Erik Peterson, Der Himmel des Garnisonspfarrers. Eine Parabel (1919): „Hast du nie das Wort des ‚Gottesmannes‘ Luther gehört, wel­cher sagt, das ‚Kriegs- und Schwertamt‘ sei ein an sich göttliches Amt und ‚der Welt so nötig und nützlich wie Essen und Trinken‘? Begreife es doch, wenn du essen und trinken willst, so musst du auch töten, lügen, betrügen, Politik treiben und Gewalt antun!“

Der Himmel des Garnisonspfarrers. Eine Parabel

Von Erik Peterson

Da wurde Erik Peterson am 6. Oktober 1914 wenige Monate nach Ablegung seines theologischen Examens zum Militärdienst eingezogen und zum Wachdienst an der dänischen Grenze eingesetzt. Nach einem Selbstmordversuch wurde er am 14. Dezember 1914 mit der Diagnose ‚geisteskrank‘ aus dem Militärdienst wieder entlassen. Seine expressive Abrechnung mit dem Kriegsdienst erschien 1919 in der Zeitschrift „Der Brenner[1]:

Ich las kürzlich die Akten eines Prozesses, in welchem ein Soldat im Jahre 1916 vor dem Gouvernements-Gericht Grodno angeklagt war, weil er während des evangelischen Gottesdienstes – als der Gar­nisonspfarrer von der Begeisterung in den denkwürdigen Augustta­gen 1914 gesprochen hatte – sich zu dem Zwischenrufe hatte hinreißen lassen: „Du sollst nicht töten!“ Das Gericht verurteilte den bisher noch Unbescholtenen, dessen Zwischenruf nach richterlichem Urteil nicht als Aufwiegelung betrachtet werden konnte, wegen öffentlicher Störung des Gottesdienstes zu der Höchststrafe von drei Jahren Ge­fängnis, „in Erwägung, dass in der jetzigen schweren Zeit, die des Gottesdienstes so notwendig bedarf, jede Störung als besonders schweres Vergehen erscheinen muss“.

Der Verurteilte legte ein ärztliches Zeugnis vor und bat um Milde­rung der Strafe, weil er sonst nicht lebend das Gefängnis verlassen würde. Umsonst. Die Strafe blieb. Der Pfarrer erklärte, es handelte sich um einen „völlig verhetzten, zielbewussten Sozialdemokraten“, der den Zwischenruf absichtlich herbeigeführt habe, „um auf längere Zeit ins Gefängnis zu kommen und sich dem Dienst für das Vaterland an der Front zu entziehen“. Er wanderte ins Gefängnis und war nach zwei Jahren tot.

Nehmen wir nun an, der Garnisonspfarrer sei zur selben Stunde ge­storben – es ist nur eine dichterische Möglichkeit, im Übrigen wün­schen wir, dass der Garnisonspfarrer noch recht lange lebe und sich eines guten Gewissens erfreue –, nehmen wir es also an, so wäre ja der Fall denkbar, dass beide zur selben Zeit an der Himmelstür er­schienen wären. Der Garnisonspfarrer hätte den Angeklagten bei der Hand genommen und ihn zu dem Sohne Gottes, zu dem allerhöchs­ten Gerichtsherrn, geführt, den er ja schon seit langem kannte. Dann wäre Jesus ohne Zweifel auf einen Wink des Garnisonspfarrers dro­hend auf den Soldaten zugegangen und hätte ihm gesagt: „Was, du wagst es, einen christlichen Gottesdienst durch Erinnerung eines göttlichen Gebotes zu stören! Gebote sind für die Kinder da, welche sie auswendig zu lernen haben, für Erwachsene aber ist die frohe Bot­schaft bestimmt, welche die Waffen einsegnet, hast du das noch nicht begriffen? Hat dir denn dein Pfarrer nie gesagt, dass du das Vater­land über alles zu stellen hast, auch über die Gebote des Katechis­mus? Hast du nie das Wort des ‚Gottesmannes‘ Luther gehört, wel­cher sagt, das ‚Kriegs- und Schwertamt‘ sei ein an sich göttliches Amt und ‚der Welt so nötig und nützlich wie Essen und Trinken‘? Begreife es doch, wenn du essen und trinken willst, so musst du auch töten, lügen, betrügen, Politik treiben und Gewalt antun! Dein Arzt hatte recht, als er in seinem Gutachten schrieb, dass du durch ‚komplizierte Schrift- und Machwerke auf religiösem und politischem Gebiet‘ glaubtest, ‚das Alleinseligmachende und Menschenbeglückende ge­funden zu haben, dabei aber die Hälfte davon nur verdaut hast‘. Be­greife es doch: die eine Hälfte heißt: Du sollst nicht töten. Die andere Hälfte aber heißt: Du darfst töten, um Geld und Gut zu verteidigen – zumal wenn du selber keines hast. Berufe dich doch nicht auf die Bi­bel. Man muss sie richtig verstehen. Man muss sie so verstehen, wie Staats- und Militärbeamte sie verstehen und auf der Kanzel auslegen. Du behauptest, ich hätte mich früher anders geäußert? Das ist ein Irr­tum. Ich habe nicht den Armen, sondern den Reichen selig gepriesen, nicht den Friedfertigen, sondern den, der die meisten Kanonen und die besten Giftgase hat. Ich habe nie etwas für die Barmherzigkeit üb­rig gehabt, sondern war immer der Meinung, dass in dem Leben, das ihr auf der Welt zu führen habt, Unbarmherzigkeit die beste Barm­herzigkeit ist. Ich habe auch stets gesagt, es sei besser, Hammer als Amboss zu sein, besser Unrecht zu tun, als Unrecht zu leiden, besser um der Ungerechtigkeit willen gelobt, als um der Gerechtigkeit wil­len verfolgt zu werden. Begreife es doch: die Menschen sind nicht dazu da, um einander zu beglücken, sondern um sich zu beunglücken, nicht um selig, sondern um unselig zu werden. Und darum bin ich in die Welt gekommen. Frage doch den Pfarrer, der neben dir steht. Hat er jemals etwas anderes gepredigt, als was ich dir jetzt sage? Du hast dich bei ihm beklagt, dass du in der Woche geschun­den, am Sonntag aber in der Kirche mit Freund und Bruder tituliert seist. Du Tor! Weißt du denn nicht, dass die Menschen nur einmal in der Woche, am Sonntag zwischen 10 und 11 eine Stunde lang Brüder sein dürfen? Du willst mir wohl meine Vergangenheit vorhalten? Du sagst, ich hätte doch das Ende aller Dinge und die Nähe des Reiches Gottes verkündigt. Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Viele Theologen bestreiten es. Vielleicht habe ich es getan. Wenn ich es wirklich getan haben sollte, so habe ich seitdem eben umgelernt. Du dachtest wohl, dass man im Himmel nicht mehr umlerne? Du irrst. Man entwickelt sich nicht nur auf Erden, sondern auch im Himmel. Wenn du erst längere Zeit bei uns sein wirst, wirst du merken, welche Fortschritte wir im Himmel gemacht haben. Ich habe Mitleid mit der Schwäche deines Geistes. Du bist lungenkrank und wirklichkeitsfremd. Nein, ich muss dir jetzt gleich unsere Fortschritte zeigen. Komm, steige mit mir auf diesen Berg. Der Garnisonspfarrer kann hier unten stehen­bleiben, er weiß ja schon lange Bescheid. Er hat ja studiert. Also komm mit. Du wunderst dich, dass der Himmel anders aussieht, als wie du es dir vorgestellt hattest? Du vermisst etwas? Du kannst nicht darauf kommen, was es ist? Kind, ich will es dir ins Ohr sagen, und dann wirst du alles begreifen. Wir haben die große Kluft, die zwi­schen Himmel und Erde war, zuschütten lassen. Jahrhunderte haben wir gebraucht, um diesen größten aller Fortschritte zu erreichen. Jetzt ist das Verkehrshindernis beseitigt! Siehe, jetzt sind alle im Himmel, alle in der Hölle!“

Da aber schrie der Mensch mit seinem ganzen Leibe: „Satan, hebe dich weg von mir!“ Und Satan, der sich in einen Engel des Lichtes, ja in den Sohn Gottes verstellt hatte, entwich, und sein Blendwerk zer­rann und sein Ort wurde offenbar.

Zuerst veröffentlicht in: Der Brenner, VI. Folge, Heft 1, Oktober 1919, S. 62-64, dann in: Christliches Volksblatt, hrsg. vom Badischen Volkskirchenbund, Nr. 11 (Dezember) 1919, S. 2-4.


[1] Vgl. Barbara Nichtweiß, „Der Himmel des Garnisonspfarrers“. Erik Petersons Kritik an der theologischen Kriegsrhetorik, in: Joachim Negel/Karl Pinggera (Hrsg.), Urkatastrophe. Die Erfahrung des Krieges 1914-1918 im Spiegel zeitgenössischer Theologie, Freiburg-Basel-Wien: Herder, 2016, S. 398-413.

Hier der Text als pdf.

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