
Am Sonntag Judika ist in der Predigtreihe VI 1Mose 22,1-14 vorgesehen. Dazu eine Predigtmeditation von Walther Zimmerli:
Predigtmeditation zu 1. Mose 22, 1-14
Von Walther Zimmerli
I.
Die Perikope von Isaaks Opferung darf nicht, wie die Perikopenordnung vorschlägt, auf Gn 22, 1-14 begrenzt werden. Die Geschichte findet ihren echten Abschluß in 22, 19, dem Bericht über die Rückkehr Abrahams nach Beerseba. Es mag als eine Schwierigkeit erscheinen, daß in 22, 15-18 eine zweite Rede des Gottesboten vom Himmel her, wohl durch einen nachträglichen Ergänzer, eingefügt worden ist und daß dieser Ergänzer in seiner Formulierung dem Fehlverständnis, als ob hier von einer besonders schweren Eigenleistung Abrahams geredet wäre, nicht so klar wehrt wie der ursprüngliche elohistische Erzähler von 22, 1-14.19. Diese Schwierigkeit darf nicht einfach durch die Unterdrückung des Textelementes 22, 15-19 verdrängt werden. Der sorgfältige Predigthörer, der zu Hause seinen Text nochmals liest, darf diesem Anstoß, der ihm dann zu Hause als Frage begegnen wird, nicht einfach hilflos überlassen werden. Der Prediger soll ihn offen in der Predigt aufgreifen und dem Hörer erklären – zumal die Verse 15-18 inhaltlich auch noch einen ganz wesentlichen Akzent, der für die Verkündigung seine Bedeutung hat, zusetzen.
Exegetisch bietet die Perikope wenig Einzelschwierigkeiten. Einzig die Lokalisierung des Geschehens auf einem Berg „im Lande Morija“ bleibt undurchsichtig. Die Wortanspielungen in V. 8 und 14 könnten nach Gunkel auf einen Namen Jeruel oder Jeriel führen, zu dem sich ein in 1Chr 7, 2 erwähnter Sippenname aus dem Stamme Isaschar oder eine in 2Chr 20, 16 erwähnte Örtlichkeit in der judäischen Wüste der Gegend von Thekoa (2Chr 20, 20) vergleichen ließen. Die letztgenannte Gleichung wird ernstlich zu überlegen sein. Der Name Morija dagegen dürfte schon die Tendenz der Hinrückung der Geschichte auf die Stelle des Jerusalemer Altars (2Chr 5, 1) erkennen lassen. Ohne Zweifel will die Geschichte dadurch nachträglich an den heiligen Ort der Mitte Israels (Ez 5, 5) gerückt werden. Der Prediger sollte aber der Versuchung widerstehen, sich dadurch in raschem Kurzschluß zur Deutung auf das in Christus in Jerusalem- Morija geschehene Opfer verleiten zu lassen. Für das theologische Verständnis der Stelle ist die in der Geschichte beabsichtigte Namensätiologie des Altarortes (Jeruel?) nicht weiter erheblich.
II.
Zum anderen darf die Perikope keinesfalls aus ihrem weiteren Kontext herausgenommen und isoliert betrachtet werden. Der nachträgliche Einschub 15-18 hat u. a. eben dieses Anliegen, die Verankerung der Geschichte im weiteren Bereich der Verheißungsgeschichte Gottes mit Abraham unüberhörbar zu machen. So kehren in der Zusage des Gottesboten denn z. T. ganz wörtlich die Zusagen wieder, die Abraham vom Beginn seiner Sondergeschichte unter Gottes Verheißung gemacht worden sind: die Zusage der Segnung (12, 2), der Mehrung seiner Nachkommenschaft (12, 2; 16,10) gleich den Sternen (15, 5), des Segenszuspruches der Völker im Namen Abrahams (Nifal 12, 2; 18, 18; 28, 14; Hitpael wie 22, 18 noch in 26, 4). Den Bildvergleich mit dem Sand am Meer zitiert Jakob in seinem Gebet 32, 13, denjenigen vom Einnehmen der feindlichen Tore gebrauchen Rebekkas Angehörige bei deren Abschied 24, 60. Ganz deutlich will mit diesen wörtlichen Bezugnahmen unterstrichen werden, daß es in Gn 22 um die Geschichte der einen großen Segnung Abrahams geht, die von Gn 12 an auf seinem Leben liegt.
Damit ist aber sehr deutlich gesagt, daß die Geschichte keinesfalls im Bereich der sentimentalen Gemütsbewegungen gefangen gehalten werden darf. Die Akzente der Beteiligung des vollen menschlichen Gefühls sind zunächst in der Erzählung gar nicht zu verkennen, so verhalten sie diese auch unter der schaubaren Oberfläche zu verbergen weiß. (Die Erzählungsweise von Gn 22 ist in der Konfrontation mit homerischer Erzählungsweise meisterhaft analysiert in dem ersten Kapitel des Buches Mimesis von Erich Auerbach, 1946, S. 7-30: Die Narbe des Odysseus.) Schon die erste Rede Gottes an Abraham, die von diesem „Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast“ (V. 2), fordert, läßt die innere menschliche Beteiligung des biblischen Erzählers nicht überhören. Die Behutsamkeit, mit der Abraham dann nach V. 6 Messer und Feuer in seine Hand nimmt, das ohne Gefahr zu tragende Holz dagegen seinem Sohne überläßt, und das verhaltene Gespräch über das Opfertier beim Aufstieg auf den Berg (V. 7 f.), machen diese Akzente verstärkt hörbar. Der Erzähler ist schon mit seinem ganzen Empfinden in dieser Geschichte mit dabei – diese soll darum auch vom Prediger nicht auf ein nacktes theologisches Knochengerüst reduziert werden und Fleisch und Blut beiseitelassen. Es geht um den Angriff auf das volle menschliche Empfinden des Vaters.
Aber Isaak ist mehr als der Sohn irgendeines Vaters. Im vorhergehenden Kap. 21 hatte der gleiche elohistische Erzähler davon berichtet, daß Abraham zunächst nicht nur den Einzigen hatte, sondern noch einen zweiten: Ismael. Diesen hat er aber auf ausdrückliches Geheiß Gottes aus seinem Hause vertrieben. Nur „in Isaak soll dir Same genannt werden“. So hatte in 21, 12 das ausdrückliche göttliche Versprechen gelautet, das Abraham zur Konzentrierung all seiner Hoffnung auf den Einzigen drängte. Diesen Einzigen soll er nun Gott zum Opfer darbringen. In Isaak liegt sonach nicht nur das Stück menschlichen Reichtums, des sich der Vater im Sohne freut. In ihm ist alle göttliche Zusage beschlossen. Und wer diese Geschichte an ihrem besonderen Orte in der Gesamtverkündigung des Alten Testamentes sieht, wird erschrocken in noch größerer Tiefe erzittern: In Isaak liegt ja alle Verheißung Israels – eine Verheißung, die nach der ganzen Anlage der biblischen Urgeschichte als die eigentliche Verheißung über der ganzen, in Sünde zerfallenen Menschengeschichte gehört sein möchte.
So läßt das Mithören der Kontextgeschichte erkennen, daß die ganze Erzählung in und unter dem in ihr ausgesagten menschlich Bewegenden die große Geschichte der göttlichen Verheißung, und d. h. die Geschichte des Herabkommens und des Sich-Verpfändens Gottes an die Menschen zu ihrem Gegenstände hat. Die Geschichte will in ihrer Weise davon reden, wie es da zugeht, wo Gott zum Menschen kommt und zwar nicht nur mit einer Neben-Sache zum Menschen kommt, sondern in der Absicht, sein Größtes, Heilvollstes am Menschen zu tun.
III.
So gehört aber beginnt die Geschichte über all das menschlich Befremdliche hinaus in ihrer eigentlichen theologischen Aussage ganz unerträglich zu werden. Gott fordert vom Träger der Verheißung, daß er die Verheißung in der Gestalt des Sohnes, des Einzigen, den er lieb hat, in die Hände Gottes zurücklege. Wohlgemerkt, es ist nicht nur von einem rätselhaft-unbegreiflichen Geschick geredet, das Abraham den Isaak und in ihm die Verheißung nimmt – so wie eben einmal der Tod rätselhaft in ein Leben hineingreifen kann. Abraham ist aufgefordert, selber hinzugehen und, was ihm Pfand der Verheißung ist, in die Hände Gottes zurückzulegen. Er soll dieses Zurückgeben nicht nur zürnend und innerlich rebellierend leiden, sondern soll aus seiner eigenen vollen Freiheit heraus dazu willig werden. Man ist geneigt, Gott hier nach der inneren Logik seines Tuns zu befragen. Mehr noch: Man ist versucht, hier in Gottes Willen die sinnlose Laune zu entdecken, die heute gibt, morgen nimmt, die brutal ihr Herrenrecht anmeldet, wo sie sich eben noch in Gnaden zuzuwenden schien. Man ist, in scharfer theologischer Formulierung gesprochen, versucht, hier die Frage zu stellen, ob dieser Gott als der übermächtig Fordernde nicht allein mehr in der Kategorie des „Gesetzes“ zu verstehen ist.
E. Hirsch hat in seiner Schrift über „Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, 1936“ in einem scharfsinnigen Meditationsvorgang neben dem Büchlein Jona und der Goliathgeschichte auch Gn 22 auf diesen Gott des Gesetzes hin durchsichtig zu machen versucht. Es ist die aufs Höchste gesteigerte Forderung menschlicher Leistung, die sich nach ihm in Gn 22 ausspricht. Indem Gott Übermenschliches fordert und Abraham dieser Forderung gehorcht, ist er – so deutet in der Tat die spätere jüdische Exegese die Geschichte – zum übermenschlich großen Prototyp des Gesetzesgehorsamen geworden. Begreiflich, so meint diese jüngere jüdische Exegese, daß von solchem Gehorsam her das Gottesvolk Israel seinen Anfang nimmt. Die Tatsache, daß Sara, die erst hinterher von der Gefährdung ihres Sohnes erfährt, sechs Schreie ausstößt und unmittelbar darauf stirbt, beleuchtet von hinten her, wie übermenschlich der Gehorsam Abrahams gewesen war (vgl. Strack-Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch IV 182). So kommt Hirsch zu der Folgerung, daß „diese Geschichte von einer Begegnung mit einem Gotte erzählt, der anders an uns handelt als der, an den wir glauben, wenn wir an den Vater Jesu Christi glauben“ (25). Er fordert Sinnwidriges. Er ist „die unheimliche Heischemacht, mit der umzugehen den Menschen zerbricht“ (25). Sonach ist „das, was uns mit der Geschichte Gn 22 verbindet, … nicht unser christlicher Glaube, sondern das in der Wirklichkeit unseres Lebens uns gegebene Gottesverhältnis, das von diesem Glauben seiner eigenen Macht und Gültigkeit entsetzt werden soll“ (30 f.). Christliche Predigt kann nach Hirsch nur das Zerbrechen der Aussage von Gn 22 an Christus sichtbar machen.
IV.
Hirschs Einwand wird nicht dadurch abgewehrt, daß der Ausleger in eine irgendwie geartete Typologie hineinflüchtet, wozu das Bild vom Hinaufsteigen auf den Berg, auf dem dann das Opfer dargebracht wird, oder die in Röm 8, 32 in der Beziehung auf Gottes Tun mit Christus wiederkehrende Rede, daß Gott „seines eigenen Sohnes nicht verschont hat“ (dazu Gn 22, 12. 16), nur zu leicht verführen möchte. Die Beweglichkeit, mit der Melito von Sardes in vier verschiedenen Predigtfragmenten bald den Widder, bald Isaak als Typen Christi versteht, das Gesträuch, in dem sich der Widder verfangen hat, auf das Kreuz deutet und gar aus dem hebräischen Wort (sebăk) „Gestrüpp“ die Bedeutung „Vergebung“ heraushören will, kann einem wohl deutlich machen, wie schwankend und vieldeutig und darum auch innerlich ungewiß dieser Weg ist. Vgl. dazu David Lerch, Isaaks Opferung christlich gedeutet, 1950, 29-38.
Aber auch die seit Origenes in der alten Kirche beliebte Deutung der Gehorsamsprobe Abrahams als eines Kampfes zwischen Fleisch und Geist, zwischen der natürlichen Liebe und der Liebe zu Gott (Lerch, a. a. O. 85-92) führt nicht aus dem Bereich des gesetzlichen Verständnisses heraus, sondern lokalisiert den Kampf nur näher in einem dualistisch verstandenen Menschenbild.
V.
Das richtige Verständnis hängt an der strikten Beobachtung des Kontextes, in dem Gn 22 steht. Die Geschichte d^r „Prüfung“ Abrahams (V. 1) ist nicht als eine in sich ruhende und in sich abgeschlossene Geschichte eines ungeheuren Gehorsams verstanden, sondern ruht im Ganzen einer weit über die vorliegende Gehorsamsprobe zurückreichenden Geschichte göttlicher Verheißung, die zu Ende der vorliegenden Erzählung in der Erweiterung V. 15-18 neu aktualisiert, aber keineswegs etwa erst durch diese Gehorsamstat neu begründet wird.
Die Forderung, die Gott an Abraham stellt, ist nicht die irrationallaunische Tat eines übermächtigen Herrn und Gesetzgebers, sondern zielt mitten in die Wirklichkeit eben der Verheißung dieses Gottes hinein. Indem Abraham abgefordert wird, seinen Sohn Gott zurückzugeben, wird er gefragt, ob er das ihm gegebene Verheißungsgut und -Unterpfand als ein Gut und Unterpfand versteht, in dem er sich, nachdem er es einmal bekommen hat, selber behaupten kann, notfalls auch gegen Gott, den Geber der Verheißung. V. 12 und 16 formulieren vom Ende her die entscheidende Aussage: Abraham hat Gott seinen Sohn „nicht vorenthalten“. Die Verheißung bleibt freie Gabe des Verheißenden und wird nie neutraler „Besitz“, etwas zu Behauptendes, ein „Raub“ im Sinne des harpagmós von Phil 2, 6. Abraham ehrt in seinem Glauben allezeit den Geber der Gabe und isoliert die Gabe nicht von ihrem Geber.
Die Geschichte will deutlich machen, daß das Leben unter der göttlichen Gabe immer in dieser Lebendigkeit steht und auch allezeit von Gott daraufhin befragt werden kann, ob es von dieser lebendigen Beziehung zum Geber weiß. Indem Gott „prüft“, „versucht“, offenbart er sich zugleich über dem Menschen als der Lebendige, der, obwohl er der Allmächtige, Allgegenwärtige und Allwissende ist, wie ihn Ps 139 beschreibt, und der Gott, der auch in seinem Handeln an Abraham von der Schöpfung, die der Anfang des 1. Mosebuches beschrieb, herkommt, doch dem Menschen einen Ort der Freiheit gegeben hat, an dem er von Gott selber auf seine Gottesfurcht hin befragt wird. Ja, die Geschichte bezeugt den „lebendigen Gott“ so kühn, daß sie ihn als den zeigt, der über der Prüfung des Menschen selber seinen Atem anhält und wartet, um schließlich voller Freude festzustellen: „Nun habe ich erkannt, daß du gottesfürchtig bist“ (V. 12). Die Geschichte der göttlichen Verheißung ist, so will Gn 22 sagen, nicht die Geschichte eines Gnadenfatums, sondern auch immer neu die Geschichte des ernsthaften Fragens von Gott her, das des Menschen Antwort erwartet.
Zugleich aber will die Erzählung bezeugen, daß der Glaubende sich selbst in die Dunkelheit solcher „Prüfung“ hineinwagen darf, indem Gott da, wo einer im Glauben wagt, sich in voller Ungeschütztheit um Gottes willen dem Verzicht auf alle Pfänder der Verheißung preiszugeben, diesen die Wahrheit der über ihm bleibenden Verheißung neu erfahren läßt.
VI.
Hebr 11, 19 deutet den Gehorsam Abrahams durch Heranziehung des Glaubens an die Totenauferweckung. „Er hielt nämlich dafür, daß Gott mächtig sei, auch von den Toten zu erwecken; und deshalb erhielt er ihn auch (gerade) dadurch zurück, daß er ihn preisgab“ (Zürcherbibel; Lutherbibel: „daher er auch ihn zum Vorbild wiederbekam“). In dieser Deutung, die auch bei den Reformatoren wiederkehrt (Lerch, a. a. O. 156-202), ist ohne Zweifel das alttestamentliche Verständnis des Textes überschritten. In dessen alttestamentlichem Selbstverständnis wird nichts von diesem Hilfsgedanken Abrahams sichtbar. Noch unerbittlicher, totaler ist hier Abraham ganz allein auf Gott selber geworfen – den Gott, der doch wohl auch da, wo er die Verheißung aufzuheben scheint, nicht von seiner Treue abgehen kann.
Im Gespräch, das Abraham beim Anstieg auf den Berg mit seinem Sohne führt, wird diese Mitte seiner Gedanken in seiner Antwort an den Sohn blitzartig beleuchtet. Mitten in die Wunde des väterlichen Herzens hinein hat der Sohn mit seiner arglos-verwunderten Frage nach dem scheinbar aus Versehen vergessenen Opfertier gestoßen. Wie könnte nun hier die Verzweiflung des Vaters gleich einem Sturzbach herausbrechen! Stattdessen ist die Antwort zu hören: „Gott wird sich ein Schaf zum Brandopfer ersehen, mein Sohn.“ In diesem Wort ist kein heimliches Wissen um einen möglichen Ausweg zu erkennen. Hat sich Gott denn sein Opfertier nicht schon ersehen und es dem Abraham in seinem Befehl zur Opferung des Sohnes ausdrücklich genannt? Indem Abraham nicht fatalistisch im Perfekt das Faktum als Faktum hinstellt: „Gott hat sich dich zum Opfertier ersehen“, läßt er Gottes Wort, dem zu gehorchen er sich auf den Weg aufgemacht hat, in seiner imperfektisch (-futurischen) Formulierung noch ganz bei dem lebendigen Gott liegen: „Gott wird sichs ersehen“, so wie etwa Ezechiel nach Ez 37, 3 im Angesicht des Knochenfeldes, bei dem alles perfectum zu sein scheint, von Gott befragt: „Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig werden?“, antwortet: „Herr Gott, du weißt es“, und darin alles in die Hände und Freiheit des lebendigen Gottes zurücklegt. Weil Gott der Lebendige ist, darum liegt alles bis zu dem Augenblick, wo es vollzogen sein wird, frei in den Händen Gottes. Keine Bitte Abrahams an Gott wird hörbar, so wie auch kein Rebellieren zu vernehmen ist. Abraham ist auf dem Weg, den Gott ihm geboten hat. Er hat nicht gezögert, sich auf diesen Weg aufzumachen. Aber alles liegt ganz in der Hand Gottes, der im Kommenden Schritt um Schritt weisen wird.
VII.
So will denn auch der Abschluß der Geschichte nicht als ein happy end verstanden sein, sondern als Zeugnis von dem Treubleiben Gottes in seiner Verheißung. Daß Gott den Menschen prüft, heißt nicht, daß er ihn um seine Verheißung betrügen möchte. Es heißt allein, daß Gott sich immer neu als der Herr seiner Verheißung erweisen und auch von seinen Gläubigen als solcher anerkannt wissen möchte.
Der Zusatz V. 15-18 aber will sichtbar machen, daß in solcher „Gottesfurcht“ (V. 12) des von der Verheißung Angeredeten die Verheißung ihre leuchtende Neubestätigung erfährt. Es ist eine gründliche Verzeichnung der Geschichte, wenn das Judentum und in seinem Gefolge auch die Deutung von Hirsch die Erwählung Israels in seinem Ahnen Abraham als Lohn dieser uranfänglichen Gehorsamstat des Patriarchen verstanden wissen will. Die Erwählung Abrahams liegt Gn 22 unzweideutig voraus. Wohl aber trägt die Gottesfurcht Abrahams ihren „Lohn“ darin in sich, daß auf seinen Gehorsam hin die Verheißung erneut in voller Offenheit im Munde des vom Himmel her Redenden dasteht. Es ist der „Lohn“ des Gehorsams, daß seine Augen in neuer Weise hell werden für die schon zuvor gegebene Gabe Gottes.
Eine Reflexion darüber, was wohl geschehen wäre, wenn Abraham dem Gebote Gottes nicht gehorcht hätte, liegt völlig außerhalb des Gedankenkreises der Erzählung von Gn 22. Wohl aber darf man bemerken, daß der biblische Erzähler durchaus auch Geschehnisse des vollen oder teilweisen Versagens des Verheißungsträgers kennt (Abrahams Lüge Gn 12, 10-20), ohne daß um dessentwillen Gottes gnädiges Handeln von Abraham abließe. So sehr Gott sehen möchte, daß seine Verheißung in der Lebendigkeit des sie empfangenden Glaubensgehorsams zum Licht würde, das auch über die anderen Menschen hin leuchtet, so sehr bleibt doch die Gewißheit unangetastet, daß Gott in der Geschichte seiner Verheißung auch aller Widerstände des Ungehorsams Herr zu werden vermag.
VIII.
Eine Predigt über Gn 22 wird sonach beides zur Geltung bringen müssen: Die Frage, die von diesem Text her an alle Frömmigkeit und alle Gewißheit des erfahrenen Segens gerichtet wird, ob sie Gott wirklich noch als den Herrn und Eigentümer seiner Verheißung kennt und anerkennt, und zugleich die Versicherung, daß Gott hinter seine einmal gegebene Zusage nicht zurückweicht.
Sie wird zeigen müssen, wie von Gn 22 her alle Christlichkeit sich fragen lassen muß, ob sie ihre frommen Güter meint: den gesicherten Gottesdienst, in dem das Wort ausgerichtet wird, die umsicherte Liturgie, welche die sakramentalen Zusagen behütet, die kirchlichen Institutionen und das Ansehen ihrer Ämter in der Welt, die christlichen Sicherungen des öffentlichen Lebens, die ganzen Sicherungen des christlichen Abendlandes. Sie wird sich fragen lassen müssen, ob sie all diese Güter und Institutionen und Sicherungen meint, oder ob sie um all diese Dinge noch weiß als um Gaben des Herrn der Verheißung, und in allem zuletzt doch nur ihn allein meint, auch da, wo er, um sich in der Gabe neu als der Herr erkennbar zu machen, daran gehen könnte, der Gemeinde Gabe um Gabe wieder abzufordern.
Und ganz ebenso ist der einzelne Christ in seinem Leben im ganzen Umkreis dessen, was er als Gottes Segen empfangen hat und wofür er Gott als für Versichtbarungen seines gnädigen Wortes dankt, gefragt, ob er nun diesen Segensbereich als das ihm ausgehändigte Gut, auf das er selbst Gott gegenüber Anspruch hat, meint verstehen zu dürfen, oder ob er auch hier allezeit darum weiß, daß in den Gaben der Geber als Herr aller Gaben bei ihm sein will. Hiob ist das Beispiel dessen, der es sich gefallen lassen muß, Pfand um Pfand zurückzugeben (im Unterschied zu Abraham ist es ihm allerdings nicht auferlegt, das Opfer in dreitägiger Reise selber an den Altar Gottes heranzuführen), und der dennoch nicht daran zweifeln soll, daß Gottes Gnade über ihm steht.
Man wird bei alledem nicht nur an die Geschehnisse im Bereich einer offen bedrängten Kirche zu denken haben, wo sich der Kirchenleitung wie dem Einzelnen die Frage stellt, ob sie bereit sind, Gott Ansehen und Ämter und Zukunftsmöglichkeiten auf seinen Altar zu legen, um nur gehorsam bei seinem Worte zu bleiben, oder ob sie Gottes lebendiges Gebot zum Schweigen bringen, um „Positionen“, um äußerliche Geltung zu retten. Die Forderung zum Verzicht auf die „schönen Gottesdienste“ könnte durchaus auch einmal vom Nächsten, der in seinem Hunger und seiner Bedrängnis und seiner Kirchenferne die Kirche zu neuer Armut fordert, kommen. Der Priester und der Levit von Lk 10, 25-37, die möglicherweise eilenden Fußes zu den „schönen Gottesdiensten“ im Tempel strebten und keine Zeit hatten, den unter die Räuber Gefallenen am Wege aufzulesen, sind in ihrer Weise wohl auch Vertreter jener Haltung, die nicht bereit ist, Gott den Sohn darzubringen.
Ebenso wird dann aber aus Gn 22 das Versprechen gehört werden dürfen, daß Gott da, wo eine Kirche oder der einzelne Glaubende trotz der gefährdeten Zukunft, die vor ihnen liegt, bereit sind, auf Gottes Wort zu hören und auch ihr Köstlichstes Gott nicht vorzuenthalten, diese Kirche und diesen einzelnen Glaubenden unter die Verheißung stellt, daß seine Zusage nicht erlöschen werde, sondern gerade hier recht voll zu leuchten beginne. Wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren, wer es aber verliert um meinetwillen, der wird es gewinnen, sagt Christus.
IX.
Und so wird denn wohl auch in der letzten Tiefe sichtbar, daß die Geschichte, die Abraham widerfährt, von der Geschichte Christi und seiner Zusage nicht zu trennen ist. Phil 2, 6 bezeugt es von Jesus Christus, daß er, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, es nicht für einen Raub, d. h. für ein mit Hörnern und Zähnen zu verteidigendes frommes Raubgut, hielt, Gott gleich zu sein, sondern sich entäußerte und Knechtsgestalt annahm. Im Lichte dieses Geschehens wird auch Gn 22 verkündigt werden dürfen. „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war“ (Phil 2, 5).
Quelle: Georg Eichholz (Hrsg.), Herr, tue meine Lippen auf. Eine Predigthilfe, Bd. 1, Die alttestamentlichen Perikopen, Wuppertal-Barmen: Emil Müller Verlag, 3. A., 1964, Seiten 167-176.