Jürgen Habermas, Israel und Athen oder: Wem gehört die anamnetische Vernunft? (1993): „Die Spannung zwischen dem Geiste Athens und dem Erbe Israels hat sich innerhalb der Philosophie nicht weniger fol­genreich ausgewirkt als innerhalb der Theologie. Wenn aber das philosophische Denken nicht aufgeht in der synthetischen Arbeit jenes Idealismus, der das kirchlich verfaßte Heiden­christentum des Abendlandes auf den theologischen Begriff gebracht hat, dann kann sich die Kritik am hellenisierten Christentum auch nicht gegen die argumentierende Vernunft per se, gegen die unpersönliche Vernunft der Philosophen als solche richten.“

Als die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster am 16. Juni 1993 unter dem Titel «Gott in dieser Zeit» ein Symposion zur Verabschiedung von Johann Baptist Metz veranstaltete, hielt Jürgen Habermas folgenden Vortrag:

Israel und Athen oder: Wem gehört die anamnetische Vernunft?

Von Jürgen Habermas

Zur Einheit in der multikulturellen Vielfalt

Die Gedankengänge von Johann Baptist Metz faszinieren mich auch deshalb, weil ich darin über eine gewisse Distanz hinweg gemeinsame Intentionen wiedererkenne. Daß sich dem, der aus philosophischer Perspektive die Einstellung eines methodischen Atheismus einnimmt, dieselben Fragen stellen wie dem Theologen, ist weniger überraschend als die Parallelität der Antworten. Meinen Dank an den theologi­schen Zeitgenossen möchte ich in der Weise abstatten, daß ich mir über diese Parallelen Klarheit zu verschaffen suche.

Metz hat einmal das Faktum der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, auf das wir heute in der multikulturell aus­gefächerten und dezentrierten Weltgesellschaft stoßen, an seiner eigenen Lebensgeschichte illustriert: »Ich komme aus einer erzkatholischen bayerischen Kleinstadt. Man kommt von weit her, wenn man von dort kommt. Es ist, als wäre man nicht vor fünfzig (oder vor fünfundsechzig) Jahren geboren, sondern irgendwo an den verdämmernden Rändern des Mittelalters. Ich mußte … vieles mühsam entdecken, was andere, was ›die Gesellschaft‹ so scheint es, längst entdeckt hatte …: Demokratie im politischen Alltag zum Beispiel, Umgang mit einer diffusen Öffentlichkeit, Spielregeln des Konflikts auch im familiären Leben usw. Vieles wirkte fremd und blieb eigentlich immer befremdlich.«[1] Vor diesem Er­fahrungshin­tergrund hat sich Metz stets gegen eine bloß defensive Einstellung der katholischen Kirche zur Moderne gewandt und für eine produktive Teilnahme an Prozessen der bürgerlichen und nachbürgerlichen Aufklärung plädiert. Wenn die biblische Vision der Rettung nicht nur Erlösung von individueller Schuld bedeutet, sondern auch die kollektive Be­freiung aus Situationen des Elends und der Unterdrückung einschließt (und insofern neben dem mystischen immer auch ein politisches Element enthält), berührt sich der eschatologische Aufbruch zur Rettung der ungerecht Leidenden mit Impulsen der Freiheitsgeschichte der europäischen Neuzeit.

Ebenso folgenreich wie die Unempfindlichkeit gegenüber dem emanzipatorischen Potential dieser Geschichte ist freilich die Blindheit gegenüber der Dialektik der Aufklärung. Der Aufklärung ist lange genug die barbarische Rückseite ihres eigenen Spiegels verborgen geblieben, weil sie sich im Lichte ihrer universalistischen Ansprüche über den partikularistischen Kern ihres okzidentalen Ursprungs hinweggetäuscht hat. Dieser verstockte, sich auf sich selbst versteifende Ratio­nalismus hat sich in die stumme Gewalt einer kapitalistischen Weltzivilisation umgesetzt, die sich fremde Kulturen angleicht und eigene Traditionen dem Vergessen preisgibt. Das Chri­stentum, das glaubte, sich dieser Zivilisation als eines »un­schuldigen Katalysators für die Weltsendung seiner Hoff­nung« bedienen, die Kirche, die glaubte, ihre Missionare auf den Spuren der europäischen Kolonisatoren aussenden zu können, hatten unfreiwillig teil an dieser Dialektik von Ent­zauberung und Gedächtnisverlust. Daraus erklärt sich die Diagnose, die Metz der Theologie stellt, und die praktische Forderung, mit der er seine Kirche konfrontiert.

Die Diagnose lautet: ein hellenisiertes Christentum hat sich durch die philosophische Vernunft griechischer Herkunft dem eigenen Ursprung aus dem Geiste Israels soweit entfremden lassen, daß die Theologie gegenüber dem Aufschrei des Leidens und dem Verlangen nach universaler Gerechtigkeit unempfindlich geworden ist (1 und 2). Die Forderung heißt: die auf dem Boden des Hellenismus erwachsene eurozentri­sche Kirche muß ihr monokulturelles Selbstverständnis über­winden und sich, ihres jüdischen Ursprungszusammenhanges eingedenk, zu einer kulturell polyzentrischen Weltkirche ent­falten (3).

(1) Israel vs. Athen. Metz wird nicht müde, im Christen­tum das Erbe Israels einzuklagen. »Jesus war kein Christ, sondern Jude« – mit dieser provokativen Formel tritt er nicht nur dem christlichen Antisemitismus entgegen, rechnet er der ecclesia triumphans nicht nur die zutiefst fragwürdige Sieger­pose gegenüber einer geblendeten und erniedrigten synagoga vor;[2] er bäumt sich damit vor allem gegen die Apathie einer von Auschwitz, wie es scheint, unberührten Theologie auf.[3]Diese Kritik hat eine existentiell-praktische Stoßrichtung. Sie besagt aber auch, daß sich ein hellenisiertes Christentum mit der Abwehr seines jüdischen Ursprungs von der Quelle anam­netischer Vernunft abgeschnitten hat und selber zum Aus­druck einer schicksalslos-idealistischen, der Erinnerung und des historischen Eingedenkens unfähigen Vernunft geworden ist. Wer das Christentum augustinisch als Synthese von Geist und Glauben versteht, wobei der Geist aus Athen, der Glaube aus Israel kommen soll, der halbiert den Geist des Christen­tums.[4] Gegenüber der Arbeitsteilung zwischen philosophi­scher Vernunft und religiösem Glauben besteht Metz auf dem vernünftigen Gehalt der Tradition Israels; er begreift die Kraft des historischen Eingedenkens als ein Element der Vernunft: »Diese anamnetische Vernunft widersteht dem Verges­sen, auch dem Vergessen des Vergessens, das in jeder puren Historisierung der Vergangenheit nistet.«[5] Aus dieser Sicht erscheint die in Griechenland wurzelnde Philosophie als Ver­walterin der Ratio, der Kräfte eines Verstandes, der erst durch die Verbindung mit der auf Moses und dessen Verkündigung zurückweisenden Memoria zur Ver­nunft gebracht wird. Inso­fern behält eine Theologie, die aus ihrer hellenistischen Ent­fremdung zu den eigenen Ursprüngen zurückkehrt, gegenüber der Philosophie das letzte Wort: »sie rekurriert auf den un­auflöslichen Zusammenhang zwischen Ratio und Memoria (spätmodern ausgedrückt: auf die Fundierung kommunika­tiver Vernunft in anamnetischer).«[6]

Wenn man diese Aussage im philosophischen Gegenlicht betrachtet, ruft nicht nur das Fundierungsverhältnis Wider­spruch hervor. Zu flächig gezeichnet ist auch das Bild einer philosophischen Tradition, die ja nicht in Platonismus auf­geht, sondern im Laufe ihrer Geschichte wesentliche Gehalte der jüdisch-christlichen Überlieferung aufgenommen hat und durch das Erbe Israels bis in ihre griechischen Wurzeln hinein erschüttert worden ist. Gewiß hat der philosophische Idealis­mus von Augustin über Thomas bis zu Hegel jene Synthese hergestellt, durch die sich der Gott, der Hiob begegnet, in den Gottesbegriff der Philosophen verwandelt. Aber die Ge­schichte der Philosophie ist nicht nur eine des Platonismus, sondern auch die des Protestes gegen ihn. Diese Proteste, ob sie nun im Zeichen des Nominalismus oder des Empirismus, des Individualismus oder des Existentialismus, des Negativis­mus oder des Historischen Materialismus aufgetreten sind, lassen sich als ebensoviele Versuche begreifen, das se­mantische Potential des heilsgeschichtlichen Denkens in das Uni­versum der begründenden Rede einzuholen. Damit sind prak­tische Intuitionen in die Philosophie eingedrungen, die dem ontologischen Denken und seinen erkenntnis- und sprach­philosophischen Umformungen von Haus aus fremd sind.

Metz versammelt diese nicht-griechischen Motive in dem einen Fokus des Eingedenkens. Er versteht die Kraft der Er­innerung im Sinne Freuds als die analytische Kraft des Bewußtma­chens, vor allem aber im Sinne Benjamins als die mystische Kraft einer retroaktiven Versöhnung. Das Ein­gedenken rettet, was uns als unverlierbar gilt und doch in höchste Gefahr geraten ist, vor dem Verfall. Dieser religiöse Begriff der Rettung übersteigt gewiß den Horizont dessen, was die Philosophie unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens plausibel machen kann. Aber vom Begriff des rettenden Eingedenkens aus erschließt sich das Feld jener religiösen Erfahrungen und Motive, die lange genug vor den Toren des philosophischen Idealismus rumort haben, bis sie endlich ernstgenommen wurden und eine zunächst auf den Kosmos gerichtete Vernunft von innen in Unruhe versetzen konnten. Bei der Beunruhigung ist es nicht geblieben. Auf dem Weg von der intellektuellen Anschauung des Kosmos über die Selbstreflexion des erkennenden Subjekts zur sprach­lich inkarnierten Vernunft hat sich der griechische Logos ver­wandelt. Er ist heute nicht mehr nur auf den kognitiven Welt­umgang fixiert – auf das Seiende als Seiendes, auf das Erken­nen des Erkennens oder die Bedeutung von Sätzen, die wahr oder falsch sein können. Vielmehr hat die Idee des Bundes, der dem Volke Gottes und jedem seiner Angehörigen eine durch ihre Leidensgeschichte hindurchgreifende Gerechtig­keit verheißt, hat jedenfalls die Idee einer Bundesgenossen­schaft, die im Horizont einer unversehrten Intersubjektivität Freiheit und Solidarität miteinander verschränkt, ihre Spreng- kraft auch innerhalb der Philosophie entfaltet und die argu­mentierende Vernunft für die praktischen Erfahrungen der bedrohten Identität geschichtlicher Existenzen aufnahme­fähig gemacht.

Ohne diese Unterwanderung der griechischen Metaphysik durch Gedanken genuin jüdischer und christlicher Herkunft hätten wir jenes Netzwerk spezifisch moderner Begriffe, die im Begriff der kommunikativen und zugleich geschichtlich situierten Vernunft zusammenschießen, nicht ausbilden kön­nen. Ich meine den Begriff der subjektiven Freiheit und die Forderung des gleichen Respekts für jeden – auch und gerade für den Fremden in seiner Eigenheit und Andersheit. Ich meine den Begriff der Autonomie, einer Selbstbindung des Willens aus moralischer Einsicht, die auf Verhältnisse rezi­proker Anerkennung angewiesen ist. Ich meine den Begriff des vergesellschafteten Subjekts, das sich lebensgeschichtlich individuiert und das als unvertretbar Einzelner zugleich Ange­höriger einer Gemeinschaft ist, also nur im solidarischen Zu­sammenleben mit Anderen ein authentisches eigenes Leben führen kann. Ich meine den Begriff der Befreiung – sowohl als Emanzipation aus entwürdigenden Verhältnissen wie als utopischer Entwurf einer gelingenden Lebensform. Der Ein­bruch des historischen Denkens in die Philosophie hat schließ­lich die Einsicht in den befristeten Charakter der Lebenszeit gefördert, hat die Erzählstruktur der Geschichten, in die wir uns verstricken, den Widerfahrnischarakter der Ereignisse, die uns zustoßen, zu Bewußtsein gebracht. Dazu gehört auch das Bewußtsein von der Fallibilität des menschlichen Geistes, von der Kontingenz der Bedingungen, unter denen dieser gleichwohl unbedingte Ansprüche erhebt.

Die Spannung zwischen dem Geiste Athens und dem Erbe Israels hat sich innerhalb der Philosophie nicht weniger fol­genreich ausgewirkt als innerhalb der Theologie. Wenn aber das philosophische Denken nicht aufgeht in der synthetischen Arbeit jenes Idealismus, der das kirchlich verfaßte Heiden­christentum des Abendlandes auf den theologischen Begriff gebracht hat, dann kann sich die Kritik am hellenisierten Christentum auch nicht gegen die argumentierende Vernunft per se, gegen die unpersönliche Vernunft der Philosophen als solche richten. Auch Anamnese und Erzählung können Gründe liefern und insofern den philosophischen Dis­kurs antreiben, auch wenn sie in ihm nicht den Ausschlag geben. Obgleich die profane Vernunft gegenüber der mystischen Kausalität eines heilsgeschichtlich inspirierten Eingedenkens skeptisch bleibt und dem blanken Versprechen der Restitution keinen Glauben schenkt, brauchen die Philosophen das, was Metz anamnetische Vernunft nennt, nicht allein den Theolo­gen zu überlassen. Das möchte ich an zwei Themen erläutern, die für Metz theologisch bzw. kirchenpolitisch von beson­derem Interesse sind.

(2) Das Problem der Theodizee. Die Frage nach der Ret­tung der ungerecht Leidenden ist vielleicht das wichtigste Movens, das die Rede von Gott in Bewegung hält. Metz wen­det sich entschieden gegen eine platonisierende Entschärfung dieser Frage, die sich für den Christen nach Auschwitz radika­ler stellt denn je.[7] Wiederum waren es die Denkmittel der grie­chischen Tradition, mit denen der Erlösergott vom alttesta­mentarischen Schöpfergott unterschieden worden ist, um ihn so von der Verantwortung für die Barbareien einer sündigen Menschheit zu entlasten. Gott selbst sollte in seine von Leid durchkreuzte Schöpfung nicht hineingezogen werden. Gegen diese idealistische Besänftigung des Leidens beschwört Metz eine Kultur des Vermissens, eine Erinnerungskultur, die die existentielle Unruhe der leidenschaftlichen Rückfrage an Gott ohne falsches Trostbedürfnis wachhält – und damit auch die eschatologisch gespannte Erwartung, die Sensibilität für eine suspendierte, aber schon in die Gegenwart hineinreichende Zukunft stimuliert.[8] Die biblische Zukunftserwartung darf nicht, gemäß Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkehr, im Element der griechisch verstandenen Ewigkeit unter­gehen.[9]

Selbst zu diesem, in die innersten Bezirke religiöser Erfah­rung hineinreichenden Protest findet sich eine Parallele in jener Unterströmung des philosophischen Denkens, das gegen die neuplatonische Abstufung des Guten und des Wahren auf der Positivität und dem Eigensinn des Negativen beharrt. Wie die auf Eschatologie zugespitzte Theologie, so will auch diese von Jakob Böhme über Baader, Schelling und Hegel bis zu Bloch und Adorno reichende Tradition die Erfahrung der Negativität des Bestehenden zur treibenden dialektischen Kraft einer Reflexion machen, die die Herr­schaft des Vergangenen über das Zukünftige brechen soll. Da die Philosophie nicht von der Prämisse eines zugleich all­mächtigen und gerechten Gottes ausgeht, kann sie freilich eine Kultur des Vermissens – also ein Gespür für das Ver­fehlte und Vorenthaltene – nicht über die Theodizeefrage einklagen. Heute jedenfalls hat es die Philosophie weniger mit der idealistischen Verklärung einer erlösungsbedürftigen Realität, als vielmehr mit der Indifferenz gegenüber einer empiristisch eingeebneten, normativ taub gewordenen Welt zu tun.

Die Fronten haben sich verkehrt. Der inzwischen grassie­rende Paradigmen- und Weltbild-Historismus ist ein Empi­rismus zweiter Stufe, der dem Ja und Nein des Stellung nehmenden Subjekts den Ernst eines zwar hier und jetzt, im lokalen Kontext erhobenen, aber alle bloß provinziellen Maßstäbe zugleich überschreitenden, universalistischen Gel­tungsanspruchs nimmt. Wenn ein Paradigma oder ein Welt­bild so viel wert ist wie das nächste, wenn verschiedene Dis­kurse jeweils alles, was wahr und falsch, gut und böse sein kann, auf verschiedene Weise kodieren, dann muß sich jene normative Dimension schließen, in der wir die Züge eines mißglückten und entstellten, eines menschenunwürdigen Lebens erst identifizieren und als Entbehrungen überhaupt erfahren können. Deshalb bietet auch die Philosophie gegen das historistische Vergessen des Vergessens die Kraft der Anamnese auf. Aber nun ist es die argumentierende Ver­nunft selbst, die in den Tiefenschichten ihrer eigenen prag­matischen Voraussetzungen die Bedingungen für die Inan­spruchnahme eines unbedingten Sinns freilegt – und damit die Dimension von Geltungsansprüchen offenhält, die soziale Räume und historische Zeiten transzendieren. Auf diese Weise schlägt sie eine Bresche in die Normalität eines innerweltlichen Geschehens, dem jede promissory note fehlt – in eine Normalität, die sich sonst fugendicht gegen jede Erfahrung entbehrter Solidarität und Gerechtigkeit ab­schließen würde. Allerdings wird auch diese Philosophie, die den Gedanken der Bundesgenossenschaft in den Begriff der kommunikativen, geschichtlich situierten Vernunft auf­nimmt, keine Zuversicht spenden können; sie steht im Zei­chen einer Transzendenz von innen und muß sich mit der be­gründeten Ermutigung zu einem skeptischen, aber nicht- defaitistischen »Widerstand gegen die Götzen und Dämonen einer menschenverachtenden Welt« begnügen.

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie verändert sich bei dem anderen Thema, das Metz kirchengeschichtlich und kirchenpolitisch am Herzen liegt, noch einmal. Die Philosophie bemüht sich hier nicht nur, wie in der Frage der Theodizee, um die Aneignung von semantischen Potentia­len, die in der religiösen Überlieferung aufbewahrt sind; sie kann einer Theologie, die das Selbstverständnis von Chri­stentum und Kirche im Hinblick auf den kulturellen und weltanschaulichen Pluralismus klären möchte, sogar zu Hilfe kommen.[10]

(3) Die polyzentrische Weltkirche. Seit dem zweiten Vati­kanischen Konzil steht die Kirche vor der doppelten Auf­gabe, sich im Inneren für die Vielfalt der Kulturen zu öffnen, in denen das katholische Christentum inzwischen Fuß gefaßt hat, und nach außen im Verhältnis zu den Religionen nicht­christlicher Herkunft einen streitbaren Dialog zu suchen, statt in abwehrender Apologie zu verharren. In beiden Rich­tungen stellt sich dasselbe Problem: wie kann die christliche Kirche in ihrer kulturellen Vielstimmigkeit ihre Identität, und wie kann die christliche Lehre in der diskursiven Ausein­andersetzung mit konkurrierenden Weltbildern die Authen­tizität ihrer Wahrheitssuche behaupten? Die Antworten, die Metz anbietet, sind suggestiv. Die Kirche, die die Gren­zen ihrer eurozentrischen Geschichte reflektiert, um die christliche Lehre auf die hermeneutischen Ausgangslagen nicht-westlicher Kulturen abzustimmen, kann nicht von der »Vorstellung eines geschichtslosen, eines kulturenthobenen und ethnisch unschuldigen Christentums« ausgehen; viel­mehr muß sie ihrer theologischen Ursprungsgeschichte ebenso eingedenk bleiben wie der institutionellen Verflech­tung in die Geschichte des europäischen Kolonialismus. Und ein Christentum, das im Dialog mit anderen Religionen zum eigenen Wahrheitsanspruch eine reflexive Einstellung ein­nimmt, darf es nicht bei einem »beziehungslosen oder gönnerischen Pluralismus« bewenden lassen; vielmehr muß es, ohne Vereinnahmungstendenz und unter Verzicht auf alle Machtmittel, an der universellen Geltung seines Heils­angebotes festhalten.[11]

Damit scheint die polyzentrische Kirche für die politische Bewältigung des Multikulturalismus geradezu eine Vorbild­funktion zu übernehmen. Im Innenverhältnis scheint sie sich als Modell für einen demokratischen Rechtsstaat zu empfeh­len, der die verschiedenen Lebensformen einer multikultu­rellen Gesellschaft zu ihrem Recht kommen läßt; und in ihrem Außenverhältnis könnte eine solche Kirche Modell sein für eine Völkergemeinschaft,, die ihre internationalen Beziehungen auf der Basis der gegenseitigen Anerkennung regelt. Bei näherem Hinsehen verhalten sich jedoch die Dinge eher umgekehrt. Die Idee der polyzentrischen Kirche zehrt ihrerseits von den Einsichten der europäischen Auf­klärung und ihrer politischen Philosophie.

Metz selbst bezieht sich affirmativ auf das Erbe eines her­meneutisch über seine eurozentrischen Grenzen aufgeklärten Vernunftrechts: Europa ist »die kulturelle und politische Heimstatt eines Universalismus, der in seinem Kern strikt antieurozentrisch ist … Gewiß, der freiheits- und gerechtig­keitssuchende Universalismus der Aufklärung war zunächst nur semantisch universal, er ist in der konkreten Durchfüh­rung bis heute partikular geblieben. Gleichwohl begründet er eine neue politische und hermeneutische Kultur, die auf die Anerkennung der subjekthaften Freiheit und Würde aller Menschen zielt. Dieser in den europäischen Traditionen ent­wickelte Universalismus der Menschenrechte darf die Aner­kennung der kulturellen Alterität nicht preisgeben. Er stellt sicher, daß der kulturelle Pluralismus nicht einfach in vagen Relativismus zerfällt und daß die postulierte Kultur der Empfindlichkeit wahrheitsfähig bleibt.«[12]

Nun kann aber das Christentum für seine ethisch imprä­gnierten Auffassungen der Heilsgeschichte und der Schöp­fungsordnung nicht in demselben Sinne universale Anerken­nung erwarten wie eine prozedural angelegte Theorie des Rechts und der Moral für die Menschenrechte und die Prin­zipien des Rechtsstaates, die sie mit Hilfe eines Konzepts der Verfahrensgerechtigkeit zu begründen beansprucht.[13] Des­halb versteht auch Metz die Universalität des Heilsangebots eher als eine praktisch zu bewährende Einladung an alle und nicht als jenen universellen Anspruch auf rationale Akzepta­bilität, mit dem beispielsweise das Vernunftrecht aufgetreten ist. Selbst die polyzentrische Weltkirche bleibt in modernen Gesellschaften eine von mehreren Interpretationsgemein­schaften, die jeweils ihre Konzeptionen des Heils, ihre Visionen eines nicht-verfehlten Lebens artikulieren und die miteinander um die überzeugend­ste Interpretation von Gerechtigkeit, Solidarität und der Errettung aus Not und Er­niedrigung streiten. Diesen Blick von außen muß die Kirche internalisieren, sich als einen auf sich gerichteten Blick zu eigen machen. Und dazu bedient sie sich der in der europäi­schen Aufklärung entwickelten Ideen, eben der Ideen, die sich heute in demokratisch verfaßten multikulturellen Ge­sellschaften ebenso wie in menschenrechtlich strukturierten Anerkennungsverhältnissen zwischen den Völkern und Kul­turen dieser Erde durchsetzen müssen.

In multikulturellen Gesellschaften bilden die Grund­rechte und die Prinzipien des Rechtsstaates die Kristalli­sationspunkte für eine alle Staatsbürger vereinigende poli­tische Kultur; diese ist wiederum die Grundlage für eine gleichberechtigte Koexistenz verschiedener Gruppen und Subkulturen je eigener Herkunft und Identität. Die Ent­koppelung dieser beiden Integrations­ebenen ist die Voraus­setzung dafür, daß die Mehrheitskultur nicht länger die Defi­nitionsge­walt über die gemeinsame politische Kultur ausübt, sich dieser vielmehr unterordnet und sich für einen zwang­losen Austausch mit den Minderheitenkulturen öffnet. Eine vergleichbare Situation besteht innerhalb der polyzentri­schen Weltkirche: in ihr muß sich ein gemeinsames christ­liches Selbstverständnis ausbilden, das mit den historisch prägenden Traditionen des Abendlandes nicht mehr zusam­menfällt, sondern bloß den Hintergrund darstellt, vor dem diese sich ihrer eurozentrischen Beschränkungen und Beson­derheiten innewerden.

Eine andere Art der hermeneutischen Selbstreflexion wird dem katholischen Christentum insgesamt in seinem Verhält­nis zu anderen Religionen abverlangt. Hier versagt die Ana­logie zu einer westlichen Welt, die sich auf der internationa­len Bühne zu einem dezentrierten und lernbereiten Umgang mit nicht-westlichen Kulturen versteht. Denn dafür unter­stellen wir als gemeinsame Basis Menschenrechte, die präsumptiv eine allgemeine und rational motivierte Anerken­nung genießen. Im dialogischen Streit der religiösen und metaphysischen Weltbilder fehlt für diese gemeinsame recht­lich-moralische Grundlage das Äquivalent einer gemein­samen Konzeption des Guten. Nun soll dieser Streit aber im reflexiven Bewußtsein, daß sich alle Beteiligten in dem­selben Diskursuniversum bewegen und einander als koope­rative Teilnehmer an der Suche nach ethisch-existentieller Wahrheit achten, ausgetragen werden. Dazu bedarf es einer Kultur der Anerkennung, die ihre Grundsätze der säkulari­sierten Welt des moralischen und vernunftrechtlichen Universalismus entlehnt. In dieser Frage liefert also der phi­loso­phische Geist der politischen Aufklärung der Theologie die Begriffe, in denen diese sich den Sinn des Aufbruchs zu einer polyzentrischen Weltkirche klar macht. Das sage ich ohne Rechthaberei; denn der politischen Philosophie, die das leistet, hat sich der Gedanke der Bundesgenossenschaft nicht weniger tief eingeprägt wie die Idee der Polis. Insofern be­ruft auch sie sich auf ein biblisches Erbe, an das Metz appel­liert, wenn er die zeitgenössische Kirche daran erinnert, daß sie »im Namen ihrer Sendung Freiheit und Gerechtigkeit für alle suchen« und sich durch »eine Kultur der Anerkennung der Anderen in ihrem Anderssein« leiten lassen.[14]

Quelle: Johann Baptist Metz et al., Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf: Patmos, 1994, S. 51-64.


[1] J. B. Metz, Unterbrechungen, Gütersloh 1981, 13.

[2] K. J. Kuschel (Hrsg.), Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz im Gespräch, Stuttgart 1990, 23 f.

[3] J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, München 1980.

[4] J. B. Metz, Anamnetische Vernunft, in: A. Honneth u. a. (Hrsg.), Zwischenbetrachtun­gen, Frankfurt/M. 1989, 733 f.

[5] J. B. Metz, Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt, in: Stimmen der Zeit, 5, 1992, 24.

[6] Ebd.

[7] J. B. Metz, Im Angesicht der Juden. Christliche Theologie nach Auschwitz, in: Conci­lium, 20, 1984, 382-389.

[8] Metz (1992); M. Theunissen spricht in diesem Zusammenhang von »proleptischer Zukunft«. Dazu J. Habermas, Kommunikative Freiheit und negative Theologie, in: E. Angehrn u. a. (Hrsg.), Dialektischer Negativismus, Frankfurt/M. 1992, 15-34.

[9] M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/M. 1991, 368.

[10] J. B. Metz, Theologie im Angesicht und vor dem Ende der Moderne, in: Concilium, 20, 1984, 14-18.

[11] J. B. Metz, Im Aufbruch zu einer kulturell polyzentrischen Weltkirche, in: F. X. Kaufmann, J. B. Metz, Zukunftsfähigkeit, Freiburg 1987, 93-115.

[12] J. B. Metz, Perspektiven eines multikulturellen Christentums, in: Frankfurter Rundschau, Weihnachten 1992.

[13] J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1976; J. Habermas, Fakti­zität und Geltung, Frankfurt/M. 1992.

[14] Metz (1987), 118.

Hier der Text als pdf.

1 Kommentar

  1. Der Beitrag bringt mich zum Nachdenken! Wie wäre ein ständiger Austausch durch gegenseitige Kommentare oder einfach nur als FOLLOWER ? Zum Lesen empfohlen meine jüngsten Beiträge: „Hund des Herrn, Ketzer oder gar beides – der Thüringer Meister Eckhart“ (www.wordpress.com/post/josias.blog/1103), „Heinrich von Kleist und der Gothaische Circle“ – zum Wirken des Theologen J.F.C. Löffler in Frankfurt/Oder und Gotha (www.wordpress.com/post/josias.blog/911), „Adolf Sydow – Kirche und Politik“ (www.wordpress.com/post/josias.blog/364). Mit freundlichen Grüßen Dr. Dieter Weigert, Berlin

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