Jörg Lauster, „Der Traum einer humanen Religion“ und Martin Luthers Rede auf dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521: „Luther hat sich auch auf die Vernunft berufen, das wird leider sehr oft vergessen.“ – Aber stimmt das?

Warum Jörg Lausters Traum einer humanen Religion wenig mit Luthers Rede auf dem Reichstag in Worms gemein hat

Da nimmt es Jörg Lauster, Theologieprofessor aus München, in Publik Forum mit Martin Luthers Worten nicht so genau, wenn er – in gut liberalprotestantischer Weise – den Reformator bei seiner Rede auf dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521 als „religiöses Genie“ apostrophiert und darin Welthistorisches zu erkennen glaubt:

Es wird der Traum einer Religion sichtbar. Einer Religion, deren Angehörige sich nicht selbst maßlos überschätzen, sondern sich den Ursprüngen und Traditionen ihrer Herkunft verpflichtet wissen, einer Religion, die aus Respekt vor ihrer Herkunft sich immer wieder neu auf die Kraft ihres Ursprungs besinnt, einer Religion, die ihrer Zeit mit der Autorität der Vernunft und nicht mit der Autorität der Macht Rede und Antwort steht, einer Religion, die schließlich das Private und Innere aller religiösen Überzeugungen gleichermaßen zähmt und schützt. […] Luther hat sich auch auf die Vernunft berufen, das wird leider sehr oft vergessen. Die Vernunft ist der einzige, sozial verlässliche Vergewisserungsmodus, über den Menschen verfügen, wenn sie sich gegenseitig Rechenschaft über die Gründe ihrer Weltauffassungen und ihr Handeln geben wollen. Vernunft ist Fairness, weil sie die Karten auf den Tisch legt, Vernunft ist Optimismus, weil ihr Gebrauch prinzipiell davon ausgeht, dass Menschen ihr Handeln überdenken und im Gespräch mit anderen neu ausrichten können. Das gilt auch für die Religion.“

Dass Luther sich in Worm auf die Vernunft als letztgültige Urteilsinstanz berufen habe, trifft nicht zu. Seine Widerrufsverweigerung begründet Martin Luther mit folgenden Worten:

„Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht, da es feststeht, daß sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte bezwungen. Und solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. [Nisi convictus fuero testimoniis scripturarum aut ratione evidente (nam neque Papae neque conciliis solis credo, cum constet eos et erasse sepius et sibiipsis contradixisse), victus sum scripturis a me adductis et capta conscientia in verbis dei, revocare neque possum nec volo quiequam, cum contra conscientiam agere neque tutum neque integrum sit.] Gott helfe mir. Amen.“ (WA 7, S. 838,4-8, Übersetzung Kurt-Victor Selge. Vgl. Luthers Vorrede zur Assertio omnium articulorum, WA 7, 98,27-99,22. Zur Wendung testimoniis scripturarum aut ratione evidente siehe Augustinus, Epistolae 82,1,3 bzw. Corpus iuris canonici: Decreti prima pars, dist. 9 can. 5)

Luther beruft sich in Worms allein auf die Heilige Schrift bzw. Gottes Wort. „ratione evidente“ (durch einen klaren Grund) bezieht sich auf die Aussagenlogik, um Gottes Wort in Bezug auf die Heilige Schrift widerspruchsfrei auf eine Kohärenz-Wahrheit hin geltend zu machen. Im Kontext seiner Rede ist die ratio (Pluralwort rationes!) keinesfalls mit einer sich selbst begründenden, monadische Vernunft als letztgültigem Urteilsvermögen gleichzusetzen.

Schon mit seiner theologia crucis, die Luther in der Heidelberger Disputation von 1518 geltend gemacht hatte, wendet er sich gegen einen eigenständigen Geltungsanspruch der Vernunft bzw. der Philosophie extra Christum:

„Denn so, wie die geschlechtliche Begehrlichkeit eine verdorbene Begierde der Lust ist, so ist die Philosophie eine verdorbene Liebe zum Wissen, wenn nicht die Gnade Christi dabei ist. Nicht dass die Philosophie schlecht wäre oder die Lust, sondern weil das Verlangen beider nur bei Christen richtig sein kann. Ja, alle Kräfte des Leibes und der Seele sind so beschaffen, dass sie ihren Gegenstand (das ist die gute Schöpfung Gottes) auf verdorbene Weise begehren. Um so mehr begehrt der Verstand seinen Gegenstand (das ist das Wahre) auf verdorbene Weise, nämlich zu seinem Ruhm, oder er verwirft ihn aus Hass gegen einen anderen usw. Deswegen hat Johannes nicht das Auge, das Fleisch, das Leben verworfen, sondern die Begehrlichkeit des Fleisches, der Augen und den Hochmut des Lebens. Deshalb ist Philosophieren außerhalb von Christus dasselbe wie Unzucht treiben außerhalb der Ehe; denn niemals gebraucht der Mensch die Schöpfung [in rechter Weise], sondern er gibt sich an sie hin. [Quia sicut libido est perversa cupiditas voluptatis. ita philosophia est perversus amor sciendi, nisi assit gratia christi non quod philosophia sit mala nec voluptas, sed quod cupido utriusque non potest esse recta nisi christianis. Imo omnes vires corporis, et animae tales sunt, ut suum obiectum (id est bonam creaturam dei) perverse cupiant. multo magis intellectus, suum obiectum (id est verum) cupit perverse scilicet in gloriam suam, vel in odium alterius fastidit etc. Ideo johannes non reprobavit oculum carnem, vitam, sed concupiscentiam carnis, oculorum et superbiam vitae. Ideo philosophari extra christum, idem est quod extra matrimonium fornicari, nusquam enim utitur sed fruitur homo creatura.]“ (Martin Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Band 1: Der Mensch vor Gott Martin Luther, Studienausgabe, Bd. 1, Leipzig 2006, S. 62f, Übersetzung Wilfried Härle)

Wo immer Luther auf die ratio bzw. die monadische Vernunft mit einem sich selbst begründenden Geltungsanspruch zu sprechen kommt, ist sein Urteil grundsätzlich negativ, so auch in seiner letzten Predigt in Wittenberg vom 17. Januar 1546 über Römer 12,3 (WA 51, 123-134):

„Wie ich aber von der Sünde der sinnlichen Begierde rede, was alle verstehen, so muss ich auch von der Vernunft reden, die mich in geistlicher Hinsicht für Gott blendet und schändet, wie die sinnliche Lust meinen Leib, so dass sie ein viel gräulicheres Hurenübel und eine viel schändlichere Brunst in sich birgt als ein unzüchtiges Weib. Der Abgöttische läuft dort einem Abgott nach, »unter jedem Baum und grünen Holz«, wie die Propheten sagen, so wie hier ein Hurentreiber einer Hure nachläuft. Die Schrift heißt die Abgötterei »Hurerei« und meint damit die Heiligkeit und Weisheit eben dieser Vernunft. Wie haben sich die Propheten herumgeschlagen mit der Abgötterei, der schönen Hure! Die ist ein Wild, das sich nicht leicht fangen lässt. Man mag die Torheit der Vernunft verzeihen, von der sie meint, sie sei die höchste Gerechtigkeit und Weisheit; man mag sie verhüllen und einschränken, – trotzdem kann sie es nicht lassen, weise sein zu wollen in den Sachen Gottes. Da müssen wir ihr wehren wie die Propheten, die gesagt habend ›Nicht auf den Bergen noch in den Tälern noch unter den Bäumen dienet Gott, sondern in Jerusalem, wo der von Gott zu seinem Dienst bestimmte Ort, wo sein Wort ist.‹ Die Vernunft dagegen sagt: ›Ich bin zwar berufen, beschnitten und mir ist befohlen, dass ich nach Jerusalem gehen soll; aber hier ist eine schöne Wiese und dort ein herrlicher Berg: wenn ich da einen Gottesdienst einrichte, das wird Gott und allen Engeln im Himmel gefallen. Sollte Gott ein solcher Gott sein, der sich nur an Jerusalem anbinden lässt?‹ Diese Weisheit der Vernunft heißen die Propheten Hurerei; ebenso Paulus.“
(Calwer Lutherausgabe, hrsg. v. Wolfgang Metzger, Bd. 6: Predigten über den Weg der Kirche, Stuttgart 1996, S. 37f)

Hier der Text als pdf.


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