Von Jörn Rüsen
Begriffliche Unterscheidungen
„Historisches Erzählen“ ist zunächst einmal die alltägliche sprachliche Form, in der Geschichte artikuliert wird, also Geschichtsbewußtsein sich manifestiert. Es tritt in sehr unterschiedlichen, zumeist unfertigen und fragmentarischen Formen auf, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß ein Zeitverlauf in der Vergangenheit berichtet wird. Dieser Bericht erfolgt stets in einer kommunikativen Situation, in der ein Erzähler seinen Zuhörern die Vergangenheit vergegenwärtigt, die aus unterschiedlichen Gründen für die Gegenwart wichtig ist. Die Grenzen dieser alltäglichen Form des Geschichtsbewußtseins zu anderen, nicht spezifisch historischen Formen sprachlicher Darstellung bedeutungsvoller Vergangenheit und Kommunikation über Geschichte sind fließend.
Im Bereich der elaborierten Formen der Geschichtsdarstellung, also vor allem der Historiographie als literarischer Gattung und ihrer fachwissenschaftlichen Ausprägung, wird „Erzählen“ als eine historiographische Darstellungsform neben anderen verstanden .So unterscheidet Droysen zum Beispiel eine untersuchende, eine erzählende, eine didaktische und eine erörternde oder diskursive Darstellung von Geschichte: In der ersten werden Quellenbefunde unter der Leitfrage erörtert, was in der Vergangenheit tatsächlich der Fall war; in der zweiten werden quellenkritisch ermittelte Tatsachen zu zeitlichen Verläufen verknüpft und diese Verläufe „mimetisch“ dargestellt, so daß sich Geschichte als anschauliches Sinngebilde zeitlicher Ereignisketten präsentiert; in der dritten werden zeitliche Verläufe mit Annahmen über allgemeine Sinnzusammenhänge der geschichtlichen Entwicklung gedeutet; in der vierten und letzten schließlich werden gedeutete historische Verläufe auf Probleme aktueller (zumeist politischer) Praxis bezogen (Droysen 1977, 217 ff., 245 ff.).
Dieses engere Verständnis von Erzählen ist auch für die Geschichtsdidaktik wichtig geworden: In ihr wurde Erzählen als eine besondere Darstellungsform im Unterricht (zumeist durch den Lehrer) aufgefaßt und einer eingehenden kritischen Erörterung unterzogen, die andere Unterrichtsformen (zum Beispiel Arbeitsunterricht mit Quellen) favorisierte. „Erzählen“ wurde als Gegenbegriff zu allen diskursiven Unterrichtsformen verstanden: Emotionalität stand gegen Rationalität, Unmittelbarkeit gegen kritische Distanz, Konkretheit gegen Abstraktion, Einfühlung und Identifikation gegen Argumentation und kritische Urteilsbildung. In ähnlicher Weise wurde auch in der wissenschaftlichen Historiographie die erzählende Darstellungsform als überholt, ja als nicht wissenschaftsspezifisch angesehen und zugunsten diskursiverer Formen (zum Beispiel durch argumentativen Theoriegebrauch) überwunden (Kocka 1989). Andererseits wird jedoch die Darstellungsform des Erzählens sowohl in der akademischen Historiographie wie auch im Geschichtsunterricht wieder aufgewertet (Stone 1979; Tocha 1979).
Eine grundsätzlichere und umgreifendere Bedeutung hat der Erzählbegriff demgegenüber in der jüngeren geschichtstheoretischen Diskussion. „Erzählen“ bezeichnet hier die für das historische Denken maßgebliche Form des Erklärens (Danto 1974), in ihm wird die spezifisch historische Form des menschlichen Wissens gesehen (Baumgartner 1982). Im historischen Erzählen wird die allem historischen Denken zugrunde liegende maßgebliche Sprachhandlung ausgemacht und linguistisch beschrieben (White 1973; Ricœur 1988-91; [58] Carr 1991). Von dieser umfassenden und fundamentalen Bestimmung des historischen Erzählens aus lassen sich wesentliche Einsichten in die lebensweltliche Struktur und Funktion des menschlichen Geschichtsbewußtseins und des historischen Lernens gewinnen.
Die Konstitution des Geschichtsbewußtseins durch historisches Erzählen
Geschichtsbewußtsein ist Inbegriff der mentalen Operationen, durch die Zeiterfahrungen der Gegenwart im erinnernden Rekurs auf die Erfahrung zeitlicher Veränderungen des Menschen und seiner Welt in der Vergangenheit gedeutet und dabei Zukunftsperspektiven für die aktuelle Lebenspraxis eröffnet werden (Rüsen 1994). Diese mentalen Operationen lassen sich zusammenfassend als „historisches Erzählen“ bezeichnen. Die Konstitution des Geschichtsbewußtseins durch historisches Erzählen geschieht im Rahmen der umgreifenden Operation des Erzählens als Sinnbildung über Zeiterfahrung. Diese Sinnbildungsleistung besteht darin, daß lebensbestimmende Zeiterfahrungen durch die betroffenen Subjekte so gedeutet werden, daß sie mit deren handlungsleitenden Absichten vereinbar werden: Zeit als Handlungsabsicht und Zeit als Handlungsbedingung (innere und äußere Zeit) werden durch Erzählen in den inneren Zusammenhang einer Orientierung der menschlichen Lebenspraxis gebracht. Das Erzählen bezieht Zeit als Erfahrung der Veränderung des Menschen und seiner Welt und Zeit als Erwartung und Hoffnung solcher Veränderung so aufeinander, daß sich der Mensch gleichsam im Fluß der Zeit einrichten kann, daß er in ihm nicht untergehen muß (durch zeitliche Veränderung sich verliert), sondern sich behaupten und gewinnen kann.
Erzählen bezieht also Zeiterfahrungen auf oberste Gesichtspunkte der bewußten Organisation der menschlichen Lebenspraxis. Das Resultat eines solchen deutenden Bezuges von Erfahrungen auf Intentionen ist das Sinngebilde einer „Geschichte“.
Diese für den Menschen als Gattung wesentliche Sinnbildungsoperation des Erzählens ist dann spezifisch historisch, wenn sie drei Besonderheiten hat:
- Erzählen ist historisch, wenn es sich an das Medium der Erinnerung bindet. Historisches Erzählen deutet die Zeiterfahrung der Vergangenheit so, daß gegenwärtig erfahrene zeitliche Veränderungen verstanden und Zukunft in Form einer Handlungsperspektive erwartet werden kann. Auf dieser geschichtsspezifischen Einbindung des Erzählens ins Medium der Erinnerung beruht der Tatsachenbezug des historischen Erzählens, in dem zumeist sein wesentlicher Unterschied zur sogenannten „fiktionalen“ Erzählung gesehen wird. Die jüngere geschichtstheoretische Diskussion betone den „fiktionalen“ Charakter historischer Sinnbildungen, ohne ihren Erfahrungsbezug grundsätzlich leugnen zu können. Sie bringt damit zum Ausdruck, daß der erzählend gebildete Sinn der Vergangenheit nicht die Erfahrungsqualität der Tatsachen hat, die die historische Forschung aus den Quellen herausarbeitet. Dennoch bleibt die Bezeichnung „fiktional“ irreführend, da sie eine Beliebigkeit und Erfahrungsferne unterstellt, die der Eigentümlichkeit und Besonderheit des Historischen in der erzählenden Sinnbildung über Zeiterfahrung widerspricht.
- Erzählen ist dann historisch, d. h. spezifisch auf den Inhalt „Geschichte“ bezogen, wenn die Sinnbildung über Zeiterfahrung in der Form einer übergreifenden Zeitverlaufsvorstellung erfolgt, die Zeiterfahrung und Zeitabsicht in einen inneren Zusammenhang bringt. (Dieser Zusammenhang wurde philosophisch mit der Kategorie der Kontinuität zum Ausdruck gebracht.) Das historische Erzählen organisiert den inneren Zusammenhang der erzählten Geschichte mit der Vorstellung einer inneren Sinnhaftigkeit von Zeitverläufen, die die drei Zeitdimensionen in die Einheit einer handlungsleitenden Zeitorientierung zusammenschließt. [59]
- Erzählen ist schließlich dann historisch, wenn die für seine Sinnbildung maßgebliche Zeitverlaufsvorstellung im lebenspraktischen Zusammenhang subjektiver Handlungsorientierung und Identitätsbildung erfolgt. Die historischen Zeitvorstellungen müssen die Funktion einer Vergewisserung menschlicher Identität im Wandel der Zeit erfüllen können.
Typen des historischen Erzählens
Die große Fülle von Erscheinungsformen des historischen Erzählens in den verschiedenen Bereichen menschlicher Sprachhandlungen von der stereotypen Alltagsfloskel bis zur fachspezifischen Abhandlung und in verschiedenen Zeiten und Kulturen verlangt nach einem begrifflichen Instrumentarium, mittels dessen sie analysiert und interpretiert werden kann. Als ein solches Instrumentarium bieten sich verschiedene Typologien des historischen Erzählens an. Hayden White schlägt eine linguistische Typologie vor, die (im engeren Bezug auf das historische Denken des 19.Jahrhunderts) an der Erzählprozedur vier verschiedene Dimensionen unterscheidet und in ihnen je vier verschiedene Modi anspricht (White 1973):
- In der Dimension des Emplotments, der literarischen Erzählform, lassen sich romantische, tragische, komische und satirische Darstellungsformen unterscheiden.
- In der Dimension des Formal Argument, der Erklärung durch formales Argumentieren, lassen sich formistische, mechanistische, organizistische und kontextualistische Verfahren unterscheiden.
- In der Dimension der ideologischen Implikation lassen sich anarchistische, radikale, konservative und liberale Elemente der Beurteilung unterscheiden.
- In der Dimension schließlich der fundamentalen sprachlichen Sinngebung geht es um Tropen, die die narrative Organisation der historischen Erfahrung bestimmen: Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie.
Mit Whites Unterscheidung von Emplotment, Formal Argument und Ideological Implication werden die drei wichtigsten Dimensionen der Geschichtskultur angesprochen (die ästhetische; kognitive und politische), und die Tropen als sprachliche Sinnbildungsprinzipien umgreifen diese Dimensionen und konstituieren ihre Einheit in einem Erzählvorgang. Allerdings wird dessen Spezifik, das Historische im Unterschied zu anderen Erzählmodi, nicht zum Ausdruck gebracht, sondern eher unkenntlich gemacht.
Schema der Erzähltypologie nach Hayden White
Emplotment | Formal Argument | Ideological Implication | Tropen des historischen Diskurses |
romantic tragic comic satirical | anarchist radical conservative liberal | formist mechanistic organistic contextualist | Metapher Metonoymie Synekdoche Ironie |
Eine andere Typologie hat Jörn Rüsen nach den obengenannten Charakteristika (Erinnerung, Kontinuität, Identität und zusammenfassenden Sinn) entworfen (Rüsen 1990). Er unterscheidet idealtypisch vier Arten des historischen Erzählens, die nie rein vorkommen, [60] die aber wesentliche Bestandteile der unterschiedlichsten Manifestationen des Geschichtsbewußtseins in narrativen Sprachhandlungen ausmachen.
(a) Traditionales historisches Erzählen erinnert an die Ursprünge, die gegenwärtige Lebensverhältnisse begründen; es stellt Kontinuität als Dauer dieser verpflichtenden Ursprünge vor; es wirkt kommunikativ als Einverständnis in vorgegebene Lebensordnung; es bringt Identität durch Affirmation vorgegebener Deutungsmuster menschlicher Subjektivität (zum Beispiel tradierte Rollen) zur Geltung. Diese Orientierungsfunktion des traditionalen Erzählens wird durch Geschichten erfüllt, die den Ursprung von Lebensumständen und -verhältnissen so erinnern, daß die von diesen Umständen Betroffenem aktuelle Zeiterfahrungen als Impulse zur Erneuerung dieses Ursprungs verarbeiten und demgemäß Zukunft als dessen Wiederkehr erwarten und absichtsvoll intendieren können. Identität wird durch solche Geschichten als eine (lebensnotwendige) Veränderungsresistenz gebildet. Vergangenheit und Zukunft verschmelzen zur Dauer gegenwärtig wirksamer Lebensordnungen, die vom Fluß der Zeit getragen und der Vergänglichkeit enthoben sind. Durch traditionales Erzählen wird Zeit als Sinn verewigt (Beispiele: Ursprungsmythen, Stiftungsgeschichten, herrschaftslegitimierende Genealogien, Rückblicke in Jubiläen).
(b) Exemplarisches historisches Erzählen erinnert an Sachverhalte der Vergangenheit, die Regeln gegenwärtiger Lebensverhältnisse konkretisieren. Es stellt Kontinuität als Geltung dieser Regeln vor, die zeitlich verschiedene Lebensordnungen umgreifen; es bewirkt Kommunikation in der Form einer Argumentation mit Urteilskraft; und es bringt Identität durch Generalisierung verschiedener Zeiterfahrungen zu Handlungenregeln (also als Regelkompetenz) zur Geltung. Dieses Erzählen erschließt Veränderungen als Spielraum unterschiedlicher Anwendungen sich gleichbleibender Handlungsregeln. Es befähigt seine Adressaten dazu, sich im Bewußtsein einer zeitenthobenen Geltung von Regeln in die Vielfalt von äußeren Handlungsbedingungen hineinzubegeben und sich in ihr regelkompetent zur Geltung zu bringen. Durch exemplarisches Erzählen wird Zeit als Sinn gleichsam verräumlicht (zu einer Reihe von Anwendungsfällen zeitlos geltender Normen). Dieser Erzähltyp wird durch die klassische Devise „historia magistra vitae“ charakterisiert (Beispiele: Geschichten, die Vorbilder präsentieren; Geschichten, die eine „Moral“ haben oder Einsichten in politische Prinzipien vermitteln). Eine Reihe von Indizien spricht dafür, daß dieser Erzähltyp, der seine kulturelle Dominanz seit der Entstehung des Historismus verloren hat, nach wie vor als Sinnbildungsmuster des historischen Denkens im schulischen Geschichtsunterricht vorherrscht.
(c) Kritisches historisches Erzählen erinnert an Sachverhalte der Vergangenheit, von denen her gegenwärtig Lebensverhältnisse in Frage gestellt werden können; es stellt Kontinuität als Veränderung vorgegebener und im Orientierungsrahmen der Lebenspraxis wirksamer Kontinuitätsvorstellungen vor (also als Anti-Kontinuität); es bewirkt Kommunikation in der Form einer Abweisung und Abgrenzung von Standpunkten; und es bringt Identität durch Negation identitätsbildender Deutungsmuster, also als Kraft, „nein“ sagen zu können, zur Geltung. Geschichten, die diesem Erzähltyp besonders nahekommen, ermöglichen die Bildung neuer Kontinuitätsvorstellungen, indem sie die alten wegarbeiten. Solche Geschichten bringen die Identität ihrer Adressaten als deren Kompetenz zur Normveränderung zur Geltung. Durch kritisches Erzählen werden die in den angesonnenen Kontinuitätsvorstellungen enthaltenen Identitätszumutungen abgewehrt. Zeit wird als Sinn beurteilbar (Beispiele: Geschichten, die traditionale Legitimationen dadurch in Frage stellen, daß sie auf historische Erfahrungen verweisen, die den legitimierenden Kontinuitätsvorstellungen widersprechen; Geschichten, die eingefahrene historische Klischees oder orientierungspraktisch wirksame Überlieferungen empirisch widerlegen).
(d) Genetisches historisches Erzählen erinnert an qualitative Veränderungen in der Vergangenheit, die andere und fremde Lebensverhältnisse in eigene und vertraute münden lassen. Es stellt Kontinuität als Entwicklung vor, in der sich Lebensordnungen ändern, um sich (dynamisch) auf Dauer zu stellen; es bewirkt Kommunikation in der Form diskursiver und reflexiver Beziehung von Standpunkten aufeinander; und es bringt Identität als Synthese von Dauer und Wandel, in [61/62] der sich die angesprochenen Subjekte individualisieren, also als „Bildung“, zur Geltung. Zeitliche Veränderungen werden als Modi der Kontinuierung menschlicher Lebensformen interpretiert. Herkunft und Zukunft werden in der Form einer qualitativen Differenz auseinandergehalten, zugleich aber auch mit der Vorstellung eines kontinuierlichen Übergangs von der einen Qualität zur anderen zusammengeschlossen. Geschichten, die diesem Typ nahekommen, bringen ein dynamisches Moment in die historische Orientierung der menschlichen Lebenspraxis: Die Kräfte der Veränderung werden als Faktoren der Kontinuierung gedeutet. Durch genetisches Erzählen wird Zeit als Sinn verzeitlicht (Beispiele: Fortschrittsgeschichten, Geschichten, die dem historistischen Entwicklungsprinzip folgen).
Erinnerung | Kontinuität | Form der Kommunikation | Identität | Sinn von Zeit | |
traditionales Erzählen | an Ursprünge von Weltordnungen und Lebensform | als Dauer im Wandel | Einverständnis | durch Übernahme vorgegebener Weltordnungen und Lebensformen (Nachahmung) | Zeit wird als Sinn verewigt |
exemplarisches Erzählen | an Fälle, die allgemeine Handlungs- und Geschehensregeln demonstrieren | als überzeitliche Geltung von Handlungs- und Geschehensregeln | Argumentation mit Urteilskraft | durch Regelkompetenz in Handlungssituationen (Klugheit) | Zeit wird als Sinn verräumlicht |
kritisches Erzählen | an Abweichungen, die gegenwärtige historische Orientierung infrage stellen | als Bruch in Zeitverläufen | Abgrenzung von Standpunkten | durch Negation angesonnener Lebensformen (Eigensinn) | Zeit wird als Sinn beurteilbar |
genetisches Erzählen | an Veränderungen, die Lebenschancen eröffnen | als Entwicklung, in der sich Lebensformen verändern, um sich dynamisch auf Dauer zu stellen | reflexive Beziehung von Standpunkten und Perspektiven | durch Individualisierung (Bildung) | Zeit wird als Sinn verzeitlicht |
Mit Hilfe dieser (oder anderer) Typologien lassen sich konkrete empirische Befunde des historischen Erzählens in einzelne, für die jeweilig erfolgte historische Sinnbildung maßgebliche Faktoren zerlegen, deren Verhältnis aufschlüsseln und dadurch die Besonderheit dieser Befunde begrifflich trennscharf darlegen. Sie dienen zugleich zu systematischen Vergleichen zwischen verschiedenen empirischen Befunden, und mit ihnen können auch Perspektiven der historischen Entwicklung der Historiographie theorieförmig konstruiert werden.
Geschichtsdidaktische Ausblicke
Wenn historisches Erzählen die für das Geschichtsbewußtsein konstitutive und über seine Orientierungsleistungen entscheidende mentale Operation darstellt, dann ist es zugleich ein fundamentales geschichtsdidaktisches Prinzip; es stellt einen wesentlichen Gesichtspunkt dar, von dem aus historisches Lernen empirisch erforscht, normativ geregelt und pragmatisch organisiert werden kann.
Die von der Geschichtsdidaktik angesprochenen Phänomene des Geschichtsbewußtseins lassen sich als narrative Sprachhandlungen identifizieren, erforschen und bestimmen. Die Fachspezifik des historischen Lernens läßt sich sowohl auf der Ebene von Alltagsbefunden wie auch auf der Ebene elementarer und allgemeiner Operationen des menschlichen Bewußtseins mit den besonderen Eigenschaften des historischen Erzählens ausmachen und in übergreifenden Lernbereichen des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes zur Geltung bringen. Die Einheit des Geschichtsbewußtseins läßt sich als innere Kohärenz der mentalen Operationen des historischen Erzählens begreifen, und historisches Lernen läßt sich als Bildung von Geschichtsbewußtsein durch Erzählen thematisieren. Die Fragen nach den Lernzielen des Geschichtsunterrichts lassen sich als Fragen der narrativen Kompetenz neu aufwerfen, und schließlich bieten sich die verschiedenen Typen des historischen Erzählens dazu an, verschiedene Lernformen in den Bildungsprozessen des Geschichtsbewußtseins zu unterscheiden, zu analysieren und die ihnen entsprechenden normativen und pragmatischen Bestimmungen auszuarbeiten. Offen ist die Frage, ob mit einer erzähltypologischen Unterscheidung von Grundformen des historischen Lernens nicht auch die Frage nach jenem Prozeß der Individuation und Sozialisation beantwortet werden kann, in dem sich Geschichtsbewußtsein bildet. Die Typen des traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Erzählens können als Entwicklungsphasen des Geschichtsbewußtseins verstanden werden, die sich in komplexen, im einzelnen noch zu erforschenden Prozessen einer kontinuierlichen Verarbeitung historischer Erfahrungen in identitätsbildende Deutungsmuster des zeitlichen Wandels von Mensch und Welt sukzessive herausbilden. [63]
Literatur
Baumgartner, H. M.; Thesen zu Grundlegung einer transzendentalen Historik, in: Baumgartner, H. M./Rüsen, J. (Hrsg.): Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, 2. Aufl., Frankfurt 1982, 275-302.
Carr, D.: Time, Narrative and History, Bloomington 1991.
Danto, A. C.: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt 1974.
Droysen, J. G.: Historik. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von P. Leyh: Bd. 1, Stuttgart 1977.
Kocka, J.: Zurück zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation, in: ders.; Geschichte und Aufklärung. Aufsätze, Göttingen 1989, 8-20.
Megill, A.: Recounting the Past: “Description”, Exploration, and Narrative in Historiography in: American Historical Review 94 (1989), 627-653.
Quandt, S./Süssmuth, H.(Hrsg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, Göttingen 1982.
Ricœur, P.: Zeit und Erzählung, 3 Bde., München 1988-91.
Röttgers, K.: Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten, Freiburg/München 1982.
Rüßen, J.: Die vier Typen des historischen Erzählens, in: ders.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt 1990, 153-230.
– Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln 1994.
– Historische Sinnbildung durch Erzählen, in: Internationale Schulbuchforschung 18 (1996), 1-42.
Stone, L.: The Revival of Narrative Reflections on a New Old History in: Past and Present 85 (1979), 3-24.
Tocha, M.: Zur Theorie und Praxis narrativer Darstellungsformen mit besonderer Berücksichtigung der Geschichtserzählung, in: Gd 4 (1979), 209-222.
White, H.: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/ London 1973 (dt.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19 Jahrhundert in Europa, Frankfurt 1991).
Quelle: Klaus Bergmann/Klaus Fröhlich/Annette Kuhn/Jörn Rüsen/Gerhard Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl., Seelze-Velber 1997, S. 57-63.