Von Helmut Gollwitzer
1. Durch seine Sendung in die Welt und durch sein Liebesgebot verpflichtet Jesus Christus die Christen zur Teilnahme am öffentlichen Leben.
2. Damit ist der Bereich der Politik samt der Verwaltung der Macht grundsätzlich als ein Bereich unter der Herrschaft Jesu Christi, nicht außerhalb von ihr, gekennzeichnet. Es geschieht nicht ein Austritt aus Jesu Christi Reich beim Eintritt m eine politische Welt. Auch über ihr steht der eine und gleiche Herr, und auch in ihr ist sein Gebot über dem anderer Herren zu hören.
3. Es gibt christliche Politik sowenig, wie es christliche Medizin gibt, wohl aber gibt es Christen in der Politik, hier wie in der Medizin usw. sind sie nötig.
4. Der Christ geht in die Politik nicht, um dort ein System von christlichen Grundsätzen durchzusetzen, sei es aus dem Neuen Testament oder aus einem angeblichen Naturrecht gewonnen, sondern um der von seinem Herrn geliebten und gesuchten Menschen-Welt zu dienen. „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“ (Röm. 13,10). In dieser Liebe ist er frei von starren Normen, frei für die Frage nach dem jeweils Besseren im Dienste der Menschen.
5. Liebe steht weder im Gegensatz zu Gerechtigkeit noch zu Gewalt. Die Herstellung irdischer Gerechtigkeit ist eine ihrer Verwirklichungsweisen. die Gewalt eines ihrer Verwirklichungsmittel.
6. Der Christ ist zur Entscheidung und zum Ermessen in der jeweiligen Situation freigegeben, er ist aber nicht seiner eigenen Willkür und dem Anspruch der Situation preisgegeben. Er hat Orientierung für sein Handeln durch sein Hören auf die Stimme seines Herrn, die zu ihm dringt durch das Zeugnis der Bibel vom Willen dieses Herrn in Evangelium und Gebot.
7. Aus diesem Zeugnis ergeben sich konstante Gesichtspunkte, durch die dem christlichen Handeln in der Politik Kontinuität und Konsensus geschenkt wird:
a) Gott liebt alle Menschen: sein Wille geht auf das Heil aller Menschen. Wir sind also nie nur für unsere Gruppe verantwortlich, sondern stets für das Zusammenleben der uns Nahestehenden mit den uns Fernerstehenden; auch deren Wohl muß von uns mitbedacht werden.
b) Infolgedessen ist das gebotene Ziel des Handelns bei Konfliktsfällen Frieden, Versöhnung und Verständigung, in praktischen Fragen also Interessenausgleich und Kompromiß.
c) Weil Gott alle Menschen liebt, darf kein Mensch aus dem Verantwortungsbereich unseres Handelns grundsätzlich ausgeklammert werden. Ausgeschlossen ist also das Freund-Feind-Denken als Wesensbestimmung des Politischen, die Pflege des Hasses als Mittel der Politik, die Ausscheidung irgendwelcher Menschen oder Menschengruppen aus der Nächstenschaft, die Bestreitung des Existenzrechtes für irgendwelche Menschengruppen (z. B. Antisemitismus).
d) Gottes Lebensführung stellt uns je in bestimmte Menschengruppen und macht uns für sie verantwortlich. Durch diese Konkretion unserer Verantwortung verbietet er uns, die Näheren zugunsten irgendwelcher Ferneren zu überspringen. Wir haben nicht unser Volk zugunsten der Menschheit, nicht die heutigen, konkreten, unvollkommenen Menschen zugunsten eines Zukunftsideals zu opfern, sondern durch die Praktizierung unserer Verantwortung für diese konkrete Gruppe der uns zunächst Stehenden hindurch für die größeren Gruppen und für die Zukunft Nützliches zu leisten.
e) Gottes gnädiger Wille zielt auf einen Menschen, der ihn auf seine eigene, individuelle Weise lobt, der ihm persönlich dankt und der ihm mit seiner eigenen Vernunft und seinem eigenen Willen, also nach eigener Verantwortung dient. Er zielt also auf die freie Mündigkeit des Menschen. Der Christ wird also alle Verhältnisse der Bevormundung der Menschen durch Menschen, alle Verhältnisse der Subordination nur als grundsätzlich vorübergehende, vorläufige, durch die Umstände vorerst noch erforderte Verhältnisse verstehen und auf ihre baldmöglichste Ablösung durch Verhältnisse der Kooperation bedacht sein- Die Ungleichheit der Menschen kann ihm nur Durchgangsstadium zur politischen Gleichberechtigung hin sein. Er wird deshalb Bestrebungen der Demokratisierung, der Kontrolle der Regierenden durch die Regierten, der Gleichstellung vor dem Recht, des möglichsten Abbaus von Privilegien, der Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheiten grundsätzlich begrüßen und praktisch unterstützen. Es geht ihm um Beseitigung aller Verhältnisse, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (K. Marx).
f) Weil Gottes Gnade uns vor Gott als dem wahren Herrn unseres Lebens verantwortlich macht und weil Gott den mündigen, ihm frei verantwortlichen Menschen will, darum muß der Christ auf die Bindung und Begrenzung der politischen Macht hinarbeiten. Das 1. Gebot verbietet die Ausstattung menschlicher Instanzen mit absoluter Befehlsgewalt, es warnt jeden Menschen, eine solche Gewalt anzustreben oder sie einem anderen Menschen zuzubilligen. Der Christ muß deshalb der Tendenz auf Omnipotenz der Staatsgewalt entgegenarbeiten und alle Bestrebungen unterstützen, die darauf aus sind, die Staatsführung an ihr vorgegebenes, für sie nicht verfügbares Recht (z. B. Verfassung) zu binden und durch die Regierten zu kontrollieren.
g) Gottes Wille zielt nicht auf einen losgelösten einzelnen, sondern auf die Menschheit als Ganzes. Infolgedessen stellt er jeden einzelnen Menschen so unlöslich in die Gemeinschaft, daß keiner ohne die Gemeinschaft leben kann. Der Mensch ist wesenhaft ein soziales Wesen. Es kann also keiner Gott wirklich dienen, ohne auch dem Mitmenschen und der Gemeinschaft zu dienen. Christlicher Glaube kann nicht sein ohne die Bejahung und Betätigung sozialer und politischer Verantwortung. Der Christ wird also seine jeweilige Gesellschaftsordnung kritisch daraufhin befragen müssen, wie weit sie asoziales und egoistisches Verhalten und die Bildung von Kastenprivilegien begünstigt, ja zu solchem Denken und Verhalten erzieht, und er wird sich einsetzen für die Umänderung zu solchen Ordnungen, die den einzelnen in die Gemeinschaft hinein weisen, zur Verantwortung für die Gemeinschaft anleiten, ihm zugleich aber den Raum für eigene verantwortliche Urteilsbildung und Entscheidung gewähren.
h) Der Christ erkennt als Hörer des Evangeliums unsere Zeit als Zeit „zwischen den Zeiten“, d. h. als Zeit, die herkommt von der schon geschehenen Offenbarung der Liebe Gottes zur Welt in der Erscheinung Jesu Christi und die hingeht auf die noch nicht geschehene Vollendung des göttlichen Heils im Reiche Gottes. Er wird von seiner „großen Hoffnung“ her auch die Schritte der „kleinen Hoffnung“ auf bessere Gerechtigkeit und bessere Freiheit in den gesellschaftlichen Verhältnissen tätig unterstützen; er wird zugleich in Nüchternheit der durch unser Tun wohl einzudämmenden. aber nicht zu beseitigenden Wirklichkeit der Sünde Rechnung tragen durch Bejahung der Notwendigkeit der staatlichen Ordnung und des Rechtszwanges.
i) Die Erkenntnis unserer Situation zwischen dem „Schon“ und dem „Noch-nicht“ schützt den Christen sowohl vor einer Resignation, die alle vorwärtsdrängende Bewegung auf bessere Ordnung hin abschneidet und den Status quo ideologisch als gottgewollt rechtfertigt, wie auch vor der Versuchung, politische und soziale Tätigkeit als einen Heilsweg anzusehen, auf dem sich das Reich Gottes als eine konfliktlose, endgültig heile Welt verwirklichen ließe. Die nüchterne Einsicht in das Unverbesserbare lähmt nicht seine Phantasie und Energie in der Arbeit am Verbesserbaren, sondern beflügelt sie und schützt sie vor Verzweiflung bei Enttäuschungen und beim Anstoßen an die Grenze des Möglichen.
k) Gottes Interesse geht laut des Evangeliums auf die wirklichen Menschen, nicht auf irgendwelche objektiven Größen. Damit ist der Politik die Richtung auf die Menschen gewiesen, denen sie zu dienen hat. Der Politiker hat sie nicht als Material für seine Visionen und Pläne zu betrachten. Nicht die Größe und Ausweitung eines Imperiums, nicht die Macht eines Volkes, nicht die Durchsetzung einer abstrakten Rechtsforderung, nicht das Prestige, nicht die Grundsätze einer Doktrin sind die Kriterien verantwortlicher Politik, sondern der Dienst für das Wohl der ihr anvertrauten Menschen. „Nachdem Gott selbst Mensch geworden ist, ist der Mensch das Maß aller Dinge, kann und darf der Mensch nur für den Menschen eingesetzt und unter Umständen geopfert, — muß der Mensch, auch der elendeste Mensch — gewiß nicht des Menschen Egoismus, aber des Menschen Menschlichkeit — gegen die Autokratie jeder bloßen Sache resolut in Schutz genommen werden. Der Mensch hat nicht den Sachen, sondern die Sachen haben dem Menschen zu dienen“ (K. Barth, „Christengemeinde und Bürgergemeinde“, 1946, 16. Abschnitt).
8. Solche Gesichtspunkte bilden nicht ein System von Prinzipien, d. h. sie geben nicht die Voraussetzungen an. die gegeben sein müssen, damit ein Christ sich am politischen Leben beteiligen kann; sie sind auch nicht eine Liste von Vorschriften, die er anderen in ultimativer Form präsentieren und selbst in starker Weise exekutieren müßte. Sie geben vielmehr die Richtung an, in der er sich mit seinem Handeln zu bewegen hat und in die sein Beitrag die Entwicklung des öffentlichen Lebens, soweit es auf ihn ankommt, drängen soll.
9. Keiner von uns tritt, wenn ihn Gottes Gebot trifft, in eine Welt ein, die noch unbestimmt wäre wie eine neue Schöpfung. Die Welt um ihn her und er selbst ist schon geprägt durch eine lange Vergangenheit, durch Traditionen aller Art, durch die Wirklichkeit des Bösen und die Wirklichkeit der göttlichen Erhaltung; die Gegenwart und wir selbst sind Ergebnis von Geschichte und Auftakt zu weiterer Geschichte. Was wir als Gottes Willen durch das Evangelium vernehmen, will also von uns übersetzt werden in diese Geschichte hinein. Wir haben nicht nach idealen Bedingungen für unser Handeln zu verlangen und auf solche Bedingungen zu warten, sondern heute, unter den faktischen Bedingungen, unsere tätige Antwort auf Gottes Anspruch zu geben. Deshalb kann Nachfolge nicht in Befolgung eines starren Systems von Grundsätzen geschehen, sondern nur in schöpferischer Phantasie, in der Bereitschaft, jetzt unnachgiebig zu stehen, jetzt auf Angestrebtes zu verzichten, jetzt nachgiebig sich zu fügen, jetzt scheinbar aussichtslos vorzustoßen. Von grundsatzlosem Opportunismus unterscheidet sich diese Haltung dadurch, daß sie in stetem Hören auf Gottes Gebot, in beharrlichem Festhalten der von ihm gewiesenen Richtung, in brüderlicher Aussprache mit den anderen Gliedern der christlichen Gemeinde, mit der Bitte um ihren Rat und in Bereitschaft zum Anhören ihrer Kritik und ihrer Warnungen, gelebt wird,
10. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit aller unserer Entscheidungen und Erkenntnisse gibt die Fähigkeit zur Toleranz. Von hier aus ist es dem Christen möglich, a) dem christlichen Teil seiner Umwelt die eigene Entscheidung mit allem Ernst als Frage und als Aufforderung zu gleicher Entscheidung vorzulegen, aber die Differenz von Entscheidungen zu ertragen, — b) den Christen in anderen Teilen der Welt ihre Entscheidungen nicht vorzuschreiben, wohl aber daran mitzuarbeiten, daß auch bei sehr unterschiedlichen Entscheidungen deren gleiche Herkunft und gleiche Richtung und damit die Gemeinschaft des Glaubens und des Dienstes sichtbar werden mögen, — c) mit Nichtchristen zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit ist ermöglicht durch Zusammentreffen von konkreten Wertungen, Bestrebungen, Interessen; für sie genügt partielle Übereinstimmung; sie wird durch die Differenz der Weltanschauung und der Motivierung nicht unmöglich gemacht. Es bedarf also zur Ermöglichung der Zusammenarbeit nicht der Konstruktion einer naturrechtlichen Theorie; es wird sich vielmehr je und je ereignen, welche Partner der Christ unter den Nichtchristen bei seinem Dienst an der Welt findet und wie weit diese Partnerschaft reicht. Dabei wird der Christ nie vergessen dürfen, daß der göttliche Herr, der ihn in den Dienst sendet, auch der Herr der anderen Menschen ist und mit diesen Menschen auch, solange sie ihn noch nicht erkennen, in Verbindung steht, sie zur Erkenntnis der Welt erleuchtet und ihnen neben anderen Gaben Lebenserfahrung. Unterscheidung des Guten und des Bösen, Erkenntnis des zum Leben Notwendigen schenkt. Daraus folgt, daß der Christ in solcher Partnerschaft nie nur der Belehrende ist. sondern immer auch Belehrung und Hilfe von Seiten der Nichtchristen zu erwarten hat. Er steht in dieser Zusammenarbeit mit dem Wahlspruch; „Prüfet alles und behaltet das Beste!“ (1. Thess. 5,21). Vorurteilslosigkeit, Unbefangenheit und Beweglichkeit sind ebenso wie Mut und Festigkeit unerläßliche Zeichen christlicher Freiheit. Eben dies bringt der Christ ein in die Zusammenarbeit mit den anderen und wirkt damit korrigierend gegen Dogmatismus, gegen Vergewaltigung der Wirklichkeit um der Doktrin willen, gegen die Heuchelei der Phrase, gegen die Selbstgerechtigkeit und gegen das Denken in Fronten, befreiend im Freimachen der guten praktischen Erkenntnisse von ihrem falschen prinzipiellen Kontext Freiheit steht immer kritisch gegen unsere Unfreiheiten. Der Anwalt solcher Freiheit zu sein ist die Sendung des Christen im politischen Leben.
Quelle: Ruf und Antwort. Festgabe für Emil Fuchs zum 90. Geburtstag, Leipzig: Koehler & Amelang, S. 356-361.