Die neue Zeit in Jesus Christus
Von Christoph Blumhardt
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Lukas 2,14.
Heute ist der sogenannte Christtag, der Tag, an welchem es angefangen hat, daß man von Christus redet. Es scheint eine große, große Verwirrung gegeben zu haben mit diesem Christus; die Geschichte der Menschheit lief sozusagen glatter vor Christus als nachher. Es ist gerade, wie wenn eine Bombe ins Menschengeschlecht hineingeflogen wäre, — es platzen alle Völker, es entwickelt sich nichts mehr ruhig. Was war das im römischen Reich eine fürchterliche Geschichte, — kein Wunder, daß der Staat alles aufgeboten hat, das Christentum auszurotten! Jesus ist der Verstörer des Fleisches und der Verstörer des behaglichen heidnischen Lebens, und die Griechen in ihrer Selbstgefälligkeit konnten es gar nicht begreifen, daß da auf einmal Leute sitzen, die bewundern nicht mehr die schönen Statuen, die machen einen Kopf hin, wenn sie sollen Opfer bringen, und wenn der Kaiser kommt, mögen sie nicht mehr so schrecklich „Hurra“ schreien, — sie haben einen andern Kaiser, sagen sie. So gab es Rumor, und man tat alles, um diese Christusidee auszurotten.
Es ist ihnen nicht gelungen in dieser Form, aber nach einigen Jahrhunderten wurde es doch zugrunde gerichtet. Mit den Worten: „In diesem Zeichen wirst du siegen“, war das Christentum totgeschlagen; seitdem zur Zeit Konstantins die militärischen Fahnen sich das Kreuz angeeignet haben, ist Jesus schwach geworden, denn nun herrscht die Machtvollkommenheit der Menschen. So kommt die ganze liebe Kirchengeschichte zustande, in welcher Jesus Christus fast Nebensache ist. Das war ein listiger Griff, der uns heute noch bluten macht, wenn wir ans Reich Gottes denken; denn jetzt geht es noch viel einfacher, — wenn heute ein Prophet aufsteht, so heißt es gleich: „Der kämpft gegen Christus!“ Wenn heute der Heiland selber kommt, so heißt es: „Der kämpft gegen Christus!“ Und gerade wie im römischen Staat, so wird Jahrhunderte lang Christus im Christentum verfolgt. Kein Wunder, daß es schließlich zur Revolution kam, denn genau genommen war das die Reformation. Gott ließ es dazu kommen, denn Christus lebte eben doch, man konnte ihn nicht ausrotten, und es gab immer wieder im Stillen Menschen, die sagten: „Christus ist geboren!“ Aber man stellte die Kirche bald wieder über Christus, und so kam es zur französischen Revolution. Man mag sagen, was man will, die französische Revolution ist doch ein Kind der Reformation; natürlich ist es eine fürchterliche Abart, aber doch in der Hand Gottes. Man brachte die eigentlichen Christusworte und -gedanken nicht durch, — was sollte da der liebe Gott machen? Er schenkt eine Idee von Christus der Revolution, und die nimmt den Prügel und bringt es durch: heute gilt Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, — wenigstens im Prinzip! Wir sind froh, daß diese Idee wenigstens da ist, und da ist sie, denn es greift uns an, wenn wir hören, daß in Afrika ein Sklave herumläuft oder wenn irgendein Stamm rücksichtslos unterdrückt wird. Aber nicht nur das freut uns, sondern daß diese Idee eine Macht hat, vor der Könige und Kaiser sich beugen müssen, und der nächste, beste Mensch hat ein Recht, und so hat es der Heiland eigentlich wollen. Es ist doch heute eine neue Zeit, eine Zeit, wie sie noch nie war, solange die Welt steht. Kein Apostel, kein Bischof, kein Mensch hätte zum Beispiel wagen dürfen, ein Bad Boll zu haben; noch vor 60 Jahren wäre ich mit meiner Familie ausgerottet worden, — heute dürfen wir von Jesus reden.
Es wird sich einmal darum handeln: wo gibt es Menschen, die Christus untertan sind, die dasjenige, was Gott in Christus ist, auch anerkennen können? Gott in Christus aber ist Freiheit unter uns Menschen. Wir dürfen einander nichts mehr tun, wir dürfen nicht mehr hassen, nicht mehr richten, nicht mehr quälen; wir müssen jedem sein Recht lassen. Wir dürfen nicht einmal innerlich uns höher dünken als ein anderer, — der gebildetste Mensch darf sich nicht mehr erhöhen über den niedrigsten; es heißt: Achte jeder den andern höher als sich selbst. Und Brüderlichkeit ist auch dabei; nicht nur, daß wir nicht hassen dürfen, wir müssen einen Satan unter Umständen auch umarmen können; wo wir von Natur aus nicht wollen, da, wo alles verloren scheint, mit Christus lieben — das heiße ich untertan sein. Und dann, wenn man in diesen Dingen untertan wird, wird man auch Gott untertan, und man wird göttlichen Geschlechts, oder das, was wir von göttlichem Geschlecht an uns haben, kommt zu seinem Recht. Dann gibt es erhabene Menschen, wirkliche Menschen, wie Christus ein wirklicher Mensch war, der Menschliches zu seinem Rechte zu bringen imstande war. Denn das sage ich euch: Menschliches muß zu seinem Rechte kommen, dann kommt Göttliches auch zu seinem Rechte. Werdet zuerst rechte Menschen, dann kann Gott etwas mit euch machen. Werde einmal ein rechter Mensch, ein ganzer Mensch, ein Mensch, der einfältig lebt, wie er ist, der aber auch wirklich göttlich sein will, und den Glauben nicht verliert, daß er etwas ist. Heute, am Geburtstage Jesu, möchte ich jedem Menschen sagen: Hab doch keine Angst, sei nur einmal Mensch mit Freuden, und wenn du Gott noch nicht verstehst und dein Leben noch nicht verstehst, weil es durchfurcht ist mit falschen Linien, wenn auch alle deine Verkümmerungen vor dir liegen als ein Rätsel, so versuche es, Mensch zu sein. Du hast doch etwas Menschliches — dem gib Recht, das Menschliche laß einmal ganz einfach wieder gelten, und wolle im Menschlichen glücklich sein, dann bin ich überzeugt, es wird der Jesus, von dem ich weiß, daß er lebt, auch dir, der du es vielleicht nicht glaubst, nahe treten und wird etwas aus dir machen können. Da kann dann das Zutrauen wieder sich aufbauen zwischen Christus und Menschen, und Gott und Menschen. Wenn nur das verstanden würde, daß wir wieder ganz einfach den lieben Heiland sehen würden, und ganz einfach denken würden: Der hilft uns! der ist uns die Garantie Gottes, daß uns geholfen wird, und nicht nur uns, sondern allen, denn in ihm, der ein Herr ist der Toten und der Lebendigen, muß ein großes Heil werden.
So möchte ich, daß wir heute denken lernen, dann verstehen wir das Wort: „Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.“ Dann wird es endlich, endlich wahr: „Friede auf Erden.“ Denn wo ist Friede? Wir müssen es uns ganz einfach gestehen: es ist bis jetzt nicht wahr geworden, was damals gesungen wurde. Aber wir dürfen jetzt wieder eine Jesuszeit hoffen, wo er wieder lebt, und da heißt es dann: „Ich war tot, und siehe, ich lebe!“ Jetzt ist Christus lebendig, und das gibt eine neue Zeit. Deswegen hat auch mein Vater schon auf eine neue Zeit gewartet, ganz neu, aber natürlich nicht ohne Zusammenhang mit der alten; eine solche Jesuszeit, daß man wirklich weiß: das ist Gott, — jetzt weiß ich es. Vorher hat man es überhaupt nicht gewußt; man hat Ahnungen gehabt, aber man hat es nicht verstanden.
Eine derartige Zeit können wir hoffen, sie muß sein und wird sein, und dessen freuen wir uns, und damit wollen wir heute den Vater ehren. Das muß unsere Lust und unser Trost und unsere Kraft sein. An Jesus hangen wir die allerweitesten Hoffnungen für uns und für die ganze Welt, und in Jesus machen wir unsern Geist stark wider alles Böse; wir lassen keinem Bösen auch nur nagelsgroß Recht. Wundert euch nicht, wenn ich keinen Teufel und keine Hölle und keine Verdammnis gelten lasse, — mir wühlt es das ganze Herz auf um Jesu willen! Diesen Zorn kann freilich niemand verstehen, der nicht selbst ganz in Jesu ist, den Zorn, der einen überkommt, wenn man will dem Jesus in irgend etwas sein Recht nehmen. Nein! der Jesus hat an alle sein Recht, das Recht des Liebens und des Erbarmens Gottes; das ist das Christusrecht an alle Menschen und jede Kreatur, sogar an Tiere und an Baume. Die Erde soll ja jauchzen, und die Bäume und die Graser sollen jauchzen über dem Christus, und dem darf nicht ein Haar breit weggenommen werden; kein Mensch, keine Sünde, kein Tod, kein Teufel, kein Satan darf dem Christus auch nur ein Fädelein in dieser Welt wegnehmen; alles ist des Christus geworden, und eben damit auch der Liebe des Vaters im Himmel.
O, wollte Gott, daß diese Stimme den Verlorenen zukäme, denn es sind unzählige, die es nicht mehr glauben, daß sie von Gott geliebt sind. Wollte man sich darüber besinnen, der Jammer würde einem das Herz brechen, wie er es mir Tag für Tag zerbricht, denn unzählige in der sichtbaren und in der unsichtbaren Welt glauben es nicht mehr, daß Gott die Liebe ist, weil man ihnen Christus zur Verdammnis gemacht hat. Und der größte Schrei aus einem Menschenherzen heraus muß der sein: „O Vater, Vater, laß dieses falsche Christentum ausgerottet werden, damit die Stimme deines Sohnes gehört wird, denn vor lauter Christentum hört man keinen Heiland mehr; laß die Stimme deines Sohnes wieder gehört werden!“ — O, betet, daß seine Stimme wieder gehört wird; betet, daß dieser Stimme wieder geglaubt wird, daß der Liebe geglaubt wird und nicht dem Tod, dem Frieden und nicht der Hölle, daß dem Guten geglaubt wird, weil Jesus lebt. Keine Hölle, keine Sünde, kein Tod gilt mehr, weil Jesus lebt! Das muß an seinem Geburtstag gesagt werden, und niemand wird zu Schanden, der seinen Jesus hoch ehrt und groß macht. Und ich will ihn so groß machen, daß jeder Mensch ins Mausloch schlüpft, der ihn klein macht, denn er ist der Herr, der König, der im Himmel thront und auf Erden lebt; er ist der Herr, der da ist, der da war und sein wird zur Ehre Gottes des Vaters.
Morgenandacht am 25. Dezember 1896 in Bad Boll.
Quelle: Christoph Blumhardt, Ihr Menschen seid Gottes! Predigten und Andachten aus den Jahren 1896 bis 1900, hrsg. v. R. Lejeune, Zürich-Leipzig, Rotapfel-Verlag, 1928, S. 13-18.