Von Friedrich Mildenberger
Am 2. Juli 1936, kurz nach der Entlassung aus der ersten Haft, erhält Karl Steinbauer in Penzberg durch den örtlichen Polizeikommissar ein Schreiben des Bezirksamtes Weilheim ausgehändigt. Danach wird über ihn ein allgemeines Redeverbot für das ganze Reichsgebiet und ein Aufenthaltsverbot für Oberbayern verhängt.[1] Soll der exponierte Vikar das ist ein Hilfsgeistlicher, der einen eigenen Pfarrbezirk zu versorgen hat diesem Verbot Folge leisten, oder soll er die Sanktionen der Staatsgewalt auf sich ziehen? Das ist nicht nur seine persönliche Entscheidung, in der er selbstverständlich auch die Folgen für die junge Familie mit zu bedenken hat. Auch seine Gemeinde ist durch diese Entscheidung mit betroffen. Als Pfarrer ist er ja residenzpflichtig, muß in seiner Gemeinde jederzeit erreichbar sein und kann diese also nicht einfach auf staatliche Anordnung hin verlassen. Und auch die Kirchenleitung, in deren Dienst er steht, ist an dieser Entscheidung mit beteiligt Sie hat ja für ihre Pfarrer einzustehen, wenn denen in Ausübung ihres Dienstes Unbill widerfährt.
Wie sah die Entscheidung damals aus? Sie wurde zunächst einmal hinausgeschoben, indem Karl Steinbauer einen Urlaub antrat, während dem die Kirchenleitung eine Aufhebung der Ausweisung zu erreichen suchte. Als das nicht gelang, suchte man dort weiter Zeit zu gewinnen. Steinbauer sollte vorläufig in Augsburg Dienst tun, ein dortiger Pfarrverweser dagegen den Dienst in Penzberg übernehmen. Zudem hatte sich Steinbauer vom Landeskirchenrat zu einer Art Vorzensur seiner Predigten durch den dortigen Dekan überreden lassen, da er auf keinen Fall bereit war, das Predigtverbot einzuhalten. Mit dieser vorläufigen Regelung wollte sich die Kirchenleitung einerseits schützend vor den gemaßregelten Geistlichen stellen und andererseits die Möglichkeit weiterer Verhandlungen mit den staatlichen Stellen offenhalten. Steinbauer schreibt dazu rückblickend, er habe sich von Anfang an nur »mit einem bedrängten oder beengten, unfreien Gewissen« mit dieser vorläufigen Regelung einverstanden erklärt.[2] Je länger dieser unentschiedene Zustand dauerte, desto mehr fühlte er sich bedrängt. »Die tiefe innere Unruhe, ja geradezu Angst, die nicht eindeutige Entscheidung könne durch weitere Verschleppung sozusagen die Sukzession, die fortlaufende Kette des Gehorsams gefährden, ja unheilbar zerreißen, machte mir die Augsburger Tage zur Qual. Am liebsten wäre ich unverzüglich nach Penzberg zurück.«[3]
Der Gehorsam, von dem hier die Rede ist, das ist der Gehorsam gegenüber Gott, der in Jesus Christus geredet hat. Es ist der Gehorsam gegenüber diesem einen Wort Gottes, »dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben«, wie das die Barmer Theologische Erklärung von 1934 in ihrem ersten Satz bekennt. Daß diese Gehorsamsverpflichtung jeden Christen und daß sie die Kirche und die kirchlichen Amtsträger in der Ausübung ihres Dienstes bindet, das ist unbestritten. Und unbestritten ist auch, daß diese Verpflichtung im Konfliktfall jeder anderen vorgeht. Denn »man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 5, 29). Doch dieser Gehorsam muß sich ja konkretisieren in dem Spannungsfeld der hier beteiligten Instanzen: der Gemeinde, der Kirchenleitung und des Staates. Dabei ist vorauszusetzen, daß jedenfalls Gemeinde und Kirchenleitung wie der betroffene Pfarrer ihre Entscheidungen an der Gehorsamsverpflichtung gegenüber dem Wort Gottes prüfen und sich gegenseitig dazu helfen, dieser Verpflichtung treu zu bleiben.
Nicht nur die gemeinsame Gehorsamspflicht ist freilich zu nennen. Die genannten Instanzen, staatliche wie kirchliche, stehen zueinander in rechtlich geordneten Verhältnissen Dieses Recht legt u. a. fest, welcher Instanz welche Entscheidungskompetenz zukommt, wer also in Konfliktfällen, dort, wo eine solche Entscheidung strittig ist, den Ausschlag geben kann. Freilich ist diese Rechtsordnung keine absolute Größe,- das kirchliche Recht jedenfalls hat im Zweifelsfall immer dem Wort Gottes zu weichen. Doch diese grundsätzliche Festlegung, die die Kirche ui ihrem Bekenntnis an das Wort Gottes bindet, muß ja von Fall zu Fall erst einmal mitbeachtet und in der konkreten Entscheidungssituation angewandt werden. Es wird immer einfacher sein, sich im Zweifelsfall an die gegebene Ordnung zu halten. Hilft aber diese kirchliche Ordnung dazu, die Gehorsamspflicht gegenüber dem Wort Gottes durchzusetzen? Ist sie dieser Pflicht gegenüber neutral? Oder hemmt sie gar von ihrer inneren Struktur her diese Bindung? Das sind Fragen, die gerade auch durch die Erfahrungen Steinbauers aufgeworfen werden. Ich gehe ihnen so nach, daß ich zunächst auf die seinerzeit und mit gewissen Modifikationen bis heute geltende Ordnung hinweise, gerade auch auf ihre problematischen Aspekte. Dann ist der genannte Fall gerade auch in seinen rechtlichen Aspekten durchzugehen. Das muß unter der kritischen Frage geschehen, wie weit auch diese Ordnung und die durch sie bestimmte Praxis der Gehorsamsverpflichtung gegenüber dem Wort Gottes dienen konnte. Das führt dann noch einmal zu der grundsätzlicheren Frage nach der Dienlichkeit dieser Rechtsordnung. Es kann ja nicht nur persönliche Unzulänglichkeit oder gar böser Wille sein, die Steinbauer zu der Feststellung nötigten, schwerer als die Konflikte mit Staat und Partei seien für ihn die vielen Auseinandersetzungen mit der Kirche, mit ihrem Bischof und dem Landeskirchenrat, zu ertragen gewesen.[4] Hier sind vielmehr gerade auch Probleme der kirchlichen Rechtsordnung und damit zusammenhängend Probleme von Entscheidungskompetenz und Verantwortlichkeit zu nennen, die damals – und vermutlich auch heute, sobald es zu ähnlichen Konflikten kommt – den gemeinsamen Willen belasten, der Gehorsamsverpflichtung gegen Gottes Wort nachzukommen.
1.
Das Grundproblem der kirchlichen Ordnung, in der das Amt des Pfarrers eine zentrale Stelle einnimmt, ist deren Doppelaspekt als geistliche und als Rechtsordnung. Die geistliche Ordnung ist bestimmt durch das Gegenüber von Amt und Gemeinde, wie es der fünfte Artikel der Augsburger Konfession beschreibt: Das Predigtamt hat das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu reichen In diesem Geschehen tritt es der Gemeinde gegenüber, handelt an ihr im Auftrag und im Namen Gottes. Sicher liegt schon dann ein Problem dieser Ordnung, daß in der Tradition der evangelischen Kirche dieses Handeln im Amt der Kirche mit der Gegebenheit eines besonderen Standes identifiziert worden ist, in den einer durch die Ordination aufgenommen wird. Doch kann dieses ungelöste Problem liier nicht auch noch verfolgt werden. Jedenfalls haben alle Amtsträger, die zum geistlichen Amt ordiniert sind, grundsätzlich die gleiche Stellung, Verantwortung und Verpflichtung, die das Ordinationsgelübde so formuliert: „Willst du das Amt, das dir befohlen wird, nach Gottes Willen treulich führen, die geoffenbarte Lehre des Evangeliums nach dem Bekenntnis unserer evangelisch-lutherischen Kirche rein und lauter predigen, die heiligen Sakramente ihrer Einsetzung gemäß verwalten, das Beichtgeheimnis treulich wahren und mit einem frommen und gottseligen Leben denen vorangehen, die dir von Gott anvertraut sind, so bezeuge das vor dem Angesicht Gottes und dieser Gemeinde mit deinem Ja!« So wird der Ordinand gefragt, und er antwortet darauf: „Ja, dazu helfe mir Gott durch Jesum Christum in der Kraft des Heiligen Geistes. Amen.»[5]
Dieses geistliche Amt kennt in sich keine hierarchische Struktur, sondern nur eine funktionale Gliederung. Das kann nach evangelischem Verständnis auch gar nicht anders sein. Denn das Amt ist Dienst an ein und demselben Evangelium im unmittelbaren Gegenüber zur Gemeinde. So legt es das Lutherische Bekenntnis in Abhebung gegen die römisch-katholische Hierarchie fest: »Das Evangelium nämlich teilt denen, die den Gemeinden vorstehen, den Auftrag (mandatum) zu, das Evangelium zu predigen, die Sünden zu vergeben, die Sakramente zu verwalten, außerdem die Rechtsprechung (jurisdictio), nämlich den Auftrag, die zu exkommunizieren, deren Sünden bekannt sind, und die wieder zu absolvieren, die Buße tun (resipiscentes). Und wie alle, auch die Widersacher, bekennen, ist klar, daß diese Vollmacht (potestas) nach göttlichem Recht allen zukommt, die Gemeinden vorstehen, ob sie nun Hirten (pastores), Priester (presbyteri) oder Bischöfe genannt werden.«[6]
Noch einmal muß ich hier auf ein offenes Problem aufmerksam machen: Das geistliche Amt wird nicht nur an dieser Stelle des Bekenntnisses aus dem Gegenüber zur Gemeinde definiert. Träger des Amtes sind die, die den Gemeinden vorstehen. Wird aber diese Bindung des Amtes an eine konkrete Gemeinde nicht genügend beachtet, dann kann dieses Amt kaum anders verstanden werden denn als ein geistlicher Stand, in den man durch die Ordination aufgenommen wird. So spricht der Erlaß des Königl. Oberkonsistoriums vom 18.11.1833, der grundsätzliche Bestimmungen der Ordination darlegt, davon, »daß die Ordination als die feierliche Einweihung zum geistlichen Stand nach ihrer inneren Beziehung eine tiefe Bedeutung hat: indem sie nur von denjenigen würdig empfangen wird, die sie nicht bloß des äußeren Berufes und des damit verbundenen zeitlichen Erwerbes wegen suchen … Aber auch nach ihren äußeren Beziehungen ist die Handlung der Ordination von großem Gewicht und von bedeutenden Folgen, indem sie als die feierliche Aufnahme in die Zahl der Geweihten, denen als Haushaltern über Gottes Geheimnisse die höchsten Angelegenheiten der christlichen Glaubensgenossen anvertraut sind, dem Ordinierten 1) die Würde des geistlichen Standes verleiht; 2) das Recht erteilt, alle Befugnisse dieses Standes auszuüben; 3) den Anspruch gibt, in diesem Stande auch seinen Berufskreis und seine Versorgung zu finden …«[7]
Schon diese Probleme der geistlichen Ordnung, auf die ich hier aufmerksam machen mußte, verweisen auf die erst recht problematische Rechtsordnung. In einem vom unmittelbaren Gegenüber zur Gemeinde abgelösten geistlichen Stand werden sich fast zwangsläufig hierarchische Strukturen ausbilden, die dem evangelischen Amtsverständnis widersprechen. Erst recht geschieht das dann, wenn der Amtsträger zugleich in eine hierarchisch strukturierte Rechtsordnung einbezogen ist. So ist das in den aus der Reformation hervor gegangenen und nach der politischen Neuordnung im 19. Jahrhundert in Anlehnung an die jeweiligen Staaten neu organisierten Landeskirchen der Fall gewesen. Die Rechtstitel, mit denen der landesherrliche Summepiskopat jeweils begründet wurde[8] und die unterschiedlichen kirchenrechtlichen Theorien, die die Ausübung der Kirchengewalt durch den jeweiligen Landesherrn rechtfertigten, brauchen uns hier nicht weiter zu interessieren. Für unsere Beurteilung ist aber von Gewicht, daß hier Rechte der Gemeinde wahrgenommen worden sind, insbesondere das Recht, Amtsträger zu berufen, zu wählen und zu beauftragen (jus vocandi, eligendi et ordinandi ministros).[9] Der Ansatz der reformatorischen Ekklesiologie bei der versammelten bzw. sich um Wort und Sakrament versammelnden Gemeinde wird hier durch eine Organisationsstruktur durchkreuzt, die sich an das jeweilige Territorium der das Kirchenregiment führenden Obrigkeit anlehnt.
Die Rechte des landesherrlichen Summepiskopats wurden nach 1918 den Konsistorien übertragen, die sie schon bis dahin faktisch wahrgenommen hatten.[10]
Die Kirchenverfassung, die sich die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern gegeben hat und die am 1.1.1921 in Kraft trat, hat diesen Zustand im wesentlichen festgeschrieben. Mit der traditionellen Ordnung mußte auch die problematische Begründung dieses kirchlichen Rechtes fortgeführt werden. Diese Begründung geht davon aus, daß das Amt im strengen Sinn, also Predigt des Evangeliums und Verwaltung der Sakramente, im rechtsfreien Raum zu geschehen hat. Dort dagegen, wo sich die Kirche ihre Rechtsordnung gibt, geschieht das wie bei aller Rechtsbegründung aus der theologisch in der Schöpfungs- bzw. Erhaltungsordnung begründeten Notwendigkeit, den Frieden einer sozialen Größe auch durch erzwingbares Recht zu sichern. So formuliert Theodosius Harnack: »Indem nun die Kirche sich verfaßt, betritt sie den Boden der Ordnung und des vierten Gebotes, und nimmt damit, wenn nicht auch den Stand, so doch immer die Würde der Obrigkeit in sich auf. Diese hat das Kirchenregiment kraft des vierten Gebotes, einer anderen bedarf die Kirche nicht. Diese Autorität dem Kirchenregiment absprechen, ist wider die Schöpfungsordnung; mit dieser sich nicht begnügen wollen und ihm eine andere, de evangelio, zuschreiben, ist wider die Heilsordnung.«[11]
Nicht vom Zentrum des Amtes, sondern von der Notwendigkeit der Ordnung her wird das kirchliche Recht begründet. »Die Kirche lebt in der Welt, sie ist – auch – eine gesellschaftliche Organisation. Als solche bedarf sie – wie der Staat, wie jeder Verein, wie jede menschliche Gemeinschaft, die auf Dauer angelegt ist der Ordnung, einer Ordnung um des Friedens willen.«[12]
Die an die staatliche Ordnung angelehnte und von der Notwendigkeit eines erzwingbaren Rechts her begründete kirchliche Rechtsordnung muß die vom Vollzug des Amtes her begründete geistliche Ordnung in vielen Hinsichten berühren. Ihr Ziel ist es sicher, die geistliche Ordnung zu schützen und eine ungestörte Ausübung des Amtes zu ermöglichen. Aber dabei ergibt sich eine Verteilung der Gewichte, die Rechtsordnung und geistliche Ordnung in Widersprüche verwickelt. In der geistlichen, vom Amt her begründeten Ordnung ist Zentrum die Gemeinde, die sich versammelt, um das Evangelium zu hören und die Sakramente zu empfangen. Diese sich versammelnde Gemeinde ist sicher nicht identisch mit der Rechtsgröße der Kirchengemeinde. Aber die Kirchengemeinde ist diesem Zentrum doch weit näher als die territoriale Organisation Landeskirche. Es läge nahe, diese Nähe der Kirchengemeinde zum Zentrum der geistlichen Ordnung auch rechtlich in der Zuweisung von Entscheidungskompetenz zu gewichten. Doch ist das nicht der Fall, eher gilt das Gegenteil. Die Landeskirche mit ihrem hierarchischen Aufbau beansprucht nicht nur weitgehende Aufsichtsrechte gegenüber den Kirchengemeinden Sie bindet auch die Pfarrer, die ja im Dienst der Landeskirche stehen, in ein hierarchisches System von Aufsicht und Beurteilung ein. Zwar kann ein Pfarrer, dem eine Pfarrei (die rechtlich nicht mit der Kirchengemeinde identisch ist) übertragen wurde, nur aus schwerwiegenden Gründen gegen seinen Willen versetzt werden. Das soll ihn in seiner Amtsführung unabhängig machen, der Kirchengemeinde wie der Landeskirche gegenüber. Doch ist in Problemfällen wieder die Landeskirche und nicht die Kirchengemeinde dem Pfarrer gegenüber die rechtlich stärkere Größe. Einzelheiten brauchen uns hier nicht zu interessieren, auch nicht, was die rechtliche Ordnung der Besetzung von Pfarrstellen betrifft. Denn der Fall des exponierten Vikars Karl Steinbauer betrifft ja nur einen nichtständigen Geistlichen, der zwar einen eigenen Pfarrsprengel zu versehen hat und insofern dem Pfarrer in seiner Amtsführung vergleichbar ist; doch ist Einsetzung wie Versetzung die eines nichtständigen Geistlichen. Da der exponierte Vikar sich verpflichten muß, mindestens drei Jahre auf seiner Stelle zu bleiben[13], ist freilich auch zu erwarten, daß er mindestens für diese Zeit auf seiner Stelle belassen wird.
Schon diese notwendig knappen Ausführungen deuten an, daß man schwerlich von einem ausgewogenen und in sich stimmigen Miteinander der geistlichen und der Rechtsordnung sprechen kann. Hier soll, dem Anlaß entsprechend, aus der Perspektive des Pfarrers gefragt werden, um die Problematik zu unterstreichen. Wo findet dieser Pfarrer für seine Amtsführung Hilfe und Unterstützung? Sicher bei den Menschen, denen diese Amtsführung gilt, bei den Gemeindegliedern der Kirchengemeinden und dann doch wohl auch bei dem Kirchenvorstand als der rechtlichen Vertretung dieser Gemeindeglieder. In der Gemeinschaft der Amtsträger, des geistlichen Standes, und dabei doch wohl zunächst dort, wo er seinen Dienst ausübt, bei den Nachbarn, im Kapitel des Dekanats, dem er angehört. Aber weder hier noch dort ist eine diese Amtsführung betreffende rechtliche Kompetenz. Diese Kompetenz liegt vielmehr, entsprechend der hierarchischen Struktur der kirchlichen Rechtsordnung, beim Landeskirchenrat.
2.
Kommen wir nach dieser Erläuterung der rechtlichen Problematik wieder auf den konkreten Anlaß dieser Überlegungen zurück. Die erste Verhaltung und das dann folgende Rede- und Aufenthaltsverbot Steinbauers hatten ihren Grund in einer doppelten Weigerung: Nach der Wahl vom 29.3.1936, die ein 99%-Ergebnis für die Nationalsozialisten brachte, ließ Steinbauer in seinen Gemeinden das zur Feier des Wahlsieges angeordnete Glockenläuten nicht zu. Er wurde daraufhin angezeigt und polizeilich vernommen, doch erfolgte zunächst nichts. Auf seine Mitteilung über die Anzeige an den Landeskirchenrat hin wurde Steinbauer dort vorgeladen und wegen seines Verhaltens zur Rede gestellt. Nicht er, sondern die Kirchenleitung trage die Verantwortung dafür, daß bei dem genannten Anlaß die Glocken läuteten. Steinbauer widersprach dem unter Berufung auf seine Ordination zum geistlichen Amt. Er könne sich darum die Verantwortung für seine Amtsführung in den Gemeinden, als deren Seelsorger er installiert sei, nicht abnehmen lassen. »Bischof der evangelischen Gemeinde in Penzberg bin ich und nicht Sie.«[14] Mit dieser Berufung auf sein geistliches Amt hatte Steinbauer dann recht, wenn es sich bei der Verweigerung des Glockenläutens um eine zur geistlichen Führung des Amtes gehörige Entscheidung handelte. Das hätte aber andererseits bedeutet, daß die Anordnung des Läutens nicht nur als Akt der Staatstreue, des Gehorsams gegen die Obrigkeit beurteilt werden durfte. Vielmehr wäre hier dann dezidiert die Frage nach dem Gehorsam gegen Gottes Wort zu stellen gewesen. Das Verhalten Steinbauers konfrontierte also gerade auch die das Geläut anordnende Kirchenleitung mit dieser Gehorsamsfrage.
Weiter verweigerte Steinbauer die zum 1. Mai als nationalem Feiertag des Deutschen Volkes angeordnete Beflaggung der Kirchengebäude. Schon am Morgen des 1. Mai 1936 wurde er deswegen von einem Polizeibeamten zur Rede gestellt, der von der Gestapo in München beauftragt worden war, nachzuprüfen, ob Steinbauer der Anordnung zur Beflaggung nachgekommen war. Obwohl dieser mit seiner sofortigen Verhaftung rechnete, erfolgte zunächst nichts. Steinbauer vermutet, daß er damals durch Drohungen gefügig gemacht werden sollte. In einem am 2. Mai von ihm aufgesetzten polizeilichen Vernehmungsprotokoll begründete er sein Verhalten ausführlich mit seiner seelsorgerlichen Verantwortung unter Berufung auf seine Ordination.[15]
Diese Begründung seines Verhaltens führte zunächst zu einem Konflikt mit dem Landeskirchenrat, der Steinbauer seine Mißbilligung aussprach. Die Verweigerung der Beflaggung sei von Schrift und Bekenntnis her nicht zu rechtfertigen. «Wir weisen Sie außerdem auch darauf hin, daß die Beflaggung der kirchlichen Gebäude eine Anordnung des Landeskirchenrates ist (K. Amtsblatt 1935, S. 148). Durch die Nichtbeflaggung Ihrer Kirchen verweigern Sie den Gehorsam gegenüber Ihrer vorgesetzten Behörde.«[16] Das heißt: Der Landeskirchenrat beruft sich in dieser strittigen Frage auf die hierarchische Rechtsordnung und nimmt damit in der Beurteilung der Frage einer Beflaggung der Kirchengebäude am 1. Mai eine andere Haltung als Steinbauer ein: Hier gehe es nicht um ein im Gehorsam gegen Gottes Wort gefordertes Bekenntnis, sondern um einen selbstverständlichen Akt der Staatstreue. Wie alle öffentlichen Gebäude sind auch die Kirchengebäude an bestimmten Tagen, zu denen der 1. Mai gehört, zu beflaggen.[17]
Problematisch ist dabei nicht mir die grundsätzliche Haltung. Der Landeskirchenrat hatte vielmehr unter dem Datum des 29. April 1936 angeordnet, daß das zum 1. Mai ebenfalls von seiten des Staates und der Partei erwartete Glockengeläute nicht stattfinde.[18] Man wollte sich mit dieser Verweigerung des Geläutes gegen die Vereinnahmung durch die nationalsozialistische Ideologie abgrenzen. Warum hat man sich dann aber andererseits mit der Anordnung, die Kirchengebäude aus Anlaß des 1. Mai zu beflaggen, der ideologischen Gleichschaltung der Kirche wie des Staates durch die Partei gefügt? Die zwiespältige Haltung des Landeskirchenrates mag ihren Grund mit darin gehabt haben, daß man hier einerseits durch die Haltung und Argumentation Steinbauers beeindruckt war, andererseits aber die bisherige Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Staat nicht grundlegend ändern konnte. Deshalb war auch die von Steinbauer verlangte grundsätzliche Klärung der strittigen Frage[19] nicht zu erwarten.
Steinbauer wurde damals aufgrund der Anzeige verhaftet und vom Amtsrichter in Weilheim verhört. Doch wurde dann keine Anklage gegen ihn erhoben; er wurde vielmehr nach wenigen Tagen aus der Haft entlassen. Freilich folgte dann das eingangs genannte Aufenthalts- und Redeverbot, mit dem man die Angelegenheit anscheinend ohne einen Prozeß erledigen wollte. Während der Haft und bei seinem Aufenthalts- und Redeverbot hat sich der Landeskirchenrat nach Kräften für Steinbauer eingesetzt. Dieser Einsatz war freilich belastet durch die zwiespältige Haltung in der Sache, wegen der Steinbauer den staatlichen Sanktionen ausgesetzt war. Hier konnte und wollte man sich nicht mit Steinbauer identifizieren, hielt dessen Haltung Partei und Staat gegenüber für falsch und empfand sie als Störung der eigenen Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Staat. Darum wurde Steinbauer ja der eingangs erwähnte Kompromiß in der Frage der Ausweisung aufgenötigt, nachdem er sich dem Landeskirchenrat gegenüber geweigert hatte, die Ausweisung anzuerkennen. Wie sich hier die hierarchische Struktur der Rechtsordnung in der doch mindestens von selten Steinbauers als geistliche Frage behandelten Sache auswirkte, zeigt eine von ihm berichtete Einzelheit aus den Verhandlungen. Einer der Oberkirchenräte sei während der Verhandlungen im Zorn hochgesprungen und habe den Vikar angeschrien, was ihm eigentlich einfalle. Ob er denn glaube, nur er habe ein Gewissen. »Wo wären wir denn da im letzten Weltkrieg hingekommen, wenn jeder kleine Grabenleutnant meint, er kann tun, was er mag und sich nicht um die Befehle des Generalstabs kümmert!«[20] Steinbauer hat sich hier, wie vorher schon dem zuständigen Kreisdekan, Oberkirchenrat Daumiller gegenüber, zu Recht gegen diese Übertragung militärischer Befehlsstrukturen auf die Kirche gewehrt. «Ich bin ordinierter Botschafter Christi wie Sie, stehe wie Sie unter dem Predigtbefehl und der Verantwortung dieses Verkündigungsauftrages. Darum liegen die Befehls- und Gehorsamsverhältnisse total anders.«[21] So richtig das ist, wenn auf die geistliche Ordnung des Amtes geblickt wird, so schwierig ist es, diesen Sachverhalt angesichts der hierarchischen Struktur der Rechtsordnung auch anzuerkennen und zu praktizieren.
Nur kurz gehe ich auf die Solidarität der Amtsträger ein, lasse dabei die Hilfe und Unterstützung, die Steinbauer in der Pfarrbruderschaft gefunden hat, beiseite.[22] Die Pfarrer des Dekanats haben sich in einer am 5. Juli 1936 auf dein Bezirkskirchentag in Ebenhausen verabschiedeten Erklärung mit Steinbauer solidarisiert. »Sein Handeln in dieser Angelegenheit ist ausschließlich durch den von einem Diener der Evangelisch-Lutherischen Kirche bei seiner Ordination gelobten Gehorsam gegen das Wort Gottes bestimmt.«[23] Doch gerät diese Haltung rasch wieder ins Zwielicht, wenn dann die kirchliche Ordnung ins Spiel kommt, der Dekan, der die Ebenhausener Erklärung mit verabschiedet hat, genötigt ist, sich mit dem Kirchenvorstand Penzbergs, der die Rückkehr seines Vikars verlangt, auseinanderzusetzen.[24]
Doch damit ist nun schon die Gemeinde als weitere beteiligte Instanz mit ins Spiel gebracht. Ich gebe dazu zunächst das Urteil Steinbauers wieder: »Der Kirchenvorstand war unbeirrbar klar entschlossen, die ›Sukzession des Gehorsams‹, wie wir oben gesagt haben, nicht abreißen zu lassen.«[25] Wie sah das aus? Der Kirchenvorstand hatte schon gegen die Verhaftung Steinbauers Einspruch erhoben und sich für seine Freilassung eingesetzt. Er hatte ihm dann geraten, sich mit dem Landeskirchenrat in München wegen des Aufenthalts und Predigtverbots in Verbindung zu setzen und nicht einfach in Penzberg zu bleiben. Er ließ freilich die Behandlung der Sache durch den Landeskirchenrat nicht einfach über sich ergehen. Als die Verhandlungen des Landeskirchenrates nicht so rasch wie erhofft zum Ziel fühlten, Steinbauer in Augsburg Dienst tat und ein Vertreter nach Penzberg kam, wandte sich der Kirchenvorstand in einem sehr deutlichen Schreiben an den Landeskirchenrat. Er erklärte darin, daß er unter keinen Umständen in die endgültige Versetzung seines Pfarrers Steinbauer einwilligen werde. Wenn es nicht gelinge, die Aufhebung des Ausweisungsbefehls zu erreichen, dann erwarte der Kirchenvorstand vorn Landeskirchenrat, daß er Herrn Vikar Steinbauer auch gegen das Aufenthaltsverbot wieder an seinen Amtssitz Penzberg zurückberufe. Wenn der Landeskirchenrat der Gemeinde ihren Vikar länger als durch die Verhandlungslage geboten vorenthalte, so werde die Gemeinde ihren Pfarrer selbst zurückrufen. Denn der Amtssitz Penzberg sei der Ort, dem er durch seine Ordination die Ausübung des geistlichen Amtes schulde. Auch die möglichen Folgen eines solchen Rückrufs für Steinbauer werden in dem Schreiben genannt; aber da die polizeiliche Ausweisung als formal und materiell nicht einwandfrei gedeckt erachtet wird, glaubt es der Kirchenvorstand darauf ankommen lassen zu können.[26]
Zwei Aspekte dieser Stellungnahme des Kirchenvorstands von Penzberg sind besonders hervorzuheben. Einmal wird hier die enge Verbindung von Ordination und der Zuweisung zu einer bestimmten Gemeinde betont. Der geistliche Stand ist nicht einfach eine Gruppe von Personen, die eine bestimmte Anzahl von Kirchengemeinden zu versorgen hat, wobei es dann un Grunde keine Bedeutung hat, ob der Pfarrverweser Simon aus Augsburg in der Gemeinde Penzberg und der Vikar Steinbauer dafür in Augsburg seinen Dienst versieht. Die Bindung des Ordinierten an eine bestimmte Gemeinde ist vielmehr von wesentlichem Gewicht. Ich notiere das als Anfrage auch an das gegenwärtige Verständnis von Ordination und geistlichem Amt. Weiter kündigt der Kirchenvorstand hier an, falls der Landeskirchenrat nicht zu einer diesem Sachverhalt der geistlichen Ordnung angemessenen Entscheidung komme, werde er selbst in diesem Sinne handeln, also eine Entscheidung, die nach der geltenden Rechtsordnung dem Landeskirchenrat zukommt, selbst treffen. Er beansprucht damit ein Recht, das nach dem lutherischen Bekenntnis der Gemeinde zukommt, aber nach der herkömmlichen Rechtsordnung nicht von dieser, sondern stellvertretend für die Gemeinde vom Konsistorium wahrgenommen wird. Ich führe dazu eine Bestimmung aus dem 1937 in Schmalkalden verfaßten und approbierten Tractatus de potestate et primatu papae an. Dort ist die Rede von den episcopi ordinarii, den katholischen Bischöfen, die sich das Recht, Geistliche zu ordinieren, Vorbehalten wollen. Wenn diese Bischöfe Feinde des Evangeliums werden und die Ordination der (evangelischen) Pfarrer verweigern, dann lallt dieses Recht an die Gemeinden zurück. »Denn wo immer Gemeinde ist, da ist das Recht auf Austeilung des Evangeliums. Darum ist es notwendig, daß die Gemeinde das Recht, Diener am Wort zu berufen, zu erwählen und zu ordinieren, behält.«[27] Dabei wird also aus der geistlichen Ordnung die Rechtsfolge abgeleitet, nach der im Not bzw. Konfliktfall die Gemeinde ihren Pfarrer beruft.
Diese Stellungnahme des Kirchenvorstandes hat einerseits Karl Steinbauer von seinen Konflikten befreit. Hier ist durch den Kirchenvorstand die unklare Lage geklärt, die Kette des Gehorsams vor dem Abreißen bewahrt worden. Der Kirchenvorstand ließ es auch nicht bei einer einmaligen Stellungnahme, sondern drängte weiter auf eine Erledigung der Sache in dem von ihm angedeuteten Sinne. In einem Schreiben vorn 24.8.1936 an den Landeskirchenrat verweist er auf das Eintreten der Gemeinden für den in Haft gehaltenen Landesbischof im November 1934 und meint, es konnten wohl Zeiten kommen, wo es der Landeskirchenrat wieder schätzen werde, wenn Gemeinden für ihre Pfarrer selbständig eintreten wurden. »Darum auch muß es abgelehnt werden, die letzte Verantwortung allein dem Landeskirchenrat zu überlassen, zumal das Gegenteil in kirchlich gefährdeten Zeiten das wünschenswerteste sein müßte.«[28] Es wird dann weiter mit Apg 4, 29 argumentiert und ausdrücklich das erste Schreiben mit der Ankündigung, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, wenn die Verhandlungen des Landeskirchenrats aussichtslos erscheinen, bestätigt.[29] Die Unterzeichner der Ebenhausener Erklärung werden vom Kirchenvorstand gleichzeitig zur Mitentscheidung aufgerufen. Hier wird also ausdrücklich der Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes der Rechtsordnung entgegengesetzt und verlangt, daß diese im Konfliktfall weichen müsse.
Freilich konnte das so nicht akzeptiert werden, wo die kirchliche Rechtsordnung und ihre Verteidigung das Handeln und Denken bestimmte. Ich nenne dazu nur die charakteristische Äußerung des Ingolstädter Dekans: »Sollte der Kirchenvorstand seine Absicht ausführen, so wird dies die offene Revolution in der Kirche bedeuten; solche Revolution lehne ich entschieden ab.«[30] Weiter folgt dann ebenfalls eine biblische Argumentation, die die Berufung des Kirchenvorstandes auf Apg 4, 29 zu entkräften sucht. Vom Standpunkt der Rechtsordnung aus hatte der Dekan durchaus recht, wenn er die Stellungnahme des Kirchenvorstands als offene Revolution bezeichnete. Daß er sich aber auf eine biblische Argumentation einließ, zeigte auch, daß die Berufung auf das geltende Recht in dieser Situation eben nicht mehr zureichte. Wie freilich in dem Hin und Her der biblischen Argumente, ob die Behandlung der Angelegenheit durch den Landeskirchenrat oder die durch den Kirchenvorstand im Gehorsam gegen das Wort Gottes geboten war, schließlich zu entscheiden war, bleibt eine offene Frage. Sie wurde durch die Aufhebung des Aufenthaltsverbotes Ende September 1936 erledigt.
3.
Was hier an einem kleinen Ausschnitt aus den Lebenserinnerungen Karl Steinbauers verdeutlicht worden ist, verlangt nach einer weiter ausgreifenden theologischen Überlegung. Nicht die Frage, ob nicht vielleicht doch die Behandlung der Angelegenheit durch den Landeskirchenrat letztlich zum Erfolg geführt und damit dessen diplomatisches Vorgehen bestätigt hat, stellt zur Debatte. Vielmehr ist noch einmal die Frage nach dem Verhältnis der geistlichen Ordnung des Amtes zur kirchlichen Rechtsordnung aufzugreifen. In dem Miteinander des Pfarrers Karl Steinbauer und der durch ihren Kirchenvorstand handelnden Kirchengemeinde in Penzberg ist eine geistliche Wirklichkeit kenntlich, die sich nicht in einen rechtsfreien Raum zurückdrängen läßt. Hier ist vielmehr deutlich, wie die geistliche Ordnung, in der das Amt des Evangeliums geführt wird, sich im Konfliktfall gegen die bestehende Rechtsordnung zu wenden droht. Damit aber ist noch einmal und mit neuer Dringlichkeit die Frage nach dieser Rechtsordnung seihst gestellt. Hilft sie zum Gehorsam gegenüber Jesus Christus und dem Jesus Christus bezeugenden biblischen Wort? Das ist angesichts des besprochenen Geschehens nicht eine allgemeine theologische Frage. Vielmehr wird diese Frage hier konkretisiert, sie nötigt dazu, in diesem Zusammenhang eine Reihe von Anfragen an die damals wie in den Grundzügen noch heute bestehende Rechtsordnung zu stellen. Gerade weil diese Fragen gegenwärtig kaum zureichend zu beantworten sind, müssen sie offengehalten werden.
Die grundsätzlichste Frage ist wohl diese: Wo ist in dieser Rechtsordnung die Möglichkeit vorgesehen, im Hören auf das Wort Gottes zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen? Es ist ja sicher nicht der Sinn einer kirchlichen Ordnung, solches gemeinsame Hören so zurückzudrängen, daß es sich allen falls neben dieser Rechtsordnung oder womöglich im Gegensatz zu ihr Geltung verschafft. Wie können die bei einer Angelegenheit wie der besprochenen beteiligten Instanzen zu einem gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes zusammengebracht werden? Also der Pfarrer und seine Gemeinde, vertreten durch den Kirchenvorstand, das Pfarrkapitel als Vertretung des geistlichen Amtes, die Kirchenleitung, die übergreifende Gesichtspunkte in die Behandlung einer derartigen Angelegenheit einzubringen hat? Es geht ja jeder dieser Instanzen letztlich um den Gehorsam gegen Jesus Christus Wie aber können sie in der Frage, in welcher Entscheidung sich dieser Gehorsam zu verwirklichen hat, zusammenfinden? Daß es zu einer solchen Gemeinsamkeit nicht kommen konnte, das ist ja das, was an dem beschriebenen Geschehen besonders Not macht
Eine erste Folgerung aus dieser grundsätzlichsten Frage ist die, wie Kirche im Rechtssinn ihre Einheit mit der Gemeinschaft des Glaubens und des Heiligen Geistes in den Herzen[31] so realisieren kann, daß das den Glaubensgehorsam wirkende Evangelium nicht neben einem dann den Rechtsgehorsam erzwingenden Gesetz zu stehen kommt. Es wird beim Verfolgen dieser Frage gut sein, die geistliche Ordnung des Amtes (nach CA V) als Ansatzpunkt zu nehmen und nicht die faktische landeskirchliche Gestalt der Kirche und die Nötigungen, die sich aus der Erhaltung dieser Gestalt gerade auch in Hinsicht auf deren Rechtsordnung ergeben. Dabei wird gerade die Frage danach, wie Kirche bekenntnisgemäß geleitet werden kann, zu stellen sein. Sie ist nicht mit dem Hinweis auf einen in der Kirchenverfassung festgeschriebenen konfessionellen Charakter beantwortet, wie ich hier der Deutlichkeit halber bemerken will.
Eine zweite Folgerung deute ich wenigstens noch an: Die Einbindung der Kirche in die Gesellschaft und ein durch eine wie auch immer geartete natürliche Theologie begründeter Anspruch dieser Kirche wird es kaum zu einer solchen Ordnung kommen lassen, in der das gemeinsame Hören auf das Wort Gottes einen festen Ort findet Dazu ist die Vergangenheit zu stark, in der Kirche sich doch auch zum Instrument von Herrschaft machen ließ, um an solcher Herrschaft teilzuhaben. Auch hier stehen wir vor Fragen, die gerade auch die Theologie mit beschäftigen müssen, will sie das Erbe nicht verschleudern, das ihr Zeugen wie Karl Steinbauer hinterlassen haben.
Quelle: Friedrich Mildenberger und Manfred Seitz (Hrsg.), Gott mehr gehorchen. Kolloquium zum 80. Geburtstag von Karl Steinbauer, München: Claudius-Verlag, 1986, S. 53-69.
[1] Vgl. Karl Steinbauer, Einander das Zeugnis gönnen, Bd. 2 (= Zeugnis II), Erlangen 1984, 43.
[2] Zeugnis II, 57.
[3] Ebd., 59.
[4] Vgl. Zeugnis II, Nachwort.
[5] Zit. nach dem Kirchengesetz über das geistliche Amt, KABl (Bay.) 1939, 77. Die Formel ist schon vor der Verabschiedung dieses Gesetzes so gebraucht worden.
[6] Tract. 60.61 (BSLK 489).
[7] Amtshandbuch, Neue Aufl., Bd. IV, München 1883, 247f.
[8] Vgl. Johannes Heckel, Cura religionis. Ius in sacra. Ius circa sacra, Libelli XLIX, 2. Aufl. Darmstadt 1962.
[9] Tract. 67 (BSLK 491).
[10] Für Bayern vgl. KABl (Bay.) 1920, 230f.
[11] Die Kirche, ihr Amt, ihr Regiment, 1862. Vgl. dazu Christoph Link, Die Grundlagen der Kirchenverfassung im lutherischen Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts ins¬besondere bei Theodosius Harnack, IusEcc 3, München 1966; Friedrich Mildenberger, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, ThW 10, Stuttgart 1981, 187ff.
[12] Gerhard Grethlein, Überlegungen zum Recht in der Kirche, 1979, in: Rechtssammlung der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, Vor 1, 10.
[13] Kirchengesetz über die Rechtsverhältnisse der Predigtamts- und Pfarramtskandida¬ten vom 10.7.1936, KAB1 (Bay.) 1936, 109.
[14] Zeugnis II, 5f.
[15] Vgl. Zeugnis II, 13-19.
[16] Zeugnis II, 20.
[17] Vgl. KABl (Bay.) 1935, 148.
[18] Zeugnis II, 12f.
[19] Vgl. dessen Schreiben in: Zeugnis II, 24-31.
[20] Zeugnis II, 54.
[21] Zeugnis II, 56.
[22] Vgl. dazu den Beitrag von Horst Weigelt in diesem Band.
[23] Zeugnis II, 49f.
[24] Vgl. Zeugnis II, 77ff.
[25] Zeugnis II, 83.
[26] Vgl. Zeugnis II, 60f.
[27] Nam ubicunque est ecclesia, ibi est ius administrandi evangelii. Quare necesse est ecclesiam retinere jus vocandi, eligendi et ordinandi ministros. Tract. 66.67 (BSLK 491).
[28] Zeugnis II, 76.
[29] Vgl. Zeugnis II, 74ff.
[30] Zeugnis II, 79.
[31] AC VII, 5 (BSLK 243).