Helmut Gollwitzer, Einige Leitsätze zur christlichen Beteiligung am politischen Lebens von 1964: „Weil Gott alle Menschen liebt, darf kein Mensch aus dem Ver­antwortungsbereich unseres Handelns grundsätzlich ausgeklammert werden. Ausgeschlossen ist also das Freund-Feind-Denken als Wesensbestimmung des Politischen, die Pflege des Hasses als Mittel der Politik, die Ausscheidung irgendwelcher Menschen oder Men­schengruppen aus der Nächstenschaft, die Bestreitung des Existenz­rechtes für irgendwelche Menschengruppen.“

Einige Leitsätze zur christlichen Beteiligung am politischen Leben (Zum Abschluß einer Vorlesung über „Christliche Ethik des Politischen“)

Von Helmut Gollwitzer

1. Durch seine Sendung in die Welt und durch sein Liebesgebot verpflichtet Jesus Christus die Christen zur Teilnahme am öffent­lichen Leben.

2. Damit ist der Bereich der Politik samt der Verwaltung der Macht grundsätzlich als ein Bereich unter der Herrschaft Jesu Christi, nicht außerhalb von ihr, gekennzeichnet. Es geschieht nicht ein Austritt aus Jesu Christi Reich beim Eintritt m eine politische Welt. Auch über ihr steht der eine und gleiche Herr, und auch in ihr ist sein Gebot über dem anderer Herren zu hören.

3. Es gibt christliche Politik sowenig, wie es christliche Medizin gibt, wohl aber gibt es Christen in der Politik, hier wie in der Medi­zin usw. sind sie nötig.

4. Der Christ geht in die Politik nicht, um dort ein System von christlichen Grundsätzen durchzusetzen, sei es aus dem Neuen Te­stament oder aus einem angeblichen Naturrecht gewonnen, sondern um der von seinem Herrn geliebten und gesuchten Menschen-Welt zu dienen. „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“ (Röm. 13,10). In dieser Liebe ist er frei von starren Normen, frei für die Frage nach dem jeweils Besseren im Dienste der Menschen.

5. Liebe steht weder im Gegensatz zu Gerechtigkeit noch zu Ge­walt. Die Herstellung irdischer Gerechtigkeit ist eine ihrer Verwirk­lichungsweisen. die Gewalt eines ihrer Verwirklichungsmittel.

6. Der Christ ist zur Entscheidung und zum Ermessen in der jeweiligen Situation freigegeben, er ist aber nicht seiner eigenen Willkür und dem Anspruch der Situation preisgegeben. Er hat Orientierung für sein Handeln durch sein Hören auf die Stimme seines Herrn, die zu ihm dringt durch das Zeugnis der Bibel vom Willen dieses Herrn in Evangelium und Gebot.

7. Aus diesem Zeugnis ergeben sich konstante Gesichtspunkte, durch die dem christlichen Handeln in der Politik Kontinuität und Konsensus geschenkt wird:

a) Gott liebt alle Menschen: sein Wille geht auf das Heil aller Menschen. Wir sind also nie nur für unsere Gruppe verantwortlich, sondern stets für das Zusammenleben der uns Nahestehenden mit den uns Fernerstehenden; auch deren Wohl muß von uns mitbe­dacht werden.

b) Infolgedessen ist das gebotene Ziel des Handelns bei Konfliktsfällen Frieden, Versöhnung und Verständigung, in praktischen Fra­gen also Interessenausgleich und Kompromiß.

c) Weil Gott alle Menschen liebt, darf kein Mensch aus dem Ver­antwortungsbereich unseres Handelns grundsätzlich ausgeklammert werden. Ausgeschlossen ist also das Freund-Feind-Denken als We­sensbestimmung des Politischen, die Pflege des Hasses als Mittel der Politik, die Ausscheidung irgendwelcher Menschen oder Men­schengruppen aus der Nächstenschaft, die Bestreitung des Existenz­rechtes für irgendwelche Menschengruppen (z. B. Antisemitismus).

d) Gottes Lebensführung stellt uns je in bestimmte Menschen­gruppen und macht uns für sie verantwortlich. Durch diese Kon­kretion unserer Verantwortung verbietet er uns, die Näheren zu­gunsten irgendwelcher Ferneren zu überspringen. Wir haben nicht unser Volk zugunsten der Menschheit, nicht die heutigen, konkre­ten, unvollkommenen Menschen zugunsten eines Zukunftsideals zu opfern, sondern durch die Praktizierung unserer Verantwortung für diese konkrete Gruppe der uns zunächst Stehenden hindurch für die größeren Gruppen und für die Zukunft Nützliches zu leisten.

e) Gottes gnädiger Wille zielt auf einen Menschen, der ihn auf seine eigene, individuelle Weise lobt, der ihm persönlich dankt und der ihm mit seiner eigenen Vernunft und seinem eigenen Wil­len, also nach eigener Verantwortung dient. Er zielt also auf die freie Mündigkeit des Menschen. Der Christ wird also alle Verhält­nisse der Bevormundung der Menschen durch Menschen, alle Ver­hältnisse der Subordination nur als grundsätzlich vorübergehende, vorläufige, durch die Umstände vorerst noch erforderte Verhält­nisse verstehen und auf ihre baldmöglichste Ablösung durch Ver­hältnisse der Kooperation bedacht sein- Die Ungleichheit der Men­schen kann ihm nur Durchgangsstadium zur politischen Gleichbe­rechtigung hin sein. Er wird deshalb Bestrebungen der Demokrati­sierung, der Kontrolle der Regierenden durch die Regierten, der Gleichstellung vor dem Recht, des möglichsten Abbaus von Privi­legien, der Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheiten grundsätz­lich begrüßen und praktisch unterstützen. Es geht ihm um Beseiti­gung aller Verhältnisse, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (K. Marx).

f) Weil Gottes Gnade uns vor Gott als dem wahren Herrn unseres Lebens verantwortlich macht und weil Gott den mündigen, ihm frei verantwortlichen Menschen will, darum muß der Christ auf die Bindung und Begrenzung der politischen Macht hinarbeiten. Das 1. Gebot verbietet die Ausstattung menschlicher Instanzen mit ab­soluter Befehlsgewalt, es warnt jeden Menschen, eine solche Gewalt anzustreben oder sie einem anderen Menschen zuzubilligen. Der Christ muß deshalb der Tendenz auf Omnipotenz der Staatsgewalt entgegenarbeiten und alle Bestrebungen unterstützen, die darauf aus sind, die Staatsführung an ihr vorgegebenes, für sie nicht ver­fügbares Recht (z. B. Verfassung) zu binden und durch die Regier­ten zu kontrollieren.

g) Gottes Wille zielt nicht auf einen losgelösten einzelnen, son­dern auf die Menschheit als Ganzes. Infolgedessen stellt er jeden einzelnen Menschen so unlöslich in die Gemeinschaft, daß keiner ohne die Gemeinschaft leben kann. Der Mensch ist wesenhaft ein so­ziales Wesen. Es kann also keiner Gott wirklich dienen, ohne auch dem Mitmenschen und der Gemeinschaft zu dienen. Christlicher Glaube kann nicht sein ohne die Bejahung und Betätigung sozialer und po­litischer Verantwortung. Der Christ wird also seine jeweilige Ge­sellschaftsordnung kritisch daraufhin befragen müssen, wie weit sie asoziales und egoistisches Verhalten und die Bildung von Kasten­privilegien begünstigt, ja zu solchem Denken und Verhalten erzieht, und er wird sich einsetzen für die Umänderung zu solchen Ord­nungen, die den einzelnen in die Gemeinschaft hinein weisen, zur Verantwortung für die Gemeinschaft anleiten, ihm zugleich aber den Raum für eigene verantwortliche Urteilsbildung und Entschei­dung gewähren.

h) Der Christ erkennt als Hörer des Evangeliums unsere Zeit als Zeit „zwischen den Zeiten“, d. h. als Zeit, die herkommt von der schon geschehenen Offenbarung der Liebe Gottes zur Welt in der Erscheinung Jesu Christi und die hingeht auf die noch nicht gesche­hene Vollendung des göttlichen Heils im Reiche Gottes. Er wird von seiner „großen Hoffnung“ her auch die Schritte der „kleinen Hoff­nung“ auf bessere Gerechtigkeit und bessere Freiheit in den gesell­schaftlichen Verhältnissen tätig unterstützen; er wird zugleich in Nüchternheit der durch unser Tun wohl einzudämmenden. aber nicht zu beseitigenden Wirklichkeit der Sünde Rechnung tragen durch Bejahung der Notwendigkeit der staatlichen Ordnung und des Rechtszwanges.

i) Die Erkenntnis unserer Situation zwischen dem „Schon“ und dem „Noch-nicht“ schützt den Christen sowohl vor einer Resig­nation, die alle vorwärtsdrängende Bewegung auf bessere Ordnung hin abschneidet und den Status quo ideologisch als gottgewollt recht­fertigt, wie auch vor der Versuchung, politische und soziale Tätig­keit als einen Heilsweg anzusehen, auf dem sich das Reich Gottes als eine konfliktlose, endgültig heile Welt verwirklichen ließe. Die nüchterne Einsicht in das Unverbesserbare lähmt nicht seine Phan­tasie und Energie in der Arbeit am Verbesserbaren, sondern be­flügelt sie und schützt sie vor Verzweiflung bei Enttäuschungen und beim Anstoßen an die Grenze des Möglichen.

k) Gottes Interesse geht laut des Evangeliums auf die wirklichen Menschen, nicht auf irgendwelche objektiven Größen. Damit ist der Politik die Richtung auf die Menschen gewiesen, denen sie zu dienen hat. Der Politiker hat sie nicht als Material für seine Visionen und Pläne zu betrachten. Nicht die Größe und Ausweitung eines Imperiums, nicht die Macht eines Volkes, nicht die Durchsetzung einer abstrakten Rechtsforderung, nicht das Prestige, nicht die Grundsätze einer Doktrin sind die Kriterien verantwortlicher Poli­tik, sondern der Dienst für das Wohl der ihr anvertrauten Men­schen. „Nachdem Gott selbst Mensch geworden ist, ist der Mensch das Maß aller Dinge, kann und darf der Mensch nur für den Men­schen eingesetzt und unter Umständen geopfert, — muß der Mensch, auch der elendeste Mensch — gewiß nicht des Menschen Egoismus, aber des Menschen Menschlichkeit — gegen die Autokratie jeder bloßen Sache resolut in Schutz genommen werden. Der Mensch hat nicht den Sachen, sondern die Sachen haben dem Menschen zu dienen“ (K. Barth, „Christengemeinde und Bürgergemeinde“, 1946, 16. Abschnitt).

8. Solche Gesichtspunkte bilden nicht ein System von Prinzipien, d. h. sie geben nicht die Voraussetzungen an. die gegeben sein müs­sen, damit ein Christ sich am politischen Leben beteiligen kann; sie sind auch nicht eine Liste von Vorschriften, die er anderen in ulti­mativer Form präsentieren und selbst in starker Weise exekutieren müßte. Sie geben vielmehr die Richtung an, in der er sich mit seinem Handeln zu bewegen hat und in die sein Beitrag die Entwicklung des öffentlichen Lebens, soweit es auf ihn ankommt, drängen soll.

9. Keiner von uns tritt, wenn ihn Gottes Gebot trifft, in eine Welt ein, die noch unbestimmt wäre wie eine neue Schöpfung. Die Welt um ihn her und er selbst ist schon geprägt durch eine lange Ver­gangenheit, durch Traditionen aller Art, durch die Wirklichkeit des Bösen und die Wirklichkeit der göttlichen Erhaltung; die Gegenwart und wir selbst sind Ergebnis von Geschichte und Auftakt zu wei­terer Geschichte. Was wir als Gottes Willen durch das Evangelium vernehmen, will also von uns übersetzt werden in diese Geschichte hinein. Wir haben nicht nach idealen Bedingungen für unser Han­deln zu verlangen und auf solche Bedingungen zu warten, sondern heute, unter den faktischen Bedingungen, unsere tätige Antwort auf Gottes Anspruch zu geben. Deshalb kann Nachfolge nicht in Befol­gung eines starren Systems von Grundsätzen geschehen, sondern nur in schöpferischer Phantasie, in der Bereitschaft, jetzt unnach­giebig zu stehen, jetzt auf Angestrebtes zu verzichten, jetzt nach­giebig sich zu fügen, jetzt scheinbar aussichtslos vorzustoßen. Von grundsatzlosem Opportunismus unterscheidet sich diese Haltung da­durch, daß sie in stetem Hören auf Gottes Gebot, in beharrlichem Festhalten der von ihm gewiesenen Richtung, in brüderlicher Aus­sprache mit den anderen Gliedern der christlichen Gemeinde, mit der Bitte um ihren Rat und in Bereitschaft zum Anhören ihrer Kritik und ihrer Warnungen, gelebt wird,

10. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit aller unserer Entschei­dungen und Erkenntnisse gibt die Fähigkeit zur Toleranz. Von hier aus ist es dem Christen möglich, a) dem christlichen Teil seiner Um­welt die eigene Entscheidung mit allem Ernst als Frage und als Aufforderung zu gleicher Entscheidung vorzulegen, aber die Differenz von Entscheidungen zu ertragen, — b) den Christen in anderen Teilen der Welt ihre Entscheidungen nicht vorzuschreiben, wohl aber daran mitzuarbeiten, daß auch bei sehr unterschiedlichen Ent­scheidungen deren gleiche Herkunft und gleiche Richtung und damit die Gemeinschaft des Glaubens und des Dienstes sichtbar werden mögen, — c) mit Nichtchristen zusammenzuarbeiten. Diese Zusam­menarbeit ist ermöglicht durch Zusammentreffen von konkreten Wertungen, Bestrebungen, Interessen; für sie genügt partielle Übereinstimmung; sie wird durch die Differenz der Weltanschau­ung und der Motivierung nicht unmöglich gemacht. Es bedarf also zur Ermöglichung der Zusammenarbeit nicht der Konstruktion einer naturrechtlichen Theorie; es wird sich vielmehr je und je ereignen, welche Partner der Christ unter den Nichtchristen bei seinem Dienst an der Welt findet und wie weit diese Partnerschaft reicht. Dabei wird der Christ nie vergessen dürfen, daß der göttliche Herr, der ihn in den Dienst sendet, auch der Herr der anderen Menschen ist und mit diesen Menschen auch, solange sie ihn noch nicht erkennen, in Verbindung steht, sie zur Erkenntnis der Welt erleuchtet und ihnen neben anderen Gaben Lebenserfahrung. Unterscheidung des Guten und des Bösen, Erkenntnis des zum Leben Notwendigen schenkt. Daraus folgt, daß der Christ in solcher Partnerschaft nie nur der Belehrende ist. sondern immer auch Belehrung und Hilfe von Sei­ten der Nichtchristen zu erwarten hat. Er steht in dieser Zusammen­arbeit mit dem Wahlspruch; „Prüfet alles und behaltet das Beste!“ (1. Thess. 5,21). Vorurteilslosigkeit, Unbefangenheit und Beweglich­keit sind ebenso wie Mut und Festigkeit unerläßliche Zeichen christlicher Freiheit. Eben dies bringt der Christ ein in die Zusam­menarbeit mit den anderen und wirkt damit korrigierend gegen Dogmatismus, gegen Vergewaltigung der Wirklichkeit um der Dok­trin willen, gegen die Heuchelei der Phrase, gegen die Selbstge­rechtigkeit und gegen das Denken in Fronten, befreiend im Frei­machen der guten praktischen Erkenntnisse von ihrem falschen prinzipiellen Kontext Freiheit steht immer kritisch gegen unsere Unfreiheiten. Der Anwalt solcher Freiheit zu sein ist die Sendung des Christen im politischen Leben.

Quelle: Ruf und Antwort. Festgabe für Emil Fuchs zum 90. Geburtstag, Leipzig: Koehler & Amelang, S. 356-361.

Hier der Text als pdf.

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