Der Theologe Karl Barth. Zu seinem 80. Geburtstag[1]
Von Ernst Fuchs
Es gab und es gibt in unsrem aufs Massenhafte bedachten Jahrhundert auch nach G.B. Shaws Tod einige große alte Männer, als hätte uns das vorige noch nachträglich mit diesen Männern beweisen wollen, es verdiene doch wohl nicht, aus gerechnet von denen, die seine Kinder sind, auf den Müll geworfen zu werden. Zu diesen großen alten Männern gehören sicher auch einige Männer der Wissenschaft. Unter ihnen befinden sich Theologen wie Paul Tillich, Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten, Karl Barth. Tillich ist uns als erster dieser großen Vier entrissen worden.
Der Theologe Karl Barth begeht am 10. Mai seinen achtzigsten Geburtstag. Karl Barth kann für sich beanspruchen, der Theologie in Deutschland zu einer Zeit Kredit verschafft zu haben, in welcher alle andern Kredite spektakulär abgeschmolzen waren. Das geschah nach dem ersten Weltkrieg. Damals also erschien Karl Barth am deutschen Professorenkatheder, ein homo novus unter seinen Kollegen, der ohne Doktorat von vorne kam, um uns die Fahne zu bringen, welche die Kirche später so dringend brauchen sollte.
Dieser Deutschland liebende Schweizer – er eilte 1945 gleich wieder in unser Land – also Barth konnte reden und schreiben und wußte, was er wollte, man darf wohl sagen: sollte. Und er gelangte, bald mit eleganten, bald mit kräftigen Schlägen in der Tat genau an jene Stelle, die in Deutschland von Zeit zu Zeit auf Thesenanschläge wartet. Aber das dauerte immerhin noch einige Jahre.
Der Verfasser des »Römerbrief«-Kommentars kam wohl anfangs nicht ohne jenen Sukkurs voran, welchen ihm Freunde vom Fach wie Bultmann und neue Männer wie Gogarten in der von ihnen gemeinsam getragenen Zeitschrift mit dem brennenden Titel »Zwischen den Zeiten« gewährten. Wir, die damals Jüngsten, waren natürlich mitgerissen. Wir kamen uns wie auserwählt vor und waren das wohl auch, wenngleich in einem noch völlig verborgenen Sinn vor einer damals in unsern Augen noch überaus hellen Zukunft.
Als ich 1924 vom Tübinger Stift etwas zögernd zum Studium in Marburg beurlaubt wurde, war der junge Theologe Paul Schempp, später mit Hermann Diem Vorkämpfer im Kirchenkampf Württembergs, schon in Göttingen bei Barth gewesen; Schempp hat seinen Unterhalt in Göttingen eine Zeitlang als Nachtwächter bestritten …
Soviel von Barths Wirkung auf die studierende Jugend.
Barth wurde trotzdem oder gerade deshalb total unterschätzt. Aber ungefähr zehn Jahre später, 1930, war er eine Großmacht in der theologischen Öffentlichkeit geworden. Damals lernte ich ihn in Bonn näher kennen. Und so geriet ich zwischen Bultmann und Barth in jene eigentümliche Situation, von der nachher zu sprechen sein wird, weil sie für unsre Jahre bis heute bezeichnend geworden ist.
Doch zuerst muß die Kehrseite des Dramas, das 1933 anhob, ins Bewußtsein gehoben werden. Als der politische Reif unsern Bonner theologischen Frühling bedeckte, als die bitterböse Zeit der Sozialisten-, Juden- und Christenverfolgung anbrach, als die Harmlosesten der Harmlosen, nämlich eben Sozialisten, Juden und Christen, zum Popanz des Verbrechens kreiert wurden und ans und ins Feuer gerieten, da bewirkte ein Akt der gleichen Vorsehung, daß dieser Karl Barth, in die Schweiz zurückverwiesen, als der große Mann in Basel dem kirchlichen Widerstand in Deutschland Seele und Schwung verleihen konnte und auch unermüdlich verlieh und so das Herz der »Bekennenden« Kirche blieb, die er gerade noch rechtzeitig selbst mit ins Leben gerufen hatte.
In jenen Anfangsjahren der Diktatur hagelte es auf allen Seiten theologische Erklärungen. Daß sich unter diesen Erklärungen die jener ersten Synode von Barmen 1934 durchsetzte, war und bleibt das entscheidende Verdienst Karl Barths. Nicht zuletzt deshalb haben wir heute ausdrücklich von dem Theologen Karl Barth zu reden.
Karl Barth ist natürlich auch angefeindet worden. Wer so gut wie immer angreift, der macht sich nicht bloß Gegner, der hat sie von vornherein. Dabei ist freilich zu unterscheiden. Einige erinnern sich gewiß noch des in jenen Verfolgungsjähren so billig herumgereichten Schlagworts vom »Pastoren-« oder »Theologengezänk«, als wäre der ernsthafte Versuch, der Kirche so oder so, in oder außerhalb der »Partei«, den Garaus zu machen, nur eben eine jener hysterischen Zufälligkeiten des öffentlichen Lebens. Aber Karl Barth ist kein zänkischer Mann. Gerade er hat damals die eigentliche Gefahr erkannt. Die Gefahr lag dort, wo der Gegner recht behalten konnte, nämlich in der Tatsache, daß die Christenheit in Deutschland eine Minorität darstellte, die sich einer politischen Majorität fast hoffnungslos ausgeliefert sah. Kirchlicher Widerstand mußte aus diesem Grunde politische Bedeutung bekommen. Dies auch auf Seiten der Kirche und der sie leitenden Männer einzusehen, durfte nicht nur eine Frage der Taktik bleiben. Der Vorwurf, man habe es in der Kirche nicht nur mit Christen zu tun, konnte ja nicht ausbleiben. War die Kirche etwa bloß ein Sammelbecken politischer Opposition? Für wen würde sie den Kopf hinzuhalten haben? Man kann sich vorstellen, welcher Art die Sorgen derjenigen waren, die sich bemühten, so lange? wie möglich und so gut wie nur möglich loyale Bürger zu bleiben. Aber die erste Frage mußte sein, was, welche Kraft die Minorität der Christen gegen die Majorität aller andern aufzubieten habe. Die gleiche Frage wurde der Kirche durchaus auch vom Gegner gestellt. Würde die Kirche wagen, genau dort zu stehen und nicht zu fallen, wo ihr jener Polizeioffizier 1935 das Wort vom »fiktiven Christus« entgegenhielt?
Darauf konnte nur mit dem Glauben geantwortet werden. Genau dazu und nur dazu hat Karl Barth damals erfolgreich aufgerufen. Es ging gar nicht bloß um »Widerstand«, es ging schlecht und recht sehr einfach um den Glauben, um »Theologische Existenz heute!«, wie Barth formulierte, als der braune Gottesdienst begann. Wem meine Erzählung zu hart erscheint, der sei daran erinnert, daß und wie sie 1933 mit ihren Uniformen und Fahnen in die Gotteshäuser einzogen. Nicht wenige Geistliche freuten sich, durch diesen Vorgang endlich aus jener Isolierung befreit zu sein, in welche sich ein unfähiger Kirchenmann so leicht versetzt sieht. Barth weiß wohl, warum er uns immer wieder das Wort von der Treue Gottes vorhält. Wo es um den Glauben geht, da wird auch der Mensch immer wieder in einer Blöße erscheinen, die keiner gern zugibt.
Spricht man das Wort »Glaube« so einfach, unverblümt, aus, muß man also den Glauben die Quintessenz jener Kampfjahre nennen, so ist ohne weiteres klar, daß sich jene Jahre nicht so radikal von unsrer Gegenwart unterscheiden, wie wir das gerne hätten, weil wir von jener Barbarei schlechterdings genug haben. Wir alle, Christen und Nichtchristen, sind es zweifellos satt, andauernd und ausgerechnet an die besonderen bestialischen Möglichkeiten unseres nur technisch hochentwickelten Jahrhunderts erinnert zu werden. Man bedauert die Juristen, die sich dieser Materie von Amts wegen widmen müssen. Trotzdem: haben diese schauerlichen Möglichkeiten ihren Spielraum denn wirklich verloren? Gewiß, es hat auch Rückzüge gegeben. Aber der Schrecken ist noch da. Man hat ihn lokalisiert, so gut oder schlecht das gehen mag. Man hat ihn nicht beseitigt, aber man hat ihn konzentriert. Jedoch: ist das nicht schon bei der politischen Technik der Konzentrationslager und der Gaskammern der Fall gewesen? Die Vorzüge der Atombombe wenden sich ja schließlich durchaus auch an die Rechenkunst der Maßgebenden, die über das, was sie da einlagern, zu bestimmen haben. Was darunter, auf der Ebene der Massen, vor sich geht, ist mit billiger Propaganda sicher nicht mehr zu beschwichtigen.
Was ist zu tun? Geht es heute nicht mehr um den Glauben? Der erfahrene Theologe Barth meint, daß es gerade heute erst recht um den Glauben gehe. Aber man müßte angesichts der weit größer gewordenen Gefahr, der Weltgefahr, noch deutlicher wissen, was Glaube heißt und was er nicht heißt. Der Glaube bietet sich nicht ohne weiteres als politische Arznei an. Aber der Glaube kennt einen eigenen Auftrag, der sich vom politischen Auftrag nicht zum Schaden der Politik unterscheidet. Dieser besondere Auftrag begründet den Glauben. Er ist aber zugleich auch Arbeitsauftrag für den Glauben. Der Glaube verdankt sich der Kirche. Eben deshalb hat der Glaube den Auftrag, kirchlich zu sein oder doch wenigstens kirchlich zu werden. Das heißt nicht, daß das Wort Glaube für die Kirche reserviert ist. Aber es heißt, daß der Glaube in die Kirche weist, damit der Mensch an seinen Weltnöten lerne, was Gott ihm zu sagen hat, ja was der Mensch hat und wer ihn hat, weil ihn Gott in der Hand hat.
Um dieses besonderen kirchlichen Auftrags willen mag Karl Barth die »Christengemeinde« und die »Bürgergemeinde« nicht voneinander getrennt wissen. An diesem Punkt hat er scharfen Widerspruch erfahren. Wir können diese Kontroverse hier nicht im einzelnen darstellen. Man weiß auch so, wie umstritten kirchliche Stellungnahmen zum politischen Leben immer wieder sind und sein werden. Aber der Sachverhalt sei doch um seines Gewichts willen wenigstens durch einen Rückblick in eine ebenfalls nicht bewältigte Vergangenheit klar gestellt. Bekanntlich hat man Luther bis zum heutigen Tag den Bauernkrieg als die Konkurs – anzeige der Reformation angekreidet. Was half, so wird gefragt, was hilft denn ein Evangelium, das von der weltlichen Herrschaft der Kirche befreit, um die vom geistlichen Herrn Befreiten um so ärger in die keineswegs zarteren Hände weltlicher Herren fallen zu lassen? Welcher mindestens psychologische Defekt liegt da vor?
Sieht Luthers beharrliche Unterscheidung zweier Reiche, des geistlichen und des weltlichen, nicht noch heute, ja heute erst recht, weit eher nach verzweifeltem Rückzug vor einem unerwarteten Erfolg, und dem damit gegebenen Dilemma, als nach einer echten Lösung der sozialen Frage aus? Was würde der gleiche Luther zum preußischen Dreiklassenwahlrecht wilhelminischen Angedenkens gesagt haben? Ein kräftiger Schuß demokratischen Lebens würde uns hilfreicher sein, meint jedenfalls Karl Barth, wenn ich ihn mit meinen Worten wiedergeben darf. Dieses demokratische Leben wird ja nicht mehr nur in der Schweiz praktiziert. Muß man nicht sogar sagen, daß gerade die Probleme des demokratischen Lebens den Lebensbedingungen des christlichen Glaubens direkt entgegenkommen? Weiß man doch in der Demokratie, daß das Gefängnis nicht die einzige Alternative zur Liebe darstellt.
Jedoch, enthebt uns diese humane Einsicht bereits dem Dilemma Luthers? Ich stelle diese Frage, weil sie eben naheliegt. Hat am Ende bei uns nicht ein äußerst wirksamer politischer Mißerfolg in dieselbe Zwangslage geführt, in welche sich Luther durch seinen fatalen Erfolg versetzt sah? Wie war das denn nach 1945, als das Notwesen der Persilscheine begann? Als das Christliche in die demokratische Führungsspitze gedrängt wurde? Wir können schwerlich leugnen, daß sich uns die Demokratie immer noch nicht besonders erfolgreich präsentiert. Wir haben zwar ihre Vorzüge am eigenen Leibe, in der Tat physisch, kennen und schätzen gelernt. Dafür muß man besonders in Deutschland dankbar sein. Aber die konkrete Frage, wie man für den Rechtsstaat reif wird, quält heute nicht nur uns, sondern die ganze Welt. Doch wie dem auch sei, besser: daß hier, im Politischen, das meiste noch zu tun ist, kann für den kirchlichen Auftrag, nämlich aus der Weitsicht und Nüchternheit jedenfalls des Theologen Karl Barth gesprochen, nur ein Ansporn sein. Um eine auf jeden Fall antiquierte Herrschaft der Kirche wird es sich nicht handeln. Wohl aber steht der Dienst zur Diskussion, welchen die Kirche in der Öffentlichkeit zu leisten vermag, weil sie die im Rechtsstaat und damit in der demokratischen Lebensordnung schlummernden Kräfte zu lange entbehrt hat, um sie nicht für ihre Aufgabe fruchtbar machen zu wollen.
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Wir verlassen das heikle Gebiet des Politischen und wenden uns Karl Barth von einer anderen, freilich nicht weniger dramatischen Seite her zu. Dieser Theologe fand nicht nur bedeutende Freunde, er hat auch exzellente Schüler. Freundschaften können ein Ende nehmen, Schüler gehen schließlich ihre eigenen Wege. Was bleibt, ist die Hauptfrucht des Mannes, das Riesenwerk seiner Kirchlichen Dogmatik. Mit diesem Werk schuf sich der Theologe Barth sein eigenstes Arbeitsgebiet. Zwölf ungemein umfangreiche Bände, der dickste davon zählt über tausend Seiten, bezeugen Genie und Fleiß des Gelehrten. Ich habe sie erarbeitet, sagte er mir neulich fast grimmig. Er weiß: wer wird sie alle lesen? Auch in diesem Besonderen wird der Erfolg leicht zum Dilemma seines Urhebers. Er hat zu befürchten, daß er das Werk wohl oder übel durch die Schüler wird kommentieren lassen müssen. Aber welchem genialen Lehrer wäre dieses Schicksal erspart geblieben?
Denken wir bloß an Hegel, an dessen unerreicht gebliebene Erfindungsgabe Barth jedenfalls einen schwäbischen Geist nicht ohne Genugtuung schon ein wenig zu erinnern vermag, obwohl dieser Vergleich auch in sachlicher Beziehung nicht ganz unbegründet sein dürfte. Lebt nicht jede Denkarbeit von Fiktionen? Warum sollte dieses Los dem Theologen erspart geblieben sein?
Ich muß freilich bitten, das Wort »Fiktion« jetzt nicht trivial zu nehmen, als könnten Fiktionen nur leere Hirngespinste sein. Wer am achtzigsten Geburtstag auf ein so immenses Werk, wie es die Kirchliche Dogmatik ist, zurückblickt, zumal wenn er doch weiß, was er gerne noch zu dessen Abschluß getan hätte, der dürfte um dieses Wort Fiktion recht gut und jedenfalls besser Bescheid wissen als jemand, dem das Wesen des Denkens kaum vertraut ist. Kurz, das Wort Fiktion sei hier in seiner Funktion für das Denken genommen. (Kommt ein Mathematiker ohne Fiktionen aus? Kann man wirklich rechnen, wenn man die Null vernachlässigt? Was ist es um das Nichts? Um das Als ob?)
Damit ist nicht gesagt, daß Gott oder der Glaube bloß Fiktionen sind. Aber wer sagen will, was er sich denkt, wenn er von Gott oder vom Glauben zu reden hat, kann der ohne Fiktionen auskommen? Und wenn es bloß so wäre, daß er wie Karl Barth dahinterkommt, daß die Sünde selber eine Fiktion, eine in Wahrheit unmögliche Aktion ist? Und doch sündigt der Mensch. Das will im Sinne Barths sagen: der Mensch, der sündigt, tut das eigentlich Unmögliche. Diesem Unmöglichen beizukommen ist gerade die Aufgabe des Glaubens. Es geht da also um eine Wirklichkeit des Unmöglichen, der die bessere und rettende Wirklichkeit des Notwendigen, des allein in Gott Möglichen, entgegentritt. Diesem inneren Zug folgt die Dogmatik Karl Barths.
Es muß also gar nicht so sein, daß sich eine Fiktion einfach in Rauch auflöst. Im Gegenteil, Fiktionen können realisiert werden, sie wollen das, und wenn sie realisiert sind, wird ihr Wahrheitsgehalt überprüfbar. Nur so und nicht anders entsteht auch eine große Dogmatik. Was vom Marxismus gilt, etwa mit Hilfe des dialektischen Materialismus, das wird einer kirchlichen Dogmatik nicht von vornherein abgesprochen werden dürfen, wenn man sich nicht im Jurisdiktionellen, der üblichen Antwort auf die verständliche Angst vor der Fiktion, verfangen will. Es soll nun nicht behauptet werden, daß Barth etwa Gott zur Arbeitshypothese seines Riesenwerks gemacht habe, obwohl er sich diese Fiktion recht verstanden sehr wohl gefallen lassen könnte. Wer wie Barth alles an die »Wirklichkeit«, nämlich an deren Notwendigkeit setzt, um von Gott zu reden, der kommt ohne eine derartige radikale Arbeitshypothese schwerlich aus. Der Theologe muß wie der Glaube riskieren, daß er sagt, was er zu sagen hat. Denn Gott verfügt selber über sich, er läßt nicht über sich verfügen. Genau das hat Barth zu sagen.
Freilich, es ist wahr: Barth will ein der Bibel verpflichteter Theologe sein. Aber geht das ohne eine bezeichnende Kehre? Kann denn die Einheit und Wahrheit dieses doch wohl inspirierten Buches, der Bibel, irgendwo anders gesucht werden wollen als eben in Gott selbst? Also mußte sich ein der Bibel so radikal verpflichtet wissender Theologe wie Barth entschließen, von Gott selbst zu reden. Er erneuerte deshalb die alte Trinitätslehre. Eben ihr Sinn besagt: Gott selbst, nicht weniger! Und von Gott selbst zu reden, dafür sind nun zwölf Bände allerdings nicht zu viel, sondern sicher zu wenig. Daß der Theologe Barth das weiß, gab und gibt ihm jenes Format, das ihm nicht nur in der theologischen Welt die Geltung verschafft hat, die ihm zweifellos zukommt.
Man scheut sich, einem so gewaltigen Geist mit Fragen zu kommen, die Einwände werden. Aber Barth hat Anspruch darauf, daß wir nicht ins Kümmerliche abgleiten. Und so sei denn auch gesagt, daß trotz des gewaltigen Umfangs von Barths Werkarbeit Fragen stehengeblieben sind. So vor allem in der Barth unablässig beschäftigenden Kontroverse mit dem Senior der Neutestamentlichen Wissenschaft, dem Marburger Theologen Rudolf Bultmann.
Beide Theologen, Bultmann wie Barth, wissen sich schon von Amts wegen der Bibel verpflichtet. Dem Dogmatiker Barth gegenüber fiel dem Exegeten Bultmann freilich eine besondere Aufgabe zu. Noch 1941 veröffentlichte Bultmann jenen programmatischen Vortrag, in welchem er die Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung forderte. Diese Forderung wurde durchaus auch um der Predigt willen erhoben. Der Exeget Bultmann verlangte, daß man zwischen dem Weltbild oder den weltbildlichen Vorstellungen der Bibel einerseits und dem wahren Weltverständnis ihrer Glaubensaussagen andererseits streng unterscheide. Auf Gott verpflichtet zu werden durfte nicht heißen, daß man an ein vergangenes Weltbild biblischer Menschen zu glauben habe. Gottes Wort will nicht als Mythos verstanden werden. Was man etwa im Neuen Testament als mythische Redeweise erkennen muß, bedarf der Entmythologisierung, damit sich der Glaube nicht in unzumutbare weltbildliche Vorstellungen, wie sie mit diesen mythischen Aussagen verbunden sind, verfange. Honest to God! sagte der englische Bischof John A. T. Robinson dazu.
Solange man mit Mißverständnissen rechnen muß, und das ist bei dieser Kontroverse zwischen Barth und Bultmann durchaus angebracht, kann nur sehr vorsichtig berichtet werden. Andererseits: diese Kontroverse ist wohl das aufregendste theologische Ereignis für die Nachfolger geworden, wenigstens was meine Generation betrifft, die im Gewitter dieser Kontroverse ihrerseits alt wurde und nun für die eigenen Schüler verantwortlich ist.
Ein Mißverständnis soll von vornherein abgewehrt werden. Auch wenn Dietrich Bonhoeffer Karl Barth »Offenbarungspositivismus« vorgeworfen hat, so umschreibt der Vorwurf auf keinen Fall die ganze Position Barths, was Bonhoeffer sehr wohl wußte. Und wenn Bultmann in Bonhoeffers Augen nicht weit genug ging, so war damit wohl gemeint, auch Bultmann sei nicht konsequent genug vorgegangen. Was zur Diskussion steht, ist und bleibt allerdings durchaus die alte, von Bultmann 1925 behandelte und in seinen Aufsätzen über »Glauben und Verstehen« bis heute gestellte Frage: »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?«, also genau die Frage, die Barth in der Kirchlichen Dogmatik den Versuch unternehmen ließ, von Gott selbst zu reden, nämlich von Gott, wie Er sich selbst durch sich selbst als er selbst zur Sprache bringt, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Barth sagt: Gott ist der Gott, der sich das Zeugnis von ihm nicht durch den Menschen machen läßt, sondern der sich beim Menschen so bezeugt, daß der Mensch Gottes Wort als den Text seiner, der menschlichen Existenz, im Evangelium wie im Gesetz durchaus rund und abgeschlossen vorgelegt bekommt. Von da aus interessiert sich Barth für die Propheten und die Apostel als die maßgebenden Zeugen der biblischen Offenbarung. Diese Männer sind Zeugen einer Wirklichkeit, welche sie wie gesagt nicht machen, sondern welcher sie sich mit ihrer Existenz nur einordnen, welcher sie in ihrer Existenz nur nachkommen können. Daher und nur deshalb gibt es die Bibel. So also Barth.
Das ist eine in sich wie es scheint völlig geschlossene Position. Ist sie Konstruktion? Bultmann jedenfalls befürchtet, daß Barth seine widerspruchsfreie Dogmatik an die Stelle der ihrerseits doch recht widerspruchsvollen biblischen Texte rückt. Man könnte ja den Versuch machen, etwa die lukanischen Schriften, also das Evangelium und die Apostelgeschichte des Lukas (in Wahrheit ist uns der Verfasser dieser Schriften unbekannt), zum Kanon innerhalb des Neuen Testaments zu machen. Aber dann würde sich erst recht zeigen, daß sich auch die Theologie, und gerade die Theologie, der übrigen Evangelien und die etwa des Apostels Paulus sicher nicht mit derjenigen des Lukas deckt. Oder soll man auf eine Abfolge von Tatsachen zurückgehen, welche hinter deren theologische Ausdeutung zu liegen käme? Wer das ernsthaft tut – und das ist durchaus eine Aufgabe neutestamentlicher Wissenschaft -, der gelangt zwar keineswegs zu der makabren Konstruktion, die uns Jesus als einen politischen Rebellen, sozusagen als einen Bauernkrieger zeichnen würde, wie das neuerdings wieder einmal behauptet wird. Wohl aber differieren die in echten Analysen aufweisbaren Tatsachen in Lücken, die niemand mehr ausfüllen kann, und sind, das ist das Wichtigste, vermischt mit Wunderhaftem, das von vornherein symbolische Auslegung aus der Zeit nach Jesus ist und die erfragte Abfolge von Tatsachen erst recht nicht zustande kommen läßt. Diese Widersprüche auf der Ebene der Tatsachen, gewiß auch zwischen Jesus und Paulus, sobald man den Apostel zum Berichterstatter Jesu macht, statt ihn sein zu lassen, was er ist, eben ein Apostel seines Herrn, sind keineswegs nur die Folgen weltbildhafter oder unhaltbarer Vorstellungen. Aber sie kommen uns leichter zu Bewußtsein, wenn wir die Prämissen antiker Denkweise mitbeachten. Aussagen wie z.B. die von der Jungfrauengeburt, die Barth als »Zeichen« so wichtig ist, verdanken sich ohne Zweifel solchen theologischen Fiktionen, die einer ernsthaften theologischen Verifikation schon deshalb nicht standhalten, weil z.B. Paulus und der Evangelist Johannes dieses Dogmas gar nicht bedürfen, wenn sie überhaupt davon wissen. Barth ist an dieser Stelle zweifellos in Gefahr, Theologie mit hymnologischer Redeweise nicht nur zu verknüpfen, sondern zu vertauschen. Und das ist’s, was Bultmann der Auslegung der Texte nicht als Gesetz ihrer Wahrheit aufzwingen lassen will.
Barth dagegen befürchtet, daß Bultmann die biblischen Texte zugunsten moderner Wahrheiten über den Menschen und seine Welt domestiziert. Sofern sich Bultmann durch die Geschichte der Forschung im eigenen Fach erst durchkämpfen mußte, ist Barths Verdacht nicht unbegründet. Nur gilt dieser Verdacht dann zuerst einmal den Vorurteilen der Forschung selber. Aber, sind es nicht bereits domestizierte Texte, welche hier ins Spiel gebracht werden? Hat die Geschichte der Dogmatik dieselben Texte etwa weniger domestiziert als die historisch-kritische Erforschung ihrerseits tat, die ja gegen eine unhaltbare Dogmatisierung der Texte eben »historisch-kritisch« anging? Es ist freilich zuzugeben, daß sich dieser ganze Prozeß bereits innerhalb des Neuen Testaments abspielt. Man stritt sich von Anfang an um den Glauben. Darin stimmen z.B. Paulus und die Apostelgeschichte überein.
Sicher, das Publikum will keinen Streit um die Bibel haben. Will es den Streit in der Bibel auch nicht wahrhaben? Dann erweist sich das Publikum als in eigener Sache nicht kompetent. Denn es ist durchaus die Sache, das Leben, die Existenz des Publikums, um welche in der Bibel gestritten wird, damit der Mensch lerne, wodurch er leben kann.
Daß sich also auch der moderne Mensch kritisieren lassen muß, wenn vom Worte Gottes die Rede sein soll, wird Bultmann immer betonen. Es fällt Bultmann ja nicht von ferne ein, das nicht genug zu bedenkende Gewicht dessen, was Sünde heißen muß, zu leugnen. Und daß die biblischen Texte nicht mit Golt identisch sind, mögen sie noch so sehr vom Glauben inspiriert, also im Gehorsam des Glaubens geschrieben sein, wird Barth seinerseits niemals leugnen, sondern gerade behaupten. Wie könnte sich sonst irgend jemand überhaupt getrauen, mit diesen Texten arbeiten zu wollen? Über Gott verfügen wir nicht. Wohl aber über Texte. Und das gilt in dieser Kontroverse für beide Theologen. Die Kontroverse kann also nicht von außen, nicht außerhalb ihrer Verhandlung entschieden werden.
Dennoch scheint Barth bis jetzt insofern im Vorteil zu sein, als Bultmanns Forderung der Entmythologisierung, obwohl sie heute unabdingbar ist, keine konstitutive Bedeutung für den Streit innerhalb etwa des Neuen Testaments haben kann. Barth war deshalb gerade durch Bultmanns Programmforderung gezwungen, nach einem innertheologischen Kriterium zu fragen, um den Streit um die Auslegung durchhalten zu können. Man kann fast sagen, hier hätten sich die Rollen vertauscht. Während Barth den ersten Band seiner Dogmatik, die »Prolegomena« (1927), noch einmal schrieb (1932), weil ihm dieser Band zu sehr in Anlehnung an seinen Römerbriefkommentar, eben zu anthropologisch geschrieben war, lenkte Bultmann umgekehrt gerade zur Bestimmung der ganzen Theologie als einer Anthropologie um und nahm die betreffenden Hauptaufsätze seiner vorhergehenden Periode nicht mehr in seine Aufsatzsammlung auf. Bultmann meint, wer von Gott reden wolle, müsse vom Menschen reden, weil das Wort Gottes den Menschen selbst wolle. Und weil der Sünder sich selbst nicht ändern kann, muß er mit Hilfe solcher Texte wie des Neuen Testaments den Versuch machen, abzuhören, was ihm da über sich selbst gesagt wird. Nur so kann von Gott die Rede sein. Gott ist also an dem zu beschreiben, was er an uns tut; sein Wort ist seine Tat. Barth will dagegen zentral von Jesus Christus reden, weil Jesus Christus Gott dem Menschen vermittelt. Das ist sein theologisches Kriterium, das er gesucht hatte: Gott ist an dem zu beschreiben, was er für uns tat.
So erklärt sich nun auch das gewissermaßen dialektische Verhältnis, in welchem sich diese Kontrahenten zueinander verhalten und um dessentwillen Barth, wie uns scheint, ohne Bultmann nicht gewürdigt werden kann. Beide, Barth und Bultmann, müssen aufeinander treffen, sobald sie sagen, wie sie sich vor Mißverständnissen schützen wollen. Denn für beide handelt es sich in der Theologie um das Wort Gottes. Darin sind sie einig. Will nun Bultmann den Einwand zurückschlagen, der sich aus seiner Gleichung von Wort und Tat Gottes ergibt, will er abwehren, daß bei ihm des Schöpfers Wort unter der Hand wieder zum Mythos wird, so muß auch er von Jesus Christus reden. Und wenn Barth verhindern will, daß aus Christus unter der Hand ein metaphysisches Prinzip der Versöhnung zwischen Gott und Mensch gemacht wird, so muß er seinerseits Jesus selbst als Wort Gottes bedenken. Wollte aber Bultmann sagen, daß Jesus nur in der aktuellen Verkündigung zum Wort Gottes werde, das er ist, so könnte Barth betonen, seine Dogmatik sei, mit Verlaub, Verkündigung am laufenden Band – und eben dieses laufende Band sei ähnlich wie der fortgesetzt im Gang befindliche Gottesdienst in Maria Laach das Band, das die Kirche zusammenhält. Kirche als Ereignis – weil Gott das Wesen ist, das sich schlechterdings nur ereignet — in diesem Zeichen begannen diese beiden Theologen einst miteinander als Freunde.
Heute, da der eine seinen achtzigsten Geburtstag schon seit zwei Jahren hinter sich hat, während ihn der andere soeben begeht, scheint es manchem von uns, daß unsre Lehrer eine durchaus bekömmliche Polyphonie inszeniert haben, die am gemeinsamen Thema ihrer Musik nicht viel mehr geändert hat, als das kunstvolle Variationen immer tun werden. Nur die Spannung treibt den Ton weiter. Und Mozartliebhaber sind sie beide, unsre Großen. Sie werden also wissen, was gemeint ist. Daß beide Theologen im Humor nicht ohne weiteres gleichzeitig sind, mag dem Unterschied ihrer Herkunft entsprechen. Wo der eine »gern« sagt, da sagt der andre »danke«. So mag dennoch jedem zugute kommen, was der andre tut, wann immer die Rolle dessen, der aufwartet, mit der Rolle dessen, der zu Tisch sitzt, vertauscht werden möge.
Noch ein Wort zum Geburtstag Karl Barths.
Seine Gesundheit hat seit einiger Zeit schwer gelitten. Er schrieb mir, sie sei problematisch wie so vieles in der Welt. So mag ihm denn über allen Kontroversen, oberhalb ihrer, Eines ausdrücklich bescheinigt werden, sein Hilfreichstes, sein Bestes gerade auch in den trüben Jahren: Karl Barth ist ein Mensch, der einfach anwesend ist. Was das bedeutet, wenn Schwäche und Verzagen, Verrat oder Dummheit um sich greifen, das wird auch der Nichttheologe zu würdigen wissen. Ist das nicht auch das Eigentümliche an Mozarts Musik? Mozart ist immer, schon mit dem ersten Takt, einfach anwesend. Und weil wir hier eines großen Theologen gedenken: ist es nicht so, daß wir alle uns danach sehnen und uns darüber freuen, nicht nur, daß ein echter Mensch anwesend sein möge, sondern: daß er das und wenn er das sein kann: anwesend sein? Das Gegenteil wünschen wir uns nur von dem, was uns bedroht. Wir wollen die Linie ein wenig verlängern, wenn schon ein Theologe gefeiert wird. Wir meinen ja nicht, daß wir uns Jesus Christus als das Duplikat eines guten Menschen denken sollen. Aber dies steht doch fest: daß Jesus Christus, ja, dieser Jesus von Nazareth, uns selber als ein wenn auch sicher weniger strahlendes Abbild seiner Existenz haben möchte. Was das heißt, konnte und kann man von Karl Barth lernen.
Jesus Christus abbilden, das heißt: für seine Mitmenschen anwesend werden. Es gibt Gefängnisinsassen in Basel, oder hoffen wir lieber, es gab sie, die das an Karl Barth in Person gewahr wurden, als er auch ihnen mit der Predigt zu helfen begann. So wurde aus dem laufenden Band der Dogmatik das vinculum caritatis, das Band der Liebe. Gott bindet mit der Liebe. Und Gott dafür zu loben, nicht den Menschen, wohl aber beim Menschen, damit möglichst alle gerne einzustimmen lernten, weil es uns befreit, die Gebundenen Jesu Christi zu sein, das band und das bindet diesen Theologen an sein Werk, für das wir ihm danken, und uns an seine Person, die wir lieben.
Quelle: ZThK 63 (1966), S. 188-199.
[1] Am 8. Mai 1966 verkürzt im Hessischen Rundfunk vorgetragen.