Von Søren Kierkegaard
Wenn es einem wirklich gelingen soll, einen Menschen zu einer bestimmten Stelle zu führen, muss man zuallererst darauf achten, ihn dort zu finden, wo er ist, und dort beginnen […] Das ist das Geheimnis in der Kunst des Helfens. Jeder der dies nicht kann, unterliegt einer Selbsttäuschung, wenn er meint, einem anderen helfen zu können. Um in Wahrheit einem anderen helfen zu können, muss ich mehr verstehen als er – zuallererst aber doch wohl begreifen, was er verstanden hat. Tu ich das nicht, so hilft mein größeres Verstehen ihm gar nichts. Will ich gleichwohl mein größeres Verstehen geltend machen, so ist es deshalb, weil ich eitel bin oder stolz, so dass ich im Grunde anstatt ihm zu nutzen eigentlich von ihm bewundert werden will. Alles wahre Helfen beginnt jedoch mit einer Demütigung; der Helfer muss zuerst knien vor dem, dem er helfen möchte und dann verstehen, dass helfen nicht herrschen heißt, sondern dienen, dass helfen nicht Macht- sondern Geduldausübung ist, dass die Absicht zu helfen, einem Willen gleichkommt, bis auf weiteres zu akzeptieren, im Unrecht zu bleiben und nicht zu begreifen, was der andere verstanden hat.
Quelle: Søren Kierkegaard, Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1848), in: Søren Kierkegaard, Schriften über sich selbst, GW, 33. Abt., hrsg. u. übers. von E. Hirsch, Düsseldorf-Köln: Eugen Diederichs Verlag, 2. A., 1964, S. 39.