Hannah Arendt, Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen (Vita activa oder vom tätigen Leben): „Weil das Verzeihen ein Handeln eigener und eigenständiger Art ist, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber von ihm nicht bedingt ist, kann es von den Folgen dieser Vergangenheit sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird. Die Freiheit, welche die Lehre Jesu in dem Vergebet-einander ausspricht, ist negativ die Befreiung von Rache.“

Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen

Von Hannah Arendt

Wir sahen, wie der Mensch qua Animal laborans den Kreislauf des Lebens­prozesses, der ihn in die immer wiederkehrende Notwendigkeit von Arbeit und Verzehr zwingt, nur dadurch durchbrechen kann, daß er eine andere, ihm eigene Fähigkeit mobilisiert, die Fähigkeit herzu­stellen, zu fabrizieren und zu produzieren, um so als Homo faber und Werkzeugmacher nicht nur die Mühe und Plage des Arbeitens zu erleichtern, sondern auch eine Welt zu errichten, deren Dauerhaftigkeit gegen den verzehrenden Kreislauf des Lebens gesichert ist und ihm widersteht. Das Heil des Lebens, das durch Arbeit sich erhält, ist Weltlichkeit, die ihrerseits sich im Herstellen realisiert. Wir sahen weiter, wie der Mensch qua Homo faber dem Fluch der Sinn­losigkeit, der „Entwertung aller Werte“, der Unmöglichkeit, gültige Maß­stäbe in einer Tätigkeit zu finden, die wesentlich durch die Zweck-Mittel-Kategorie bestimmt ist, nur da­durch entrinnen kann, daß er die in sich zu­sammenhängenden Fähigkeiten des Handelns und Sprechens mobilisiert, die so selbstverständlich sinnvolle Geschichten erzeugen, wie das Her­stellen Ge­brauchsgegenstände produziert. Läge dies nicht außerhalb des Rahmens dieser Be­trachtung, könnte man diesen Beispielen noch die Verlegenheit hinzufugen, in die das Denken gerät und aus der es sich so wenig selbst herausdenken kann, wie das Arbeiten sich selbst aus dem Kreislauf befreien kann, in den es seiner Natur nach gebunden ist. In allen diesen Fällen, in denen wir den Menschen nach Maßgabe nur einer seiner Fähigkeiten bestimmen, als ein arbeitendes oder herstellendes oder denkendes Lebewesen, kommt ihm sein Heil gleichsam von außen, nämlich von einer ganz und gar anders gearteten Fähigkeit, als es die war, die ihn in seine Verlegenheit brachte. Vom Stand­punkt des Animal laborans ist es wie ein Wunder, daß es als Mensch auch und zugleich ein Wesen ist, das eine Welt kennt und bewohnt; vom Stand­punkt von Homo faber ist es wie ein Wunder, wie die Offenbarung eines Göttlichen, daß es in dieser von ihm hergestellten Welt so etwas wie Sinn geben soll.

Ganz anders liegt der Fall des Handelns und der ihm eigentümlichen Ver­legenheit. In diesem einzigen Fall erwächst das Heilmittel gegen die Un­widerruflichkeit und Unabsehbarkeit der von ihm begonnenen Prozesse nicht aus einer anderen und potentiell höheren Fähigkeit, son­dern aus den Mög­lichkeiten des Handelns selbst. Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit – dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit – und damit gegen die chaotische Ungewißheit alles Zukünf­tigen – liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten. Diese beiden Fähigkei­ten gehören zusammen, insofern die eine sich auf die Vergangenheit bezieht und ein Gesche­henes rückgängig macht, dessen „Sünde“ sonst, dem Schwert des Damokles gleich, über jeder neuen Generation hängen und sie schließlich unter sich begraben müßte; während die andere ein Bevorstehendes wie einen Wegweiser in die Zukunft aufrichtet, in der ohne die bindenden Versprechen, welche wie Inseln der Sicherheit von den Menschen in das drohende Meer des Ungewissen geworfen werden, noch nicht einmal irgendeine Kontinuität menschlicher Bezie­hungen möglich wäre, von Beständigkeit und Treue ganz zu schweigen.

Könnten wir einander nicht vergeben, d. h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wie­der entbinden, so beschränkte sich unsere Fähigkeit zu handeln gewissermaßen auf eine einzi­ge Tat, deren Folgen uns bis an unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würden, im Guten wie im Bösen; gerade im Handeln wären wir das Opfer unserer selbst, als seien wir der Zauberlehrling, der das erlösende Wort: Besen, Besen, sei’s gewesen, nicht fin­det. Ohne uns durch Versprechen für eine ungewisse Zukunft zu binden und auf sie einzurich­ten, wären wir niemals imstande, die eigene Identität durchzuhalten; wir wären hilflos der Dunkelheit des menschlichen Herzens, seinen Zweideutigkeiten und Widersprüchen, ausgelie­fert, verirrt in einem Labyrinth einsamer Stimmungen, aus dem wir nur erlöst werden können durch den Ruf der Mitwelt, die dadurch, daß sie uns auf die Versprechen festlegt, die wir gegeben haben und nun halten sollen, in unserer Identität bestätigt, bzw. diese Identität über­haupt erst konstituiert. Beide Fähigkeiten können sich somit überhaupt nur unter der Bedin­gung der Pluralität betäti­gen, der Anwesenheit von Anderen, die mit-sind und mit-handeln. Denn nie­mand kann sich selbst verzeihen, und niemand kann sich durch ein Verspre­chen gebunden fühlen, das er nur sich selbst gegeben hat. Versprechen, die ich mir selbst gebe, und ein Verzeihen, das ich mir selbst gewähre, sind unver­bindlich wie Gebärden vor dem Spiegel.

Die Fähigkeiten zu verzeihen und zu versprechen sind in dem Vermögen des Handelns ver­wurzelt; sie sind die Modi, durch die der Handelnde von einer Vergangenheit, die ihn auf im­mer festlegen will, befreit wird und sich einer Zukunft, deren Unabsehbarkeit bedroht, halb­wegs versichern kann. Als solche sind diese Fähigkeiten geeignet, in der Politik bestimmte Prinzipien zu konstituieren, die sich von den „moralischen“ Maßstäben, welche die Philoso­phie seit Plato der Politik vorzuschreiben versucht, grundsätzlich unterscheiden. Diese morali­schen Maßstäbe, denen der Politiker Realitäts­blindheit vorzuwerfen pflegt, werden wie alle Maßstäbe von außen an den Bereich des Politischen angelegt, und das Außen, dem sie ent­nommen sind, ist seit Plato der Bereich des Innerseelischen, bzw. des Umgangs mit sich selbst, der seinerseits durch Selbst-Beherrschung charakterisiert ist; wer sich nicht selbst beherrschen kann, darf von anderen beherrscht werden, deren Herrschaftslegitimation darin liegt, daß sie bereits im Umgang mit sich selbst Herrschaft und Gehorsam etabliert haben. So kann Plato den gesamten öffentlichen Bereich der Vielen im Bilde der ins Große projizierten Seelen­verfassung des Einen sehen und in ihm eine Ordnung etablieren, welche scheinbar die „Natur“ des Menschen, seine Dreigeteiltheit in Geist-Seele-Körper, imitiert; die Realitäts­blindheit dieser Utopie liegt nicht nur darin, daß hier aus den Vielen ein Einer konstruiert wird – dies ist das eigentlich tyrannisch-gewalttätige Element der platonischen Politik –, sondern vor allem darin, daß das Maßgebende selbst einer Erfahrung aus dem Umgang mit sich selbst, und nicht mit anderen, entstammt. Dagegen beruhen die leiten­den Prinzipien, die sich aus dem Doppelvermögen zu verzeihen und zu ver­sprechen ableiten lassen, auf Erfahrungen, die im Rahmen des Umgangs mit sich selbst überhaupt nicht auf tauchen, in ihm gar nicht vorkom­men. Will man in der Parallele mit der von außen angelegten, politischen Moral platonischer Prägung bleiben, so könnte man sagen: so wie die Art und Weise der Selbst-Beherrschung die Herrschaft über Andere rechtfertigt und bestimmt, wird die Art und Weise, wie jemand er­fährt, daß Verzeihungen gewährt und Versprechen gehalten werden, darüber entscheiden, wie weit er imstande ist, sich selbst zu verzeihen oder ein Versprechen zu halten, das nur ihn selbst betrifft. Nur wem bereits verziehen ist, kann sich selbst ver­zeihen; nur wem Verspre­chen gehalten werden, kann sich selbst etwas ver­sprechen und es halten.

Da die vom Handeln selbst erzeugten Gegenmittel gegen die ungeheuer widerstandskräftige Zähigkeit seiner eigenen Prozesse nur dort ins Spiel kommen, wo die Pluralität einer Mitwelt das Medium des Handelns ist, ist es so außerordentlich gefährlich, dieses Vermögen außer­halb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten zu betätigen. Die moderne Naturwissen­schaft und Technik, für welche Naturprozesse nicht mehr Objekt der Beobachtung oder ein Kraft- und Material-Reservoir oder Gegenstand der Nachahmung sind, sondern die tatsächlich in den Haushalt der Natur hineinhandeln, schei­nen damit Unwiderruflichkeit und Unabseh­barkeit in einen Bereich getragen zu haben, in dem es kein Mittel gibt, Getanes und Gesche­henes rückgängig zu machen. Ganz ähnlich verhält es sich mutatis mutandis, wenn man der herstellenden Fähigkeit und der ihr eigenen Zweck-Mittel-Kategorie ge­stattet, in den Bereich des Handelns einzudringen; auch in diesem Fall hat man sich der spezifischen, dem Handeln eigentümlichen Mittel für Wieder­gutmachen beraubt und sieht sich nun gezwungen, nicht nur mit den für alles Herstellen notwendigen Gewaltmitteln zu tun, sondern auch gewalttätig un­getan zu machen, also mit den gleichen Mitteln der Zerstörung, deren man sich bedient, wenn ein herzustellender Gegenstand mißraten ist. Gerade in solchen Versuchen und ihren verhäng­nisvollen Folgen zeigt sich, wie unge­heuer menschliche Macht ist, deren Quelle in dem Ver­mögen des Handelns liegt, und die ohne die dem Handeln innewohnenden Heilmittel unwei­gerlich anfängt, nicht einmal so sehr den Menschen zu überwältigen, wie die Be­dingungen zu zerstören, unter denen diesem mächtigsten aller irdischen Wesen das Leben überhaupt gege­ben ist.

Was das Verzeihen innerhalb des Bereiches menschlicher Angelegenheiten vermag, hat wohl Jesus von Nazareth zuerst gesehen und entdeckt. Daß diese Entdeckung in einem religiösen Zusammenhang gemacht und ausgesprochen ist, ist noch kein Grund, sie nicht auch in einem durchaus diesseitigen Sinne so ernst zu nehmen, wie sie es verdient. Die abendländische Tradition poli­tischer Philosophie hat sich – aus Gründen, die hier nicht erörtert werden können – immer außerordentlich selektiv verhalten und eine große Zahl echter politischer Erfahrungen ausgeschlossen, d. h. begrifflich ungeklärt ge­lassen, unter denen sich nicht wenige befinden, die so elementarer Natur sind, daß man den politischen Bereich schwerlich auch nur im Rohen abstecken kann, ohne ihnen Rechnung zu tragen. Zu ihnen gehören zwei­fellos gewisse Aspekte der Predigt Jesu von Nazareth, nämlich Lehren, die nicht primär auf die christliche Heilsbotschaft bezogen sind, sondern vielmehr den Er­fahrungen entsprachen, die die Urgemeinde der Jünger in ihrem Konflikt mit den öffentlichen Behörden in Israel gemacht hatte, und die als solche keineswegs ausschließlich religiöser Natur sind. Außerhalb der Evangelien jedenfalls finden wir Spuren einer Einsicht in die Relevanz des Vergebens für den Schaden, den alles Handeln unweigerlich mitanrichtet, nur noch bei den Römern, in dem Prinzip des parcere subiectis, der Schonung der Be­siegten — das den Griechen ganz unbe­kannt war – und vielleicht dem Begna­digungsrecht des alten römischen Königtums, das noch heute im Falle der Todesstrafe zu den Vorrechten des Staatsoberhauptes aller Rechtsstaaten ge­hört.

Entscheidend in unserm Zusammenhang ist, daß Jesus gegen die „Schrift­gelehrten und Pha­ri­säer“ die Ansicht vertritt, daß nicht nur Gott die Macht habe, Sünden zu vergeben, ja daß die­se Fähigkeit unter den Menschen noch nicht einmal auf die göttliche Barmherzigkeit zurück­zuführen sei – als vergäben nicht die Menschen einander, sondern Gott den Menschen, indem er sich eines menschlichen Mediums bedient -, sondern umgekehrt von den Menschen in ihrem Miteinander mobilisiert werden muß, damit dann auch Gott ihnen verzeihen könne. Jesus spricht sich in dieser Hinsicht mit aller Schärfe und Deutlichkeit aus. Nach dem Evan­gelium soll der Mensch nicht vergeben, weil Gott vergibt und er gleicherweise handeln müs­se, sondern umgekehrt: Gott vergibt „uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldi­gern“. Zweifellos bildet die Einsicht „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ den eigentlichen Grund dafür, daß Menschen einander vergeben sollen; aber gerade darum gilt auch diese Pflicht des Vergebens nicht für das Böse, von dem der Mensch im Vorhinein weiß, und sie bezieht sich keineswegs auf den Verbrecher. Dies ergibt sich bereits aus dem Vers: „Und wenn er sieben­mal des Tages an dir sündigen würde und siebenmal des Tages wieder käme und spräche: es reuet mich, so sollst du ihm vergeben.“ (Lk 17,3f) Daß jemand das Böse direkt will, ist selten, es geschieht nicht siebenmal des Tages; Ver­brechen sind nicht häufiger als tätige Güte. Was sie betrifft, so meint Jesus, daß sie in der Tat nur von Gott vergeben oder gerichtet werden können am Tage eines Jüngsten Gerichts, das aber im irdischen Leben keine Rolle spielt, und für das überhaupt nicht Verzeihung oder Erbarmung charakteristisch sind, sondern daß einem jeglichen „vergolten“ werden wird nach seinen Werken (apodoũnai). Aber Verfehlungen sind alltägliche Vorkommnisse, die sich aus der Natur des Handelns selbst ergeben, das ständig neue Bezüge in ein schon bestehendes Bezugsgewebe schlägt; sie bedür­fen der Verzeihung, des Ver­gebens und Vergessens, denn das menschliche Leben könnte gar nicht weiter­gehen, wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun. Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Entlasten und Entbinden können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei bleiben, und nur in dem Maße, in dem sie gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instand gesetzt, ein so ungeheueres und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens einigermaßen zu handhaben.

Was die Verfehlungen und somit das vergangene Gehandelte betrifft, so ist der natürliche Gegensatz der Verzeihung die Rache, welche in der Form der Re-aktion handelt und daher an die ursprüngliche, verfehlende Handlung gebunden bleibt, um im Verlauf des eigenen reagie­renden Tuns die Ketten­reaktion, die ohnehin jedem Handeln potentiell innewohnt, ausdrück­lich virulent zu machen und in eine Zukunft zu treiben, in der alle Beteiligten, gleichsam an die Kette einer einzigen Tat gelegt, nur noch re-agieren, aber nicht mehr agieren können. Im Unterschied zur Rache, die sich als eine natürlich-automatische Reaktion gegen Verfehlungen jeder Art einstellt, und die auf Grund der Unwiderruflichkeit der Prozesse des Handelns bere­chenbar ist, stellt der Akt des Verzeihens in seiner Weise einen neuen Anfang dar und bleibt als solcher unberechenbar. Verzeihen ist die einzige Reaktion, auf die man nicht gefaßt sein kann, die unerwartet ist, und die daher, wiewohl ein Reagieren, selber ein dem ursprünglichen Handeln ebenbürtiges Tun ist. Weil das Verzeihen ein Handeln eigener und eigenständiger Art ist, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber von ihm nicht bedingt ist, kann es von den Folgen dieser Vergangenheit sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird. Die Freiheit, welche die Lehre Jesu in dem Vergebet-einander ausspricht, ist negativ die Befreiung von Rache, die, wo sie das Handeln wirklich bestimmt, die Handelnden an den Automatismus eines einzigen, einmal losgelassenen Handelnsprozesses bindet, der von sich aus niemals zu einem Ende zu kommen braucht.

Wenn Rache und Verzeihen im Verhältnis eines Gegensatzes zueinander stehen, so stellt die einzige echte Alternative des Vergebens die Strafe dar, insofern ihnen beiden eigentümlich ist, daß sie etwas zu beenden suchen, was ohne diesen Eingriff endlos weitergehen würde. Es gehört zu den elementaren Gegebenheiten im Bereich der menschlichen Angelegenheiten, daß wir außer­stande sind zu verzeihen, wo uns nicht die Wahl gelassen ist, uns auch anders zu verhalten und gegebenenfalls zu bestrafen, und daß umgekehrt diejenigen Vergehen, die sich als unbestrafbar herausstellen, gemeinhin auch diejenigen sind, die wir außerstande sind zu vergeben. Bei den letzteren handelt es sich um das, was wir seit Kant „das radikal Böse“ nennen, ohne doch recht zu wissen, was das ist, obwohl doch gerade wir Gelegenheit genug gehabt haben, in diesen Dingen einige Erfahrung zu sammeln. Auf jeden Fall können wir das „radikal Böse“ vielleicht daran erkennen, daß wir es weder bestrafen noch vergeben können, was nichts anderes heißt, als daß es den Bereich menschlicher Angelegenheiten übersteigt und sich den Macht­möglichkeiten des Menschen entzieht. Daß wir dem Bösen nur mit Gewalt begegnen können, besagt nicht, daß wer Böses erduldet und sich wehrt, nun auch böse wird, aber es heißt wohl, daß das Böse den zwischenmenschlichen Machtbereich zerstört, wo immer es in Erscheinung tritt. Böse Taten sind buchstäblich Un-taten; sie machen alles weitere Tun unmöglich, und man kann, was den Täter der Untat betrifft, nur mit Jesu sagen: „Es wäre ihm nützer, daß man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer“, bzw. es wäre besser, er wäre nie geboren – zweifellos das Furchtbarste, was man von einem Men­schen sagen kann.

Handeln, das an Untaten versagt, dem die Untat gleichsam den Boden unter den Füßen weg­zieht, bewegt sich im Geflecht der Taten, und Ver­fehlungen sind auch Taten in dem gleichen Sinne, wie mißratene Gegen­stände immer noch Produkte des Herstellens sind. Daß aber das Vergeben eine dem Handeln selbst innewohnende Fähigkeit zur Korrektur des Mißratenen ist, wie das Zerstören ein dem Herstellen inhärentes Korrektiv ist, zeigt sich vielleicht am deut­lichsten in der merkwürdigen Tatsache, daß das Verzeihen, also das Rückgängigmachen eines Gehandelten, die gleichen Person-enthüllenden und Bezug-stiftenden Charaktere aufweist wie das Han­deln selbst. Das Vergeben und die Beziehung, die der Akt des Verzeihens etabliert, sind stets eminent persönlicher Art, was keineswegs heißt, daß sie notwendigerweise indivi­dueller oder privater Natur sind. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß in der Verzeihung zwar eine Schuld vergeben wird, diese Schuld aber sozusagen nicht im Mittelpunkt der Handlung steht; in ihrem Mittelpunkt steht der Schuldige selbst, um dessentwillen der Verzeihende ver­gibt. Das Vergeben bezieht sich nur auf die Person und niemals auf die Sache, und es kann daher auch objektiv ungerecht sein und sagen: quod licet Iovi non licet bovi. Denn wenn ein Unrecht verziehen wird, so wird demjenigen verziehen, der es begangen hat, was natürlich nicht das Geringste daran ändert, daß das Unrecht unrecht war. Sofern die Redensart von dem: Alles verstehen heißt alles verzeihen, überhaupt einen Sinn haben soll, so bezieht sich das Verstehen – das aber keineswegs notwendigerweise ins Spiel zu kommen braucht – nicht auf das Getane, sondern auf die Person, die getan hat.

Jesus bringt dies personale Element in Zusammenhang mit der Liebe in der Geschichte von der Sünderin: „Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebet; welchem aber wenig vergeben wird, der liebet wenig“; und für die Meinung, daß nur die Liebe die Macht hat zu vergeben, spricht immerhin, daß die Liebe so ausschließlich auf das Wer-jemand-ist sich rich­tet, daß sie geneigt sein wird, Vieles und vielleicht Alles zu verzeihen. Der Grund für diese Vergebensbereitschaft ist nicht, daß die Liebe alles ver­steht und daß sich für sie der Unter­schied zwischen Recht und Unrecht verwischt, sondern daß ihr – in den äußerst seltenen Fällen, wo sie sich wirklich ereignet – eine in der Tat so unvergleichliche Macht der Selbst­enthüllung und ein so unvergleichlicher Blick für das Wer der Person in die­ser Enthüllung eignet, daß sie mit Blindheit geschlagen ist in Bezug auf alles, was die geliebte Person an Vorzügen, Talenten und Mängeln besitzen oder an Leistungen und Versagen aufzuweisen haben mag. Das heißt aber, daß der Scharfblick der Liebe gegen all die Aspekte und Qualitä­ten ab­blendet, denen wir unsere Stellung und unseren Stand in der Welt ver­danken, daß sie das, was sonst nur mitgesehen wird, in einer aus allen welt­lichen Bezügen herausgelösten Reinheit erblickt. In der Leidenschaft, mit der die Liebe nur das Wer des Anderen ergreift, geht der weltliche Zwischenraum, durch den wir mit anderen verbunden und zugleich von ihnen getrennt sind, gleichsam in Flammen auf. Was die Liebenden von der Mitwelt trennt, ist, daß sie weltlos sind, daß die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist. Solange die Liebe währt, ist das einzige Zwischen, durch das die Liebenden, wie die Anderen durch den Zwischenraum der Welt, miteinander verbunden und zugleich voneinander getrennt werden können, das Kind, der Liebe ureigenstes Erzeugnis. In dem Kind, das zwischen ihnen entstand und ihnen nun gemeinsam ist, meldet sich bereits wieder die Welt; es zeigt an, daß sie in die bestehende Welt ein neues Weltliches einzuschalten im Begriff stehen. Es ist, als kehrten die Liebenden durch das Kind wieder in die Welt zurück, aus der ihre Liebe sie gleichsam vertrie­ben hatte. Aber diese Rückkehr in die Welt, obzwar sie das einzig mögliche Ende, jedenfalls das einzig mögliche Happy-End einer Liebesgeschichte bildet, ist in gewissem Sinne auch das Ende der Liebe, die entweder die Betroffenen aufs neue ergreifen oder sich in eine der vielen möglichen Formen der Zusammengehörigkeit umwandeln muß. Die Liebe ist ihrem Wesen nach nicht nur weltlos, sondern sogar welt­zerstörend, und daher nicht nur apolitisch, sondern sogar antipolitisch – ver­mutlich die mächtigste aller antipolitischen Kräfte.

Hieraus folgt, daß die Fähigkeit des Vergebens ganz außerhalb unserer Betrachtungen zu blei­ben hätte, wenn das Christentum recht hätte, daß nur Liebe vergeben kann, und zwar weil nur Liebe so ausschließlich auf das Wer-jemand-ist gerichtet ist, daß sie das Um-seinet-willen des Verzeihens gar nicht mehr ausdrücklich zu realisieren braucht, sondern es gleichsam ständig in dem Lieben selbst wie ein Selbstverständliches mitvollzieht. In­dessen entspricht der Liebe, die nur in ihrem eigenen, eng umschriebenen Reich die Herrin ist, in dem weiteren Bereich menschlicher Angelegenheiten ein personaler Bezug, den wir vielleicht am besten mit dem Wort ‚Respekt‘ umschreiben können. Der Respekt ist wie die Aristotelische philía polikḗ eine Art „politischer Freundschaft“, die der Nähe und der Intimität nicht bedarf; er drückt die Ach­tung vor der Person aus, die aber in diesem Fall aus der Entfernung gesehen ist, welche der weltliche Raum zwischen uns legt, wobei diese Achtung ganz unabhängig ist von Eigenschaf­ten der Person, die wir bewundern mögen, oder von Leistungen, die wir hochschätzen. So ist ja offenbar der moderne Respektverlust, bzw. die Überzeugung, daß wir Respekt nur schul­den, wo wir bewundern oder schätzen, ein deutliches Zeichen für die fortschreitende Entper­sonalisierung des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens. Jedenfalls bildet Respekt durch­aus einen hinreichenden Beweggrund, jemandem das, was er getan hat, zu vergeben, um des­sentwillen, der er ist. Daß aber das gleiche Wer, das sich im Handeln und Sprechen unwill­kürlich offenbart, auch der eigentliche Gegenstand des Verzeihens ist, zeigt am deut­lichsten, daß wir es hier noch mit einem Modus des Handelns zu tun haben, wie es denn auch der tief­ste Grund dafür ist, daß niemand sich selbst ver­zeihen kann; das Wer, um dessentwillen jemandem etwas verziehen wird, liegt außerhalb der Erfahrungen, die wir mit uns selbst zu machen vermögen; es ist überhaupt nur für andere wahrnehmbar. Gäbe es nicht eine Mitwelt, die unsere Schuld vergibt, wie wir unseren Schuldigem vergeben, könnten auch wir uns kein Vergehen und keine Verfehlung verzeihen, weil uns, einge­schlossen in uns selber, die Person mangeln würde, die mehr ist als das Unrecht, das sie beging.

Quelle: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München-Zürich: Piper, 111999, S. 300-311.

Hier der Text als pdf.

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