Über die ethischen Konsequenzen der Rechtfertigung des Sünders
Von Eberhard Jüngel
Wer aus der Gerechtigkeit Gottes lebt, der weiß, daß wir unsere eigene Anerkennung nicht selber ins Werk setzen müssen. Gerechtfertigt sein heißt: eine unwiderruflich anerkannte Person sein. Wer aus der Gerechtigkeit Gottes lebt, der wird aber auch im anderen Menschen eine von Gott unwiderruflich anerkannte Person respektieren: allen ihren möglichen Leistungen und Erfolgen zuvorkommend, allen ihren faktischen Fehlleistungen und Mißerfolgen zum Trotz. Nicht was ein Mensch aus sich macht, entscheidet über ihn, sondern daß Gott aus Sündern Gerechte gemacht hat, entscheidet über unser ewiges und deshalb auch über unser zeitliches Leben. Wer aus der Gerechtigkeit Gottes lebt, der wird in jeder menschlichen Person mehr sehen als nur einen Täter oder Untäter. Die Rechtfertigung des Sünders verbietet es, die beste Tat, aber auch die schlimmste Untat, mit dem Ich zu identifizieren, das sie tat. Sie entmythologisiert den Mythos vom sich durch seine Erfolge selber übertreffenden Übermenschen und läßt uns hinter der Fassade des sich mit seinem Lebenswerk verwechselnden Selbstgerechten einen erbarmungswürdigen Menschen entdecken. Sie entmythologisiert aber genauso den Mythos vom sich durch seine Untaten zur Unperson machenden Unmenschen und läßt uns auch im schlimmsten Fall hinter einer trostlosen Lebensgeschichte die menschliche Person entdecken, deren sich Gott selber erbarmt hat. Wer aus der Gerechtigkeit Gottes lebt, kennt keine hoffnungslosen Fälle. Er erkennt in jedem Fall eine Person, der göttliche Erbarmung widerfahren ist und die eben deshalb auch unter Menschen erbarmungswürdig ist – wie jeder von uns. Es gibt unmenschliche Taten. Es gibt unheimlich viele unmenschliche Taten. Doch Gottes Gerechtigkeit verbietet es uns, die unmenschliche Tat kategorial so auszuweiten, daß ihr Subjekt mit ihr identifiziert und dadurch zum Unmenschen erklärt wird. Die Kategorie des Unmenschen ist selber eine unmenschliche Kategorie.
Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 1998, Seite 226f.