wirklichkeit auf mich nachträg­lich doch noch und durch die Einschaltung des Wider­standes vielleicht um so nachdrücklicher. Über die Brücke des Namens treten die Mächte des gesichtlichen Lebens in mein Bewußtsein, bekannte wie un­bekannte, damit ich sie dann, wenn die naive Sicher­heit geschwunden ist, kraft der wir über sie gewöhnlich sprechen, am Namen wiederentdecken und wieder­erkennen kann. Die Tatsache, daß sie einst von mir im Sprechen genannt und heraufbeschworen worden sind, dient nun im Zustande des Nach-denkens, des Hinterher-denkens, des ihnen Nach-sinnens als Beweis für ihre Macht. Sie klingen in mir nach. Ich habe ja z. B. mit dem Schlagwort „Soziologie“ operiert, um mich verständlich zu machen. Damit hat sich dies Wort bereits als tätige Macht meines Lebens erwiesen. Wo also Namen nachgetrauert und nachgesonnen wird, da war eine Macht vorhanden, die über Menschen herrschte, die Menschen erfüllte, die im Menschen so stark wirkte, daß er davon reden mußte und nur mit ihrer Hilfe sich zurechtfinden konnte.

Der Wirklichkeit, die uns aus Namen entgegentritt, kommen wir also niemals durch abstrakte Begriffe näher. Das ist eine Erkenntnis von großer Tragweite. Viele Soziologen haben dagegen verstoßen, indem sie mit Vorliebe unbenannte Beispiele einer A-Kraft und einer B-Be­ziehung eines Herrn X, der den Herrn Y trifft, konstruieren (ähnlich der Sitte der Juristen und ihr wohl entlehnt). Die Wirklichkeit kennt aber keine Wenn und Aber, keine X und Y! Erst muß der Zustand, die Begebenheit, das Leben nach Name und Art, Ort und Datum vergegenwärtigt werden, ehe man hinterher aus ihnen irgendwelche Erkenntnisse ableiten kann. Die be­nennende, die Dinge beim wirklichen Namen nennende Vergegenwärtigung ist also die Voraussetzung all unserer Gedanken über die Wirklichkeit. Vorher sind wir eben in der Unwirklichkeit. In Wirklichkeit ver­ändern Jahr und Tag, Ort und Umgebung jede Wirk­lichkeit nicht nur in irgendeiner Hinsicht, sondern voll­ständig. Die Wirklichkeit will immer neu vergegen­wärtigt werden. Soziologie kann daher nichts mit Be­griffen anfangen. Die Welt der Namen, die es wieder­zuentdecken gilt, weil sie sich vor unserm Nachdenken gleichsam versteckt, weil wir sie plötzlich verloren haben und nach ihr suchen —, sie steigt nicht durch Theorie, sondern nur durch Vergegenwärtigung vor uns wieder auf.

Die Gesetze einer vollständigen Vergegenwärtigung gilt es also innezuhalten.

Nicht definieren, sondern vergegenwärtigen ist unser wissenschaftliches Geschäft! Nam’ und Art, Ort und Ursprung sind die Elemente der Vergegenwärtigung. Den Namen wissen oder hören wir als erstes. Zu zweit äußert sich die Art, genauer die Eigenart in den eigenen Äußerungen des Namensträgers über sich selbst, im Selbstzeugnis. Zu dritt wird uns nur die Wirklichkeit vertraut, deren Platz in der Außenwelt, im Raum nach­gewiesen wird. Das vierte aber ist die Genealogie, die Abstammung oder wie wir sagen wollen „der Ur­sprung“, der bei jeder Wirklichkeit erfragt wird.

Eins und zwei und drei erzählt wohl auch der Mär­chenerzähler! Mit diesen Punkten entscheidet sichs noch nicht, ob der Erzähler phantasiert oder berichtet, dichtet oder erforscht. Wissenschaftlich hat daher das Erzählen nie sein wollen noch können. Denn zur Wissenschaft gehört Nachprüfbarkeit. Daher ja soviel Lügen über Menschliches umlaufen: Erzählen kann man viel. Die Geschichte als Wissenschaft hat daher noch Punkt 4, die Erkenntnis des Ursprungs, hinzugenom­men, und räumt bekanntlich tausendjährigen Schutt weg, um „die Quellen“ und „Ursprünge“ klarzulegen. Das war ein großer Fortschritt. Aber das Lügen hat nicht auf gehört. Die Historiker von heute lügen ent­weder mit oder sie hören auf zu vergegenwärtigen und bleiben in den Quellen stecken. Es muß also noch ein Moment hinzukommen, eine Frage, die der Historiker nicht ausdrücklich beantwortet, die aber die Frage aller Fragen ist, muß der Soziologe fragen, ehe er seine Ver­gegenwärtigungsaufgabe gelöst hat.

Die entscheidende Frage, durch die Erzählen kon­trollierbar wird, ist die nach der Stunde, in der erzählt wird. Das ist nicht zu verwechseln mit dem Stand­punkt des Erzählers. Denn über den täuscht sich der Erzähler allzu gern selbst. Nein, die Stunde der Er­zählung von Wirklichem gibt an, ob das Erzählte selber der Erzählung mit zuhört oder ob es als alte versun­kene Märchenwelt, oder auch als fremdes Rätselland vor dem Erzähler steht. Wir werden dies Grundgesetz aller Soziologie, daß man nur mit Angabe der Stunde jede Vergegenwärtigung recht hören kann, wegen seiner Wichtigkeit durch das ganze Buch hindurch immer neu prüfen und kennen lernen. Hier wird ein Beispiel am schnellsten erläutern, was wir meinen.

Das Beispiel sei die Soziologie selbst. Wir betrachten sie als etwas Wirkliches. Wir wollen also erfahren, was Soziologie, dieser bloße Schall und Rauch eines Namens, als wirkende Macht sei. Der Name ist da. Nun haben wir vorerst zu erzählen, was die Soziologen selber über ihr Wollen und Wesen aussagen; diese Äußerungen ihrer Eigenart führen uns in das Innere.

Dann gilt es den Ort der Soziologie von außen zu bestimmen, ihre Heimat inmitten anderer Wirklich­keiten. Die Außenseite wird deutlich an den Wider­ständen werden, auf die sie trifft. Der Kampf unserer Gegner begrenzt uns, er weist uns unseren Platz in der Welt an. Die Widerstände gegen die Soziologie erzählt also ein weiterer Abschnitt.

Sind die Fragen nach dem, wie sich innerlich die Soziologen vorkommen, und nach dem, was die Gegner von außen als Soziologie bekämpfen, beantwortet, so kommen die beiden Fragen zeitlicher Natur. Beide sind aber unter sich wieder entgegengesetzt. Die eine fragt nach dem Ursprung. Wer ist Ahnherr, Schöpfer, Ur­bild der Soziologie? Die Antwort hierauf steht nicht etwa in der ganzen langen Geschichte vom Jahre X bis zum Jahre 1924, sondern nur in der Erzählung vom „Geburtstag“, von dem Eintritt, von der Entstehung oder Abstammung. Dieser Unterschied ist durch die moderne Geschichtsschreibung fast in Vergessenheit geraten, die Ursprung und Entwicklung beides zu­sammen als vergangene Geschichte erzählt.

Wir aber trennen Ursprung und Entwicklung. Denn nur der große Vorgang der Geburt, des Ursprungs ist bei bloßer Rückwärtswendung zu begreifen. Je größer der Eindruck dieser geschichtlichen Erscheinung, desto mehr gilt es nun zu fragen, welcher Stunde der Ge­schichte gehört sie an? Wie ist ihr Datum im Verhältnis zu unserer Lebensstunde? Fällt es einfach als ein Stück Vergangenheit vor unser eigenes Leben, liegt sie als unerfüllte Vision noch vor uns, oder gehört sie mitten in unsere gegenwärtigen Kämpfe hinein? Sind die Erscheinung und wir Zeitgenossen, so müssen wir uns erklären, ob unsere Zeiten sich einfach decken oder ob sie uns älter oder jünger als wir erscheint. Wirkt sie als Ziel oder als Vorstufe auf uns? Anders aus­gedrückt: Der Erzähler erzählt anders, ob er am Grabe oder noch vor der Verwirklichung oder einfach in Gegenwart dessen spricht, von dem er erzählt. Bei Menschen äußert sich das unmittelbar im Stil: Den gegenwärtigen redet man ja an. Bei Mächten der Wirk­lichkeit muß man sich ausdrücklich darüber erklären, ob man sie als unsere Herren und Meister oder unsere Schüler, als früher oder später anredet. Denn auch da spricht das Mitunslebende anders aus uns als das für uns Vergangene.

Auf vier verschiedenen Gedankenbahnen, in vier ver­schiedenen Betrachtungsweisen, sozusagen in vier ver­schiedenen Stilarten muß vom Namen auf das hinter ihm stehende Leben zurückgegangen worden sein, ehe sich ein geschichtlicher Name wieder mit der Macht in unserm Bewußtsein erfüllt hat, die unser Nach­denken vermißte. In vier Stilarten oder Tonarten müssen seine Elemente aufklingen, ehe wir wieder so aufhorchen, wie damals, als wir einfältig sprechend das Wort so schlicht verwandten, wie es in uns aufbrach. Solch mehrfaches Bemühen erst gibt uns den „richtigen Begriff“ davon. Diese Tonarten enthüllen das Innen seines Trägers, das Außen seiner Natur, nach Rückwärts seinen Ursprung, nach Vorwärts seine Not­wendigkeit.

Damit haben wir die grundlegende Erkenntnis für alles soziologische Verfahren gewonnen: Eine Gewalt, der Menschen gehorchen und die in ihnen wirkt und laut wird, kann nicht durch theoretische Vorstellung noch durch sinnfälliges Vor-die-Augen-bringen geistig wiedererfaßt werden. Es bedarf dazu einer Anstren­gung, an der die verschiedenen Kräfte unseres Geistes von dem zwiespältigen Selbstbewußtsein, von der ordnenden und systematisierenden Anschauung bis zum historischen Taktgefühl und der eigenen Verant­wortung, wie sie schon in jedem Gedanken an den sich versagenden Namen schüchtern anklingt, teilnehmen.

Diesen Namen, der aufgehört hat, selbstverständlich in uns zu wirken, bewahrt das Gedächtnis.

Sein Leben findet sich wieder im Selbstbewußtsein seiner Träger.

Einordnen in die Außenwelt kann ihn der vergegenständlichende Blick.

Seinen Ursprung ertastet das im Zusammenhang bleibende Miterleben.

Die künftige Wirkung wird von der persönlichen Mitwirkung abhängen.

Für die verschiedenen Vorgänge, die in diesen Sätzen beschrieben werden, werden wir künftig kurze tech­nische Ausdrücke gelegentlich in Klammern beifügen. Die nähere Begründung der damit geschaffenen Ter­minologie wird im Schlußteil stattfinden. Sie erklärt sich aber schon an dieser Stelle im wesentlichen von selbst. Die Selbstbezeugung der Träger heißt notwendig Reflexivum, entsprechend dem Vorgang der Selbstbe­sinnung, Reflexion auf sich selbst. Das Entgegentreten der Widersacher, das der Sache zur äußeren Vergegenständli­chung verhilft, ist das Aktivum. Die Wege des Erlebnisses heben sich davon ab als ein geduldiges und leidendes Verhalten: Passivum. Die Mitverwirklichung kann (im Gegensatz zu den Schulbegriffen des Sub­stantivs und der Substanz) als Transsubstantivum be­zeichnet werden. Die Ausdrücke sind übrigens für unsere Darstellung nebensächlich, und nur aus Grün­den wissenschaftlicher Verknüpfung mit späteren Pro­blemen notwendig.

Für uns ist das sachliche Ergebnis wichtig, das wir vor dem Eintritt in die Soziologie selber gewonnen haben.

Die soziologische Erkenntnis hat zum Träger nicht den philosophischen Kopf, sondern „dich mit deinem ganzen Herzen und deinem ganzen Vermögen“. Und sie kann grundsätzlich und methodisch nur diesen Träger haben.

Dies ist ihr Unterschied gegenüber aller Natur­erkenntnis und aller Philosophie. Die Dinge der mate­riellen Natur draußen und die theoretischen Begriffe der geistigen Überlieferung sind da, ob ich will oder nicht, ob ich mich um sie bemühe oder nicht bemühe. Sie sind objektiv, gegenständlich, und daher bereit, von mir als Subjekt verständig wahrgenommen und be­griffen zu werden. Das sogenannte Subjekt, das er­fordert wird, ist nur der philosophische Kopf.

Alle Gewalten und Gestalten des geschichtlichen Lebens hingegen verändern sich eben dadurch, daß ich in die Zahl derer eintrete, die sich mit ihnen befassen. Und deshalb gehört die Erkenntnis, wie sie auf mich wirken und wie gerade ich zu ihnen stehe, als not­wendiger Bestandteil in das Verstehen dieser Mächte hinein. Nicht wegen meiner Person, sondern um den Machtbereich jener Gewalt kennenzulernen, ist das interessant. Sie hat also auch mich, oder sie hat mich nicht! Das Bewußtsein, das ich mir von den Mächten, denen ich gehorche, erwerbe, ist nur um den Preis zu erwerben, daß ich mir meine Abhängigkeit von ihnen — in welchem Ringen und Mühen diese sich äußern mag — eingestehe. Ehe ich nicht weiß, daß sie mir leben, daß sie über mich herrschen, eher durchschaue ich sie nicht. Denn es ist ein Teil ihres Wesens und ihrer Macht, daß ich von ihnen spreche und ihren Namen im Munde führen muß. Von Gott z. B. muß man reden, ob man will oder nicht. Man kann ihn leugnen oder man kann ihn bekennen — das gilt gleich­viel. Immer läßt sich seiner nur gedenken, indem man mithilft, ihn zu töten oder ihn lebendig zu machen. Das Urteil über lebendig oder tot ist begreiflicherweise das wichtigste Urteil des soziologischen Prozesses! Alle Soziologie muß so den Mut aufbringen, jenes Fünftel oder Viertel der eigenen Stellungnahme des Soziologen aufzunehmen, damit dadurch die andern drei Viertel glaubhaft werden. Das „überwältigte“ Viertel ist der Teil, mit dem die Wirklichkeit in uns hineinreicht. Nur deshalb gewinnen aber die andern drei Viertel den Gehalt echter Erkenntniskraft, daß sie aus dem Munde von jemandem stammen, der „überwältigt“, also Träger oder Gefäß jener Gewalt heißen darf. Diese Überwältigung erst verleiht den anderen Tonarten den Klang der Wirklichkeit. Es ist also nicht die Anmaßung des Soziologen, der mit „Erlebnissen“ prunkt, sondern es ist die Bescheidenheit dessen, der sich überwunden gibt, die zur Einschaltung des sozio­logischen Mitwirkungsbegriffs führt. Erst dann kann man unsere persönliche Leidenschaft und Blindheit er­messen und abziehen, wenn wir das nicht gleich selbst aus eigener Kraft vorweg tun wollen. Die von uns s selbst von vornherein behauptete Sachlichkeit ist un­kontrollierbarer Schein. Wer spricht, in dem muß der Strom und die Woge des Geistes immer Gewalt be­halten. Nur ein anderer Späterer, sei er das auch selber, kann läutern, was aus ihm hervorbricht.

Soziologie entspringt aus der Leidenschaft, nicht aus der theoretischen Gleichgültigkeit. Damit ist sie nun allerdings in Gefahr, nicht mehr als Wissenschaft sich behaupten zu können. Und diese Gefahr ist in der Tat riesengroß vor den Soziologen aufgetaucht.

Wenn wir uns daher jetzt den einzelnen Fragen zu­wenden, deren Vielheit von Innen, Außen, Rückwärts, Vorwärts uns die Soziologie als wirkende Lebensmacht erschließen soll, so wird sich gleich zeigen, daß es das Sträuben gegen die Erkenntnis vom machtschaffenden und machtzerstörenden Charakter aller Soziologie ge­wesen ist, welche bisher die Soziologie zum Schmerzens­kind des europäischen Geisteslebens gemacht hat.

Quelle: Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie I. Die Kräfte der Gemeinschaft, Berlin-Leipzig: Walter de Gruyter, 1925, S. 5-18.

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