Immer noch lesenswert ist Ernst Troeltschs RGG-Artikel über das Verhältnis von Protestantismus und Kultur von 1913:
Protestantismus: II. P. im Verhältnis zur Kultur
Von Ernst Troeltsch
1. Allgemeine Kulturbedeutung des P. für die protestantischen Völker: a) Nationale Kulturen; — b) Kritik und Individualismus; — c) Lebensbejahung und Heiligung der Welt; — 2. Schaffung spezifisch protestantischer Kultur: a) Altprotestantismus; — b) Neuprotestantismus.
1. Die Kulturbedeutung des P. ist eine unzweifelhafte, aber im einzelnen überaus schwer zu umschreibende Tatsache. Jedenfalls ist dabei von Hause aus grundlegend zu unterscheiden zwischen dem rechtgläubigen und staatskirchlichen Altprotestantismus und dem mannigfach mit modernem Denken durchsetzten und freikirchlichen oder paritätischen Neuprotestantismus. Der Wegfall des landeskirchlichen Zwangskirchentums und der darauf aufgebauten religiös bestimmten und staatlich aufrechterhaltenen Kultureinheit macht einen grundlegenden Unterschied zwischen beiden Perioden des P. gerade in Rücksicht auf sein Verhältnis zur Kultur. Immerhin aber beziehen sich diese Verschiedenheiten mehr auf die konkreten einzelnen Kulturwerte und Institutionen. Daneben gibt es aber eine allgemeine, von diesen besonderen Einwirkungen verschiedene Kulturbedeutung, die sich mehr auf das Ganze der menschlichen Seelenhaltung und auf die Voraussetzungen der Grundstellung zu Gott, Welt und Mensch beziehen. Hier ist nicht zu verkennen, daß der P. als Losreißung des halben Europa von der Einheit der Kirche und der Oberherrschaft des Papstes die Grundlegung einer neuen, gegen den Katholizismus verselbständigten Welt bedeutet, und daß er dieser Welt zugleich von den neuen religiösen Voraussetzungen aus einen neuen Geist eingehaucht hat. Dieser ist freilich erst sehr allmählich und langsam zur Entfaltung seiner Konsequenzen gekommen und ist in der Entfaltung eben dieser Konsequenzen unlösbar mit modernen Lebenselementen anderer Herkunft verwachsen, so daß die Herausstellung des wesentlich protestantischen Elementes in diesen seit dem 17. Jhd. sich bildenden Mischungen überaus schwierig ist.
Was nun zunächst diese allgemeine Kulturbedeutung für die protestantischen Völker überhaupt betrifft, so sind es hier drei große Ausstrahlungen von seinem religiösen Grundgedanken, denen eine hohe Kulturbedeutung für die ganze europäische Geschichte zukommt: die nun auch religiös begründete und geweihte Verselbständigung der nationalen Kulturen, der mit einer prinzipiellen Kritik des Herkommens verbundene religiöse Individualismus der persönlichen Glaubensüberzeugung und die religiöse Heiligung der diesseitigen Weltarbeit.
1. a) Die Verselbständigung der nationalen Staaten und Kulturen war freilich ohnedies als Ergebnis der mittelalterlichen Entwicklung längst im Gange und würde sich auch ohne die Reformation immer weiter vollzogen haben. Aber sie empfing durch den P. eine radikale Befreiung von der immer [1913] noch drohenden Universalität der päpstlichen Zentralherrschaft, indem jedes Band mit dem päpstlichen Stuhl und damit jede Wirkungsmöglichkeit des kath. Weltzusammenhangs auf die protestantischen Länder aufgelöst wurde. Ueberdies empfing jedes protestantische Land seine eigene Landeskirche mit eigenen Ueberlieferungen und Bekenntnissen, so daß es auch eine gewisse religiöse Selbständigkeit und Besonderheit zu entwickeln genötigt war. Der weltliche Sonderstaat, in dem freilich das dynastische Motiv das nationale noch weit überwog, war als solcher religiös gerechtfertigt. Freilich ergab sich das nicht ganz ohne weiteres und unmittelbar aus der protestantischen Idee. Tenn diese führte den kath. Kirchenbegriff, wenn auch in einer sehr vergeistigten und verinnerlichten Gestalt, fort. Auch sie bekannte die eine, allgemeine, apostolische und kath. Kirche, die Weltgemeinschaft aller, die durch das erlösende Wunder des reinen Wortes, der rechtgläubigen Predigt und der recht gelehrten und verwalteten Sakramente als eine fühlbare Wundermacht in die Welt hineinragt und nur in ihren Wirkungen der persönlichen inneren Einzelbekehrung unkontrollierbar ist. Auch sie lehrt alle Teilkirchen als Teile dieser einen Kirche betrachten und erkennt jede Kirche in dem Maße als Glied der kath. Kirche an, als sie auch ihrerseits diesen erzeugenden Kem der Wahrheit und Erlösung in sich schloß. Aber erstlich fehlte ihr die Zentralinstanz, welche für die verschiedenen Teilkirchen dieses Wunderzentrum der Heilsanstalt gleichförmig aufrecht erhalten hätte, und überließ man, abgesehen von einzelnen gemeinsamen Aktionen, namentlich der Reformierten, die einzelnen Kirchen sich selber. Das ergab tatsächlich eine volle kirchliche Selbständigkeit der Einzelstaaten mit den unausbleiblichen Rückwirkungen einer geistigen und politischen Verselbständigung. Zweitens betonte die protestantischallgenreine Kirche nur den Wahrheitskern der rechtgläubigen Predigt- und Sakramentsverwaltung und stellte die rechtliche, kultische und organisatorische Einzelgestaltung der Kirchen als etwas Aeußeres den jeweiligen Umständen anheim. Dies Aeußere aber war in Wahrheit nicht so gleichgültig, wie der reformatorische Spiritualismus annahm. Dadurch nämlich wurden die Kirchen der Einzelstaaten völlig selbständig und blieb von der allgemeinen Kirche nur ein praktisch wenig wirksamer theoretischer Begriff übrig, an dem sie sich alle beteiligt fühlen konnten, ohne durch ihn eingeengt zu werden. Dadurch erhielten die einzelnen Kirchen nationalen oder dynastischen oder Stammescharakter und dienten wieder umgekehrt der Ausbildung selbständiger politischer und nationaler Einheiten, die sich im Besitz ihrer Landeskirchen als selbständige Verwalter und Nutznießer der göttlichen Erlösungswahrheiten fühlen konnten. Das aber beförderte ganz außerordentlich den schon im Gange befindlichen Prozeß der nationalen Besonderung der abendländischen Kultur und machte jeden Gedanken ihrer Wiedervereinigung in eine internationale Universalkirche unmöglich. Eben damit aber diente es mittelbar oder unmittelbar auch der Ausbildung nationaler Sonderkulturen. Das ist auch heute noch, obwohl die Kirchen aus dem Gesamtleben merklich zurückgetreten sind, der Fall und vorerst noch immer der beste Schutz gegen eine erneute Romanisierung. [1914]
1. b) Weniger klar liegt die zweite Bedeutung zutage. Die kritische Auseinandersetzung mit der römisch-mittelalterlichen Tradition, die Heranziehung der humanistisch-philologischen Kritik, die Reformstimmung überhaupt kennzeichnet nur die Anfänge der Selbstgestaltung und Selbstbefestigung der protestantischen Idee und ist dann, wie es von Anfang an nur Mittel zum Zweck war, in den gefestigten Reformationskirchen beinahe ganz zurückgetreten. Auch die Innerlichkeit und Persönlichkeit der Gewissensüberzeugung, damit der prinzipielle religiöse Individualismus, war immer nur relativ betont und immer als vermittelt gedacht durch die objektiv heilstiftenden Kräfte des Wortes Gottes, der Predigt und der Kirche. Nachdem die feste Formel für die Verbindung des objektiven Mittels und des subjektiv-persönlichen Heilsbesitzes gefunden war, blieb alle persönlich-individuelle Ueberzeugung doch zugleich eine eng dogmatisch und kirchlich gebundene. Auch das allgemeine Reformgefühl trat nach den ersten Enttäuschungen zurück und beschränkte sich auf Reform der reinen Lehre, aus der alles Weitere durch Gottes Wunderkraft von selbst folgt, wenn Gott es will. Nur der Calvinismus führte die Reformstimmung bis zur Einrichtung einer beständigen Sittenzucht weiter; aber auch das wurde dann ein starres, seinerseits irreformables Gesetz. Hier sind alle diese Richtungen nur von den Dissenters der Reformation fortgeführt worden, von der humanistisch-sozinianischen Kritik, von der mystischen Innerlichkeit und von dem täuferischen Unternehmen der Aufrichtung heiliger Christengemeinden. Allein diese Dissenters hatten doch einen unvergänglichen Anhaltspunkt an den ursprünglichen Ideen der Reformation und wirkten auf die einer Belebung und Verinnerlichung immer bedürftigeren Kirchen zurück, indem sie sich zugleich auf jene Anfänge berufen konnten und in ihren verbleibenden Resten ihre Unterstützung fanden. So vollzog sich für das moderne Bewußtsein des kirchlichen und noch mehr des kirchlich nicht interessierten oder freikirchlichen P. eine Wiedervereinigung mit der protestantischen Grundposition der Kritik, der Reform und überzeugungsmäßigen Gefühls- und Gewissensinnerlichkeit. Dabei wurde dann freilich die von der Orthodoxie geschaffene Verbindung der individuellen Subjektivität mit den autoritativen Heilsmitteln ein immer dunkleres Problem und die Reformation aus der Wiederaufrichtung der unabänderlichen christlichen Grundwahrheit zu einer beständigen Neureformation ihrer selbst. In den dem Katholizismus und den Staatskirchen entgegengesetzten Freikirchen war und ist diese kritisch-individualistische Stimmung verhältnismäßig vereinbar mit einer festen Orthodoxie; im übrigen ist daraus heute ein ziemlich uferloser religiöser Individualismus geworden, der sich nur an das Gewissen und die gewissensmäßige Aneignung der Tradition gebunden fühlt. Diese Entwicklung aber hat die kritische Stimmung gegenüber Traditionen und Institutionen, den Individualismus innerlicher Ueberzeugung und das Gefühl einer nur erst angebahnten, aber nicht entfernt vollendeten Reformation des Christentums, damit den Gedanken des religiösen Fortschrittes und [1915] des Fortschritts überhaupt in die allgemeine Kultur hineingetragen. Dabei ist nicht zu verkennen, daß diese Entwicklung stark von der ganz andersartigen und dagegen selbständigen Entwicklung des wissenschaftlichen, ethischen und sozialen Geistes mitgefärbt ist, wie denn in der modernen Kultur diese Prinzipien des kritischen Individualismus bei gewissen Gruppen ohne jeden Zusammenhang mit protestantischer Religiosität sind. Immerhin sind die protestantischen Völker bis heute leichter imstande, diese modernen Grundsätze aufzunehmen ohne gleichzeitige Auflösung ihres religiösen Besitzes, als das bei den kath. Völkern der Fall ist, die meist nur zwischen Atheismus und Katholizismus die Wahl haben. Das aber bedeutet für die protestantischen Völker die Möglichkeit einer Erhaltung der religiösen Elemente der Kultur, eine mit dem religiösen Gewissen vereinbare Handhabung individualistisch-überzeugungsmäßiger Kritik und ein Bündnis mit dem „modernen Individualismus“ überhaupt.
1. c) Die dritte Bedeutung wird viel gerühmt, stellt aber gleichfalls einen sehr verwickelten Zusammenhang dar. Es ist der Sinn der protestantischen Ethik gegenüber der katholischen, daß sie die natürlichen Lebensformen des relativen Naturgesetzes, d. h. das Leben in den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Berufen, nicht als eine nur relativ christianisierte Unterstufe dem Oberbau der Kirche, der Gnadenanstalt und der streng christlichen, mönchisch gefärbten Ethik unterordnet, sondern beides zusammenzieht. Die protestantische Ethik ist die Beseelung des Systems der natürlichen Berufe mit der christlichen Gesinnung seligen Gottvertrauens und dienender Bruderliebe, die die christliche Liebesleistung am Nächsten in erster Linie überall in Gestalt der das Ganze aufrecht erhaltenden und fördernden Berufstreue ausübt. Dabei ist nun aber freilich eine Gestaltung des naturrechtlichen Berufssystems vorausgesetzt, die völlig dauerhaft ist und unchristliche, lieblose Berufe überhaupt nicht enthält. Ueberdies sind diese Berufe nur Formen, in denen die christliche Gesinnung bewährt wird, aber nicht Zwecke, die in sich selbst einen göttlichen oder religiösen Wert haben. Sie sind und bleiben Welt, nur nicht eine mit einer höheren Ordnung zu überbauende, sondern eine mit christlicher Gesinnung zu erfüllende. Ueberdies trennt Luther die persönliche Herzensmoral der Bergpredigt von der durch Amt und Beruf auferlegten, durch die Sünde notwendig gewordenen weltlichen Lebensform. Insofern bleibt ein starker Rest christlicher Ueberweltlichkeit. Der Calvinismus insbesondere hat ähnlich wie die Sekten und der Pietismus eine überaus große Strenge entfaltet sowohl in der methodischen Lückenlosigkeit der Arbeit und des Berufsgehorsams als in der Fernhaltung von unheiligen und lieblosen Berufen. Man hat diese Gruppe daher nicht mit Unrecht den „asketischen P.“ genannt im Unterschied von der größeren Läßlichkeit des Luthertums. Unter diesen Umständen ist die Heiligung der Welt, die religiöse positive Schätzung der Kultur, doch nur eine sehr bedingte. Aber, wie eingeschränkt sie auch sei, es steckt darin doch jedenfalls eine religiöse Würdigung der Arbeit, die zur dauernden Pflicht für jeden wird und jeden zur Leistung für das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft ver-[1916]pflichtet. Damit aber rückt überhaupt die ganze Kulturarbeit in religiöse Beleuchtung, gewinnt religiöse Motive und religiöse Kraft. Ferner wird damit wenigstens ein begrenzter Kreis von Kulturwerten in Staat, Schule, Gesellschaft, Familie zu einem von Gott gewollten und keiner Kirche unterzuordnenden eigenen Werte. Ueberdies enthält insbesondere das Luthertum eine Fülle von Erinnerungen an Luthers kräftige, lebensvolle und die göttliche Herrlichkeit der Welt gelegentlich anerkennende Persönlichkeit, von der immer mehr positive Weltbejahung ausging als von seiner und des Luthertums theologischer, ganz auf dem Sündenpessimismus erbauter Theorie. Alles das ermöglichte dem P. im Laufe der Zeit eine Anpassung an die modernen politischen, sozialen, wirtschaftlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Bewegungen, die er als Ausfluß der göttlichen Weltordnung schätzen lernte und innerlich in seine religiöse Weltbetrachtung aufnahm. Freilich hat er damit seine ursprünglichen Positionen stark verändert und ein gutes Stück moderner praktischer Weltarbeit sowie moderner Immanenzstimmung in sich ausgenommen, das erstere auf dem Gebiete des Calvinismus, das letztere auf dem des deutschen Luthertums, wo eine christliche Humanität und eine gewissensmäßig individualisierte Sittlichkeit die Losung eines großen Teils der klassischen deutschen Philosophie wurde. In beidem pflegt er heute seine Moralität zu erkennen und sich um deswillen als Kulturprinzip zu fühlen, wie er denn in der Tat in der Aufklärung einen neuen Typus innerweltlicher, positiv tätiger und lebenbejahender christlicher Kultur geschaffen hat. Mit alledem hat er den protestantischen Völkern ein gutes Gewissen bei ihrer Kulturarbeit gegeben und damit diese selbst mächtig gefördert, auch wo sie sich von den eigenen Idealen des P. ganz oder teilweise abwandte. Darüber ist er freilich selbst sowohl in seiner orthodoxen als in seiner modernen Gestalt oft zur Zurückstellung seines eigentlich christlichen Kulturgegensatzes gekommen und hat damit weder an innerer Kraft für sich selbst noch damit zugleich an Kultur schaffender Kraft gewonnen. Die letztere war in Wahrheit großenteils eine unbewußte und ungewollte und beruhte geradezu auf der Anspannung der Kräfte für eine übersinnliche Welt, die bei dem Spielraum alles Uebersinnlichen im irdischen Berufsleben schließlich in dieses sich entladen mußte. Danach sind die protestantischen Völker rationeller, grundsätzlicher, lückenloser und innerlicher beteiligt an der Kulturarbeit als die katholischen, und unter den protestantischen wiederum die Calvinisten rationeller und intensiver als das stark quietistische Züge tragende Luthertum. Die Kulturleistung des letzteren bestand vor allem in der Entladung seiner Gefühlstiefen und seiner religiösen Spekulation in die Philosophie und in eine von Metaphysik geschwängerte Kunst, sobald die einer solchen Entladung entgegenstehenden Hemmnisse des alten Luthertums fortgefallen waren und die modernen geistigen Anregungen es aus sich selbst herausgelockt hatten. Durch all das ist nun aber die Kulturbedeutung des P. sehr kompliziert und undurchsichtig geworden. Vor allem die Stellung, die er sich selbst zu ihr gibt, hat den Gegensatz der überweltlichen Kultur und der im Zusammenhang mit der modernen Immanenz betonten Innerweltlichkeit nicht zu ordnen ver-[1917]mocht. Aber welche Schwierigkeiten hier auch immer vorliegen mögen, es ist kein Zweifel, daß der P. als die lebenbejahende und das Uebersinnliche im Spielraum weltlicher Arbeit auswirkende Gestalt des Christentums die moderne Kultur an seinem Teil stark mitgefördert hat und, sofern sie eigene Quellen hatte, mit ihr sich vielfach vereinigt und verschmolzen hat. Soll die moderne Kultur überhaupt ein christlich-religiöses Zentrum und Fundament haben, so kann es infolgedessen nur der P. in einer dementsprechend entfalteten Form sein.
2. Neben diesen allgemeinen und durchgehenden Charakterzügen einer prinzipiellen Kulturbedeutung des P. entsteht nun freilich die Frage nach der Gestaltung einer spezifisch protestantischen Kultur. Das bisher Geschilderte betrifft die Kultur der protestantischen Völker, die vom P. mitbestimmt ist, auch wo ein direkter und gewollter Zusammenhang mit seinen religiösen Ideen nicht stattfindet. Etwas anderes ist die Gestaltung einer vom protestantisch-religiösen Geist bewußt und konkret gestalteten Kultur. Dabei kommt dann nicht sowohl eine allgemeine Geistesrichtung im Verhältnis zur modernen Kultur, sondern das Verhältnis zu den einzelnen Kulturwerten und deren Vereinheitlichung zu einer spezifisch-protestantischen Kultur in Betracht. Hier tritt nun der oben (Sp. 1912) erwähnte Unterschied hervor zwischen dem uniformen staatskirchlichen Altprotestantismus und dem vielgestaltigen, staatsfreien oder paritätischen modernen P. Im ersteren Fall war mit Hilfe der protestantischen und sich als Träger des christlichen Sittengesetzes fühlenden Obrigkeiten eine bestimmte protestantische Prägung die Folge. Im zweiten Falle ist das weltliche Leben von der religiösen Leitung ganz oder teilweise befreit und bilden sich nun innerhalb der allgemeinen Kultur die verschiedenen Gruppen protestantisch-kirchlicher und protestantisch-ideeller Kulturgesinnung und Kulturleistung, wobei ihm vielfache Gegensätze und andersartige Strömungen des Kulturlebens gegenüberstehen.
2. a) Die spezifisch protestantische Kulturprägung in den altprotestantischen Religionsstaaten war neu, aber weniger eine Schaffung neuer Kulturwerte oder neue Gestaltung älterer Kulturwerte als eine eigentümliche Zusammenfassung und Prägung des bereits Vorhandenen und in der modernen Entwicklung Begriffenen.
Verhältnismäßig am meisten Eigentümlichkeit gewann die Familie. Zwar wurde hierbei im ganzen nur das kath. Familienideal fortgeführt, aber indem Priesterzölibat und Mönchtum fortfielen, wurde die Ehe und Familie außerordentlich in ihrer Bedeutung und in ihrem Recht gesteigert. Und indem die Probe der religiösen Gesinnung in die Berufstätigkeit verlegt wurde, gewann der erste und nächste Beruf des gemeinsamen Haushaltes mit seiner Produktion der Existenzmittel und seiner Aufgabe der Kindererziehung die Bedeutung des zentralen christlichen Berufes. Das gilt für Luthertum und Calvinismus in gleicher Weise. Die zum Zweck der Regulierung des geschlechtlichen Lebens und zur geordneten Kinderzeugung geschaffene Familie wird in der Auffassung all ihrer Funktionen als des ersten und nächsten Gottesdienstes die Keimzelle aller protestantischen Kultur und die Schule [1918] alles soziologischen Verhaltens in Fürsorge und Dienstverpflichtung wie in Gehorsam und Pietät. Ein religiös verinnerlichter Patriarchalismus und die Betonung der Familienleistung in ihrem Nutzen für Gesellschaft und Kirche macht die Familie zum Inbegriff und Symbol protestantischer Kultur überhaupt.
Der Staat wurde im wesentlichen in mittelalterlicher Beleuchtung gesehen als die infolge der Sünde eingetretene, aber durch Gottes Vorsehung zu einem Mittel der Disziplinierung und Heilung gewendete Organisation von Recht, Macht und Gewalt. Zugleich wurde die Realität des Staates hingenommen in seiner Bewegung auf einen von kirchlicher Vormacht befreiten, umgekehrt die kirchlichen Machtmittel benützenden Absolutismus, der in der Entwicklung zum bureaukratischen Beamtenstaat begriffen war. Diese Entwicklung wurde vom P. noch befördert, indem er dem Staate die Fürsorge für das äußere Kirchenwesen übertrug und ihn überdies zur Aufrechterhaltung der rechten äußeren christlichen Sittenordnung und der reinen Lehre verpflichtete, anderseits aber ihn von jeder Einmischung der kirchlichen Gewalt in seine politischen und sozialen Betätigungen befreite. Die moderne Staatsentwicklung wurde dadurch auf protestantischem Boden außerordentlich gefördert und doch zugleich der Staat oder die Obrigkeit als mitverantwortlich für die äußere Christlichkeit der Gesellschaft und als verpflichtet für den Schutz und die Reinhaltung der Kirche mit einer unmittelbaren religiösen Aufgabe beauftragt. Ja diese Aufgabe sicherte allein die Christlichkeit dieser ganzen Kultur. Der nicht priesterlich geleitete, aber aus eigenem christlichen Pflichtgefühl die christliche Sittenordnung und die Herrschaft der reinen Kirche aufrechterhaltende Staat ist der unentbehrliche Rahmen und Halt der ganzen altprotestantischen Kultur. Dabei neigt das Luthertum zum Absolutismus und zur Passivität der kirchlichen Institutionen in bezug auf das öffentliche Leben. Umgekehrt neigt der Calvinismus zur republikanischen Verfassung und zu einer starken belehrenden und fördernden Mitwirkung der Gemeinde bei dem Regiment des christlichen Staates, soweit es moralische und kirchliche Dinge angeht.
Das Wirtschaftsleben wird gleichfalls zunächst in seinem mittelalterlich-christlichen Sinne betrachtet und so dem Ganzen eingegliedert. Privateigentum versteht sich im Sündenstande von selbst und ist göttliche Ordnung. Es soll in berufsmäßiger Arbeit auf geordnetem Wege hervorgebracht und neben der Behauptung der Familie im Interesse des Ganzen verwendet werden. Dabei scheut das Luthertum die kapitalistische Entwicklung und sucht das Wirtschaftsleben auf der Stufe möglichst agrarisch-handwerkerlicher Produktion festzuhalten, weil die kapitalistische Spekulation gegen die Liebe und gegen den Vorsehungsglauben ist. Auf Genfer Boden hat Calvin das städtische Leben akzeptiert und von hier aus auch dem Geld- und Zinswesen seine das Gesamtwohl fördernde Bedeutung eingeräumt, was dann für die ganze reformierte Ethik maßgebend geworden ist. Da nun aber auf diesem Boden prinzipieller Ueberzeugungen zugleich die Arbeits- und Berufspflicht aller aner-[1919]kannt, die individuelle geistige Bewegung und Anschauung von dem allgemeinen Geiste des P. gefördert wurde, so ergab sich von hier aus doch zugleich eine Steigerung auch der wirtschaftlichen Arbeit. Insbesondere hat der Calvinismus, indem er seinen Geist methodischer und lückenloser Arbeitsamkeit auch auf das von ihm zugelassene Gebiet kapitalistischer Produktion übertrug, einen äußerst wichtigen Beitrag zur Erzeugung des die Arbeit um der Arbeit willen schätzenden kapitalistischen Geistes geschaffen. Aehnlich ging es beim Pietismus und den Sekten. Immerhin aber blieb die Christlichkeit dieses Wirtschaftslebens nur gewahrt, solange es sich als Beruf im Auftrag Gottes und als Pflicht für das Wohl des Ganzen und der Brüder, d. h. als Mittel zum Gedeihen der Gemeinde und zur Wohltätigkeit empfand und die Konsumtion aus das Maß eines bescheidenen Bedürfnisses einschränkte.
An eine christliche Gesellschaftsreform prinzipieller Art dachte der alte P. nicht. Nach dem Scheitern der großen Agrarrevolution und der Wiederbefestigung der alten Verhältnisse bot auch die wirkliche Gesellschaftslage keinen Anlaß dazu. Er nahm mit dem Staate die gegebene gesellschaftliche Schichtung hin als einen Ausdruck der natürlichen Notwendigkeit oder des Naturgesetzes. Er hat auch an der aus dem Mittelalter überkommenen Gesellschaftsschichtung nichts Wesentliches verändert außer der Beseitigung des Priestertums, der Klöster und des Bettels. Neue ständische Elemente bildeten daher nur der Prediger- und der Pfarrstand sowie der mit dem gedanklichen Charakter des P. eng zusammenhängende und betonte Stand der Lehrer und Schulmeister mit stark humanistischer Färbung. Die Uebel der bestehenden Gesellschaft erkannte man nur in der Störung der Ordnung und in der Armut, die man durch eine Neugestaltung der Liebestätigkeit zu bekämpfen suchte. Doch hat hier das Luthertum nicht allzuviel zustande gebracht, während die calvinistische Kirchenzucht und Diakonie sowie das ganze Ideal einer heiligen Gemeinde zu einer Art von christlichem Liebessozialismus führte, d. h. einer weitgehenden Anspannung kirchlicher, staatlicher und privater Fürsorge für die Armen und Leidenden.
Zur Wissenschaft hat der Altprotestantismus eine innere Beziehung nicht besessen. Sie war ihm Mittel des Staates und der Kirche und an die antike Autoritäten gebunden genau wie die ältere und gleichzeitige kath. Scholastik. Hier hat erst der Einbruch des modernen Geistes eine Aenderung bewirkt. Auch von irgendwelcher inneren Beziehung auf künstlerische Kultur kann nicht die Rede sein. Dazu war der moralische Ernst und die religiöse Uebersinnlichkeit zu groß. Nur in die unsinnlichste der Künste, in die Musik als Kirchenmusik, strömte das protestantische Gefühlsleben aus und eng verbunden ist damit die geistliche Lyrik. Auch in neuen Kultusbauten äußerte sich gelegentlich ein neuer protestantischer Geist. Im übrigen ist da, wo der künstlerische Schaffenstrieb von selbst sich regte, natürlich die Veränderung des Stoffgebietes und der Phantasie durch den P. zu bemerken. [1920] Rembrandt kann man nur sehr bedingt als Ausdruck protestantischen Gefühls bezeichnen. Jedenfalls liegt die ganze der Renaissance und dem klassischen Neuhumanismus angehörige ethische, religiöse und humane Wertung der Kunst dem Altprotestantismus völlig fern.
2. b) Der moderne P. ist in durchgreifendem Unterschied hiervon seit der Auflösung der staatlich-kirchlichen Lebenseinheit aus der beherrschenden Stellung zurückgetreten. Außerdem hat die Verselbständigung des Staates, das Aufkommen völlig neuer sozialer Schichtungen und Lebensprobleme, der Einfluß einer neuen wissenschaftlichen und künstlerischen Bewegung auch sachlich alle seine Problemstellungen gegenüber der Kultur verrückt. In dieser Entkirchlichung der allgemeinen Kultur blieb dann ein protestantisches Kulturideal zu formulieren und nach Möglichkeit zu verwirklichen, Sache der besonderen kirchlichen Gruppen. Hier nahm nach dem Zerfall einer eigentümlichen protestantischen Kultur der Aufklärung das Luthertum eine wesentlich konservativ-reaktionäre Haltung ein. Der angelsächsische Calvinismus ging dagegen mehr mit der modernen liberalen, demokratischen und heute der sozialreformerischen Bewegung, wobei er dogmatisch sehr konservativ bleibt. Neben den spezifisch kirchlichen Gruppen steht die freie, kirchlich nicht gebundene protestantische Denkweise derer, die irgend eine neue Verbindung der modernen Kultur und des P. erhoffen und an ihrem Teil zu erarbeiten streben. In dieser dritten Gruppe herrschen natürlich die verschiedensten Meinungen und Hoffnungen.
Ad. Harnack: Die Bedeutung der Reformation innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte (Reden und Aufsätze II, 1904); — Ernst Troeltsch: Bedeutung des P. für die Entstehung der modernen Welt, (1906) 19112; — Ders.: Protestantisches Christentum und Kirche (Kultur der Gegenwart I, Teil IV, 1, 19092); — Ders.: Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912; — Ders.: Das Wesen des modernen Geistes (PrJ 1907, S. 1-40); — Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (Archiv für Sozialpolitik und Sozialwissenschaften XX und XXI); — Hermann Levy: Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, 1912; — Paul Wernle: Renaissance und Reformation, 1912; — E. Troeltsch: Reformation und Renaissance (HZ 1913, S. 519-556); — Horst Stephan: Die heutigen Auffassungen vom Neuprotestantismus, 1911; — E. Troeltsch: Grundprobleme der Ethik (Ges. Schriften II, 1913).
Quelle: RGG1 IV (1913), Sp. 1912-1920.