Die Gebote Gottes, soweit sie zur „zweiten Tafel“ gehören, welche die Liebe des Nächsten spezifiziert, stehen durchweg in der Form des „Du sollst nicht“. Nur als Verbote, nur in der Absteckung von Grenzen dessen, was keinesfalls mit der Liebe zum Nächsten vereinbar ist, können sie Gesetzeskleid anziehen; ihr Positives, ihr „Du sollst“ geht einzig in die Form des einen und allgemeinen Gebots der Liebe ein. Die ins Gewand positiver Gesetze gekleideten Gebote sind überwiegend Gesetze des Kults, der Gebärdensprache der Liebe zu Gott, Ausführungen also der „ersten Tafel“. Die Welttat also, und grade die höchste Tat am meisten, ist ganz freie unberechenbare Liebe.
Quelle: Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 4. A., 1993, S. 241.