Die Weihnacht freut sich auf dich
Von Albrecht Goes
Ich denke an Menschen, die sich nicht auf Weihnachten freuen, die es heimlich vor sich hin oder auch offen heraus sagen: »Wenn doch nur die Festtage schon vorüber wären!« Was die Übermüdeten angeht, die Opfer unsrer anstrengenden Geschenkspielerei, die jetzt auch ohne Freude sind, so wagen wir zu hoffen, daß sie nach einer ersten guten Schlafnacht, von der Freude ihrer Freunde angesteckt, sich selbst wieder zurechtfinden; aber dann sind noch viele andere Menschen da, die mit einer besonderen Not nicht fertig werden und die fürchten, daß sie sich in den Tagen, da die anderen beim Fest sind, besonders einsam fühlen werden, ausgeschlossen, nicht dazugehörig.
Von den Gründen, warum sich einer nun eben nicht freut, reden wir nicht; es gibt Gründe genug, aber man tut einander nichts Gutes, wenn man alle Wurzeln freilegt. Schwer genug, daß es so ist: viele haben nun etwas Schönes vor sich, manche können es den Kindern nachtun und mitten in diesem Spätdezembertag stehenbleiben mit einem Seufzer der Freude — für nichts und wieder nichts, wie es den Anschein hat — und zwei kleine Fäuste voll Glück nach Hause bringen, flüchtig wie ein Schneeball, vergänglich wie ein Zimtstern, und doch wirklich genug. Das ist euch Betrübten versagt; aber ohne Hilfe gelassen seid ihr nicht.
Das Allgemeinsame — bedarf es eines Wortes? Muß man das aussprechen: Einsamkeit — das ist noch etwas anderes als eine gefühlvoll-melancholische Vokabel; es ist das Wort, das über uns die Wahrheit sagt. Nur für Augenblicke wird sie durchbrochen, die Einsamkeit, seit Adams Erdentag, und alle glückselige Nähe, die uns in der Welt zuteil wird, räumt die trennenden Gebirge nicht weg, die sich aufgetan haben zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen, und die Rätselfrage, die einer an den anderen richtet: »Wer bist du eigentlich?« — sie bleibt.
Bei dem Dichter Friedrich Hebbel, einem tief einsamen Mann, findet sich ein Vierzeiler, der lautet: »Geht stumm an dir vorbei die Welt / so fühle stolz und andachtsvoll: / ich bin ein Kelch, für Gott bestellt, / der ihn allein erquicken soll.« Wer das Wort nur ungenau liest, könnte es auslegen als ein Zeugnis des Hochmuts, diktiert von der Eitelkeit des Unverstandenen, der sich über die Welt erhebt. Auch sagt einer wohl mit guten Gründen, es sei am Menschen nicht sehr vieles, was erquicken kann, zu entdecken, und Gott-Erquickendes nun schon gar nicht. Aber das Wort geht einer tieferen Wahrheit nach. Das ist der Mensch: ein einzigartiges Wagnis der Schöpfung, sich selbst ein Geheimnis, und erst recht für die anderen nur im Umriß zu erkennen; das Geschöpf, das »auf seinen Schöpfer zu« geschaffen ist, befähigt und ermächtigt dazu, Antwort zu geben. Der Ewigen Liebe darfst du antworten, du, Mensch, weil sie zuvor mit dir gesprochen hat.
Und so wagen wir in alle Lebenstraurigkeit hinein diesen Satz zu sprechen: wenn schon du dich nicht auf Weihnachten freust, so freut sich doch die Weihnacht auf dich. Du kannst dich nicht anders machen, und du sollst nichts von dir verlangen, was nicht wahr ist in dir selbst. Aber du sollst dich auch nicht störrisch zeigen, wenn nun doch der Gruß des Engels dich erreichen will.
Der Gruß des Engels? Aber es gibt keine Engel — so sagst du, bitter und leise, und für dich schon gar nicht. Nun, die Bibel, die ja zuweilen, wenn auch nur ganz selten, ein Wort von den Engeln, den »Himmlischen Heerscharen« zu sagen sich erkühnt, die hat dabei gewiß keine Traumwelt vor Augen, sondern die Menschenwelt in Sorge und Liebe; sie denkt an das, was in einem Menschen, was für den Menschen geschieht, wenn das Ewige uns nahe kommt.
In dem Lobgesang der Maria, dem großen Magnifikat — dem lang vorausgegangen war das tiefe Erschrecken durch den Gruß des Engels —, gibt es eine Zeile, die spricht von dem, was gemeint ist mit dem Wort »Die Weihnacht freut sich auf dich« — es ist die Zeile: »Denn Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.« Das ist nun ganz gewiß zuerst Marias Wort. Aber über Marias Schulter hinweg—darf man so sagen? — ist es das Weihnachtswort für uns. Es heißt nicht, daß der »angesehene« Mensch in einen anderen Stand versetzt wird, oder, daß wir’s übersetzen: es heißt nicht, daß deine Schwierigkeit, deine Traurigkeit, deine Verstörung weggezaubert wird. Es heißt nur: Gottes Weihnachtswelt ist voller Boten — und einige sind unterwegs zu dir.
Ihre Namen? Einer kann sehr nüchtern heißen »Die nächste Aufgabe« — ein grauer Mantel der Zuflucht. Idi erinnere mich wohl, wie ich als junger Mensch in einem bestimmten Jahr mich dem ganzen Heilig-Abend-Sog zu entziehen wußte, um ruhig und streng mit den Aufgaben beschäftigt zu sein, die eigentlich in den Januar gehörten. Und ich erfuhr: fahr’ ich nun nicht auf dem großen Strom, der dem Fest entgegenzieht, sondern auf einem Seitenarm —: auch diese Wasser sind »unter Gott«.
Aber noch unter ganz anderer Gestalt, in anderem Zeichen kann dir der Bote begegnen: es kann ein Nachbar sein, der unerwartet den Gruß bietet, ein Brief, der dich wirklich meint, ein Funke Wahrheit, der dich findet; eine Rose hinter der Glasscheibe, unerreichbar — und doch wie für dich erblüht, und Größeres noch: eine Hand, die sich dir entgegenstreckt — und am Ende gar die Hand eines Widersachers. Und noch Größeres: eine Hand, die dich braucht, die den Dienst braucht, den — zu dieser Stunde — keiner außer dir zu leisten vermag.
Und wenn alle diese Boten auf sich warten ließen, so bliebe doch dieses eine gewiß: der Herr der Weihnacht, Christus selbst, ist einsam. Die Evangelienberichte und später dann die Maler haben ihn immer von neuem uns vor Augen gestellt zusammen mit all den Menschen, die auf seinem Weg waren. Aber so viel Wahrheit auch in diesen Bildern sein mag, die andere Wahrheit ist nicht weniger gültig: daß er unter den Menschen, unter allen seinen Menschen, ganz allein war. Und gerade darum — über alle Entfernungen und Zeiten hinweg — mit allen, die ihre Erdeneinsamkeit erfahren, verbunden in einem klaren, fast wortlosen »Ich weiß«.
Auf Weihnachten freust du dich nicht. Aber wenn nun dieses Weihnachten durch deine Gitter schlüpft, dann öffne die Augen. Dann sprich, wie Maria gesprochen hat — tief erschrocken, und tiefer noch für das Wunder bereit: »Welch ein Gruß ist das?«
Quelle: Albrecht Goes, Die Weihnacht der Bedrängten, Hamburg: Furche Verlag 1962, S. 23-27.