Paul Schempp Weihnachtspredigt über Galater 4,4-7 von 1942: „Seit Christus geboren ist, hat die Zeit und die Ge­schichte eigentlich gar nichts mehr zu bedeuten und zu sa­gen: Sie hat ihre Erfüllung und deshalb haben wir von der Zeit gar nichts mehr zu erhoffen, aber auch gar nichts mehr zu be­fürchten.“

Eine höchst anspruchsvolle Weihnachtspredigt hatte Paul Schempp seiner Gemeinde in Iptingen zu Weihnachten 1942 zugemutet. Dass er vier Tage zuvor standesamtlich als Pfarrer seinen Austritt aus der württembergischen Landeskirche vollzogen hatte, dürfte im Dorf (noch) nicht allgemein bekannt gewesen sein:

Weihnachtspredigt über Galater 4,4-7

Von Paul Schempp

»Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste, daß wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr denn Kinder seid, hat Gott gesandt den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der schreit: Abba, lieber Vater! Also ist nun hier kein Knecht mehr, sondern eitel Kinder; sind’s aber Kinder, so sind’s auch Erben Gottes durch Christum.« (Galater 4,4-7)

Liebe Gemeinde!

Die Zeit wurde erfüllt! Das heißt einmal: Die von Gott vorge­sehene Zeit, nach der sich alle Verheißungen erfüllen sollten, ist abgelaufen. Es waren gewaltige Versprechungen, die auf ihre Erlösung warteten. Unter immer neuen Namen und Wor­ten das Versprechen einer voll­kommenen Änderung, Hilfe und Neuordnung des menschlichen Daseins, das Versprechen des Segens, der Bundesgenossenschaft: Gottes, des Friedens, der Erneuerung des Herzens und Geistes der Menschen und dann auch des Lebens, ein Land der Fülle, der Freiheit, der Ge­rechtigkeit, Erlösung von aller Unterdrückung, und Feind­schaft, der unsichtbaren und der sichtbaren, kurz das Verspre­chen der wirklichen Glückseligkeit der Menschen auf dieser Erde unter Gottes eigener, unmittelbarer Herrschaft.

Die Hoffnungen der Menschen gehen immer wieder hoch hinauf. Ach, sie möchten doch so gerne ein friedliches, glück­liches, einträchtiges, gerechtes Dasein; ach, was wird immer wie­der reformiert und revolutioniert und Krieg geführt für eine Besserung und Änderung der Lebensmöglichkeiten, für Freiheit, Brot, Ordnung und Friede. Man versucht es von au­ßen her durch Gesetze und Gestaltung der Lebensbedingun­gen, man versucht es von innen her durch Belehrung und Bil­dung, und immer wieder stürzt der Bau zusammen oder wird gewaltsam niedergerissen, und was dem einen begrüßens­wert erscheint, das verabscheut der andere.

Aber mag man auch heute noch und wieder nach so vielen Enttäuschungen der Geschichte der Menschheit eher dem Volke Großes versprechen – so hoch hinauf reicht doch keine Hoff­nung, so hoch hinauf wagt sich kein Versprechen wie die Verheißungen des Alten Bundes. Allge­meine Seligkeit auf die­ser Erde ist törichte Hoffnung, ist ein völlig unglaubwürdiges Verspre­chen. Darin sind wir alle einig, daß es so etwas ein­fach nicht gibt, solange die Men­schen noch Böses tun und so­lange noch Leid und Tod ihr Schicksal ist. Aber die Bibel wi­derspricht unserem Unglauben, sie übersteigt himmelhoch die Wunschträume der Men­schen und erst recht unsere Ar­mut an Hoffnung, unsere Ergebung ins Dasein, unsere Nüch­ternheit und unsere dumpfe Verzweiflung.

Bedenken wir, was es für eine Zeit war, die durchzogen war von solch überschwenglichen Versprechungen; lange Zeit und böse Zeit! Jahrhunderte über Jahrhunderte, gefüllt mit all den Anstrengungen und Ermüdungen, mit all den Sünden und Leiden, von denen jede Generation in neuer Weise gezeichnet wird. Und insbesondere Israels Weg war ein Existenzkampf nach außen und innen, und der größte Feind war Unglaube und Abfall von Gott. Vom Land, da Milch und Honig fließen sollte, war Jakob wegen der Hungersnot geflohen, und die Ge­schich­te der nach Jahrhunderten Zurückgekehrten hieß wie­der: Schwert und Hunger, Krieg und Zer­spaltung, Knecht­schaft und Vertreibung, bis zu den blutigsten Verfolgungen der Griechen­zeit und dem Druck der römischen Gewaltherr­schaft.

Mußten da nicht die Verheißungen Gottes erst recht wie ein Spott und Unsinn erscheinen? Mußten da nicht für Träu­mer gelten, die noch an eine Erfüllung jener großen Verspre­chungen glaubten«? Und doch wird die Zeit erfüllt mit dem in aller Heimlichkeit geschehenen Wunder von Bethlehem.

Aber die Erfüllung der Zeit hat noch eine zweite Bedeu­tung neben dem Ablauf der Wartezeit auf Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung. Die Zeit selber ward erfüllt, voll, reif gewor­den, zum Abschluß und Ende gelangt. Wir rechnen unsere Zeit von Christi Geburt an, teilen die Zeit ein in diese zwei Teile: vor und nach Christi Geburt, und was für uns Weltgeschichte ist, umfaßt eigentlich nur die Zeit seit Weih­nachten, diese 1942 Jahre. Und doch ist das nur die Endzeit, die abnehmende Zeit, nur der Rest an Zeit, die überreife Zeit. Uns scheint das ein gewaltiger Zeitraum zu sein, und doch ist’s nur wie die kurze Spanne, in der das reife Obst zu Boden fällt. Viel, viel reicher scheint uns der Inhalt dieser Zeit als das mithin in Dunkel ge­hüllte Altertum, und doch ist alles, was seit Christi Geburt und Tod geschah, nur der Aus­klang, das Sterben der Zeit, nachdem sie ihre Erfüllung und damit das Ende gefunden hat. Wir können es uns nicht tief genug ein­prägen: Seit Christus geboren ist, hat die Zeit und die Ge­schichte eigentlich gar nichts mehr zu bedeuten und zu sa­gen: Sie hat ihre Erfüllung und deshalb haben wir von der Zeit gar nichts mehr zu erhoffen, aber auch gar nichts mehr zu be­fürchten.

Gott hat seinen Sohn in die Zeit gesandt, als Mensch vom Weib geboren, in alle zeitliche Beschränkung, Ordnung und Enge hinein, und damit ist die Entscheidung gefallen. Wer seit damals von der Zeit mehr und Größeres erwartet, als was in der Sendung des Sohnes schon geschehen ist, der täuscht sich gründlich, der kann nur an falsche Propheten glauben, oder ist selber ein falscher Prophet. Aber wer seit der Sendung des Sohnes an der Zeit und Geschichte verzweifeln will, weil es immer schlimmer zu werden scheint, der ist auch im Irrtum und Un­recht. Wenn die Zeit im Sohn Gottes erfüllt ward, so hat sie ihren Sinn und ihr Ziel erreicht, dann ist sie bloß noch Vergänglichkeit, dann hat man sich nicht zu verwundern und aufzure­gen darüber, daß die Endzeit eben Zeit ist, die stirbt.

Du klagst: Was soll dann noch werden? Wohin soll die Menschheit noch kommen, die sich so grausam zerfleischt? Du hast recht. Weiter als bis zur Krippe in Bethlehem kann die Zeit nicht kommen, da ist sie erfüllt. Jeder Versuch, die Zeit noch anders zu füllen, ist nicht bloß über­flüssig und ver­geblich, sondern ist eine Anmaßung und eine Empörung ge­gen Gott. Das ist so töricht, wie wenn man einschenken will in ein volles Glas, und das ist so überheblich, wie wenn man das Licht der Sonne mit einer Kerze noch erhellen wollte.

Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn. Das ist so grundstürzend, so alle Zeiten, alles Leben, alle Geschichte, all das wogende Meer der Millionen Menschenschicksale mit Erfüllung und Vollendung krönend, daß schon die Engelchöre jubilieren müssen und anbeten müssen vor dem Wunder, daß die unaufhaltsam alles zermalmende Zeit, die Freud und Leid, Reiche und Völker, Glanz und Elend gebiert und verwüstet, hier in Bethlehem im Kind Gottes ruht, daß hier in der Zeit Gott geehrt und Friede hergestellt und das Wohlgefallen des Schöp­fers errungen ist.

Kein Wunder, daß an Weihnachten immer wieder so grell der Gegensatz in Erscheinung tritt zwischen dem, was die En­gel sehen und singen und das die Predigt der Christenheit an­kün­digt, und dem, was die harte zeitliche Wirklichkeit uner­bittlich dazwischenruft. Ein bißchen vom Licht der Weih­nacht möchte jeder erfahren, ein bißchen Frieden möchte je­der erfühlen, aber stärker und gültiger scheint jedem das Dun­kel und der Unfriede der Zeit. Da seufzt man doch erst recht nach dem Ende des Krieges, nach Heimkehr und Wiederse­hen, nach Befreiung von all der Last und der Anfechtung der Zeit, und Weihnachten ist doch nur eine menschliche Erho­lung und Ruhepause, nur ein dem Gefühl so wohltuendes bißchen Theater voll Erinne­rung und Sehnsucht. Aber Weih­nachten ist doch echte, wirkliche Vollendung der Zeit und da­mit ihr Begräbnis, und es muß schon so sein, daß uns dieses Begräbnis auch so trüb und trost­los, auch so mit künstlicher Feierlichkeit begangen erscheint, wie alle menschlichen Be­gräb­nisse.

Christus hat die Zeit erfüllt, das heißt, er hat die Sendung Gottes, er hat das Menschsein, und er hat das Gesetz erfüllt.

Gott hat seinen Sohn gesandt: Gott hat den Tod, unmeßbares Leid, entsetzliche Gerichte und Katastrophen, aber auch zahllose Hilfe, Beweise der Geduld, Nahrung und Ordnung, ja er hat Gesetz und Propheten gesandt in die Zeit, um an sei­ne Herrschaft, seinen Zorn und seine Güte zu erinnern. Aber mit der Sendung des Sohnes ist sein eigener, ewiger Wille geoffenbart und erfüllt. Gottes bevollmächtigter Stellvertreter hat die Menschenwelt besucht; angekündigt, aber nicht aufge­nommen, mit Vollmacht ausgestattet, aber nicht anerkannt. Und an dieser Sendung in die Zeit, die launische Herrin der Welt, die den Menschen ständig betört und be­trügt, so daß er sie immer wieder lobt und immer wieder verflucht, an dieser Sendung ist die Zeit zerbrochen. Jesus hat nicht seiner Zeit ge­horcht und nicht seiner Zeit widersprochen, sein Leben in der Zeit war absolute Freiheit von der Zeit. Sucht bei ihm nach all den großen, im­mer wiederkehrenden zeitgeschichtlichen Fra­gen und Antworten nach Ehre, Handel, Krieg, Staat, Kirchen­ordnung, Kunst, Medizin, Erziehung, Seelenführung – und ihr findet nirgends zeitgeschichtliche Lösungen. Ihr findet immer ganze ewig gültige Entscheidungen und Be­scheidun­gen, keine Lehr- und Gesetzbücher, sondern die Forderung von Glaube und Nach­folge: »Glaubt an mich und glaubt an Gott – ohne mich könnt ihr nichts tun, mit mir könnt ihr al­les tun mit Ausnahme der Sünde« (vgl. Joh. 14,5 und 15,5).

Seiner Sendung und dem damit durch ihn vollzogenen Willen Gottes zu unserer Rettung glau­ben, befreit zu der sieg­reichen Liebe, Geduld, Tatkraft, Leidens- und Kampfbereit­schaft, die auch unser Leben zu einer Gesandtschaft macht, in der Zeit der Ewigkeit zu dienen und so frei, so dienstbar, so nüchtern und so selig zu sein, daß die Zeit ihre Verbitterung und ihre Schatten verliert. Durch seine Sendung ist alle Zeit erfüllt mit Ewigkeit: alles Scheines be­raubt auch unsre Zeit.

Da gilt ganz radikal: »Alles ist eitel, alles hat seine Zeit, würgen und heilen, brechen und bau­en, weinen und lachen, klagen und tanzen; alles was kommt, ist eitel; Kindheit und Jugend ist eitel.« (Vgl. Pred. 3,1-9) Aber nun erst recht alle Zeit erleuchtet von oben: »Er tut alles zu sei­ner Zeit.« »Iß dein Brot mit Freuden, denn dein Werk gefällt Gott.« »Alles, was dir zu Hän­den kommt, das tue frisch.« (Pred. 3,11; 9,7.10)

Da ist die verlorene Zeit vergeben durch den Sohn und die geschenkte Zeit gefüllt durch seine Gnade, daß alles zum Be­sten dienen muß, da gilt von unserer unseligen, vergänglichen Arbeit das kühne Apostelwort: »Ihr wisset, daß eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn!« (1Kor. 15,58) Da tönt in die Endzeit seit Bethlehem, mitten in den Zusammenbruch Babylons, in die wachsenden Schatten der sterbenden Zeit der Siegesruf: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach!« (Offb. 14,13)

Die Sendung des Sohnes ist die Erfüllung auch unserer Zeit. Er hat sie Gott ausgeliefert: »Meine Zeit steht in deinen Hän­den!« (Ps. 31,16) Bedenke, was das heißt im Blick auf diesen Krieg! Je schreiender unsere Zeit und selbst unser bedrücktes eigenes Herz der Weihnacht bzw. Engelsbotschaft widersprechen will, desto mehr Grund ist da, alle Zeit zu übertönen mit dem Jubel: … Wie hat uns Gott so lieb! Der Jubel gilt ja dem Kind in der Krippe, das in unbe­achteter Armut und Schande liegt und dem doch törichte Judenhirten und gehaßte Heiden hul­digen und vor dem sich der König fürchtet. Nicht der Krieg, sondern die Sendung des Sohnes erfüllt unsere Zeit, macht uns frei von ihr … und hilft uns, unsere Zeit erfüllen mit der Freiheit und dem Gehorsam, mit dem der Sohn dieser Zeit Leiden ge­heiligt hat.

Und Christus hat das Menschsein erfüllt «geboren von ei­nem Weibe«. Wir wissen, daß hier das Geheimnis der Geburt Jesu angerührt ist. Vom Weib geboren, das heißt im Mutter­schoß bereitet, unter Wehen geboren, in das Wehe des Menschendaseins gestellt. »Das Wort ward Fleisch«: so drückt es Johannes aus. (Joh. 1,14)

»Der Sohn des Vaters, Gott von Art, ein Gast in der Welt hier ward.« (EG 23,5) Gott von Art und vom Weib geboren – wer kann dies Geheimnis verstehend Diese Sendung ist auf jeden Fall eine Sendung von oben, aus dem Vaterschoß, eine Herabkunft, und so eigentlich und wirklich eine Niederkunft. Wo ist das Wunder der dauernden Schöpferherrlichkeit Gottes und damit auch das Wunder des menschlichen Daseins aus der Gnadenmacht Gottes uns näher vor Augen gestellt als bei der Geburt eines Kindleins? Und wo ist uns die Armseligkeit, Winzig­keit, Hilfsbedürftigkeit des zu stolzer Selbstherrlich­keit geneigten Menschen näher vor Augen gestellt als in einem neugeborenen Kindlein? Aber das Bild des Kindes in den Windeln im Stall ist nicht eines der alltäglichen Wunder der Natur, das von der kindlichen Unschuld in die Verwoben­heit der menschlichen Allverschuldung, in die besondere Ge­stalt eines umstrittenen Menschenschicksals hineinwächst. Das ist nicht ein Bild der Armseligkeit des Lebens über­haupt und auch kein Bild des holden Mutterglücks, sondern das ist eben Bethlehem: »Den aller Welt Kreis nie beschloß, der liegt in Marien Schoß; es ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein.« (EG 23,3)

»Geboren von einem Weibe«: Unter der Größe und Klein­heit eines menschlichen Daseins vom Kind zum Manne- verborgen die Herrlichkeit, Heiligkeit, Macht und Güte Got­tes! Das einzige nur von Gott erfüllte, nur gehorsame, nur an Gott gebundene, nur ihn verherrlichende und heiligende, das einzige reine Menschenleben aller Zeiten. Da staune und bete an! Ein Sohn ist uns gegeben (Jes. 9,5), der uns nicht anklagt, wie uns unsere eigenen leiblichen Kin­der anklagen; ein Sohn ist uns gegeben, der uns nicht genommen wird, wie uns unse­re Kinder genommen werden oder wir ihnen; ein Sohn ist uns gegeben, der Gott und der Welt gehört, der Ewigkeit und der Zeit, der Erb- und Segensträger Gottes in den Huch des dem Bösen bis zum Massen- und Brudermord verfallenen Menschseins hinein. Dies Kindlein vom Weib geboren, des Menschen Sohn, unser Bruder! Mordet ihn die Zeit auch, dann ist die Zeit Kains erfüllt, dann ist die Welt vom Anfang bis zum Ende überführt und angeklagt, aber auch von ihm trotzdem geliebt und frei gesprochen.

Wissen wir etwas davon, wie tief man sich über sich sel­ber schämen kann, wie sehr man unter seinem Wesen leiden kann, ja wie tief man sich auch für andere, für seine ganze Zeit schämen kann? Es müßte seltsam zugehen, wenn heute einer nicht die Ketten fühlen sollte, an denen die Menschheit in Schuld und Elend gerissen wird. Und es müßte seltsam zu­gehen, wenn heute einer bloß prahlen oder bloß schimpfen wollte und nicht auch an seine eigene Brust schlagen müßte. Und da ist nun Weihnachten, das Kindlein Gottes von einem Weibe geboren und damit von der Geburt bis zum Tod solida­risch, eines mit uns und unserem Schicksal und unserer Schuld. Er sondert sich nicht ab, er empört sich nicht. »Gar heimlich führt’ er sein’ Gewalt, er ging in meiner armen G’stalt, den Teufel wollt er fangen« (EG 341,6).

Unsere Zeit kann mit Recht sagen: Der Teufel ist los. Weihnachten sagt mit Recht: Der Teufel ist gefangen. »Wenn wir dich haben, kann uns nicht schaden Teufel, Welt, Sünd oder Tod« (EG 398,2). Darum ward die Zeit erfüllt, indem er das Menschsein erfüllte, voll Vergebung, voll Freiheit, voll Frieden, voll der Herrschaft Gottes machte und noch aus den letzten Trüm­mern der Welt wird es tönen: »Gelobet seist du Jesus Christ, daß du Mensch geboren bist.« (EG 23,1)

Und er ist unter das Gesetz getan: unter das Gesetz Gottes und damit unter den Segen und Fluch dieses heiligen Geset­zes: »Gott über alle Dinge zu fürchten und zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst.« (Vgl. Mt. 22,37-39) Diese Gesetz hat er und nur er allein erfüllt, nicht als eine ihm leichte Aufgabe und selbstverständliche Sache, sondern in einem Leidensgang der Anfechtung und des Kampfes, unter Gebet und Schreien, in Geduld und Wachsamkeit, mit Entschlossenheit und ganzer Selbstverleugnung.

Und so mußte das Gesetz, das die Menschen zu seiner Verfluchung gebrauchten, ihn freispre­chen und der Tod als der Sünde Sold (vgl. Röm. 6,23) ihn zurückgeben, und so hat er Un­schuld und Seligkeit wiedergebracht und ist auferstanden, um uns zu ver­treten und gerecht zu sprechen vor Gott.

Das ist ja die eigentliche und tiefste Not des Menschen, daß er von dem Gesetz, das ihn zu beschützen und zu heili­gen und unter Gottes Herrschaft in sein Reich zu bringen ge­geben wurde, schlechthin gefangen, in Schuld, Not und Tod gehalten ist und Gottes Zorn uns dahin­fahren läßt wie Ge­richtete, Verfluchte, Verworfene. Das Gesetz, das zum Guten, zur Voll­kommenheit, zur Reinheit, zur Umkehrung unserer Gesinnung verpflichtet, das ist unsere Hölle. An ihm wird un­ser bestes Streben, unsere Beteuerung reinster Absichten ein­fach zu Schanden. Wir wollen es aufrichten und greifen zum tödlichen Schwert – oder werden Heuch­ler, die den Bruder richten und selber nicht halten, was sie gebieten. Wir wollen ihm entgehen und fallen erst recht unter Gottes Gericht oder auch dazuhin schon unter menschliche Strafe.

Gerade vom Gehorsam Jesu ist unser aller Schuld ins Grenzenlose, Unabtragbare gestiegen und offenbar geworden, und doch ist seine Erfüllung unsere Befreiung. Weihnachten ist das Licht über dem Dunkel des Erdreichs, über allen Schat­ten des Todes, nicht die Knechtschaft unter Gottes Willen, sondern die Befreiung zu Gottes Willen. »Bis daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste, daß wir die Kindschaft empfingen«. Um dieses Kindes, um dieses Bru­ders willen – »Euch ist heute der Heiland geboren!« (Lk. 2,11) – sind wir an Kin­des Statt angenommen, dürfen wir Gott unsern Vater nennen.

Deshalb ist’s wirklich das eigentliche Fest der Kinder, aber nicht, was wir daraus gemacht haben, ein Festtag für die Fa­milienjugend, sondern das Fest der Kinder Gottes. Nicht daß wir uns da möglichst kindlich benehmen, sondern daß wir da uns herzhaft freuen über den Vater im Himmel. Und wenn wir das nicht können, weil doch die Zeit uns Angst macht und jeder Grund genug zum Verzagen und Versagen hat, dann ist uns mit Jesus, dem vom heiligen Geist empfangenen Kin­de, auch der Geist gegeben, der Geist des Sohnes Gottes, der für uns schreit: Abba, lieber Vater! Nicht einmal das können wir selber, seufzen und beten und schrei­en, weil wir Weih­nachten nicht haben, sondern hören, den Zungen von Himmel und Erde glauben müssen und dürfen. Aber auch da, gerade da, wo jeder Mensch einem Kinde am ähn­lichsten werden kann, im bettelnden Glauben und glaubenden Betteln, da tritt Er für uns ein, da schreit sein Geist für uns: Vater, lieber Vater!

Sollten wir uns darüber nicht freuen können, ganz herz­lich und tief und ohne Vorbehalt ein­fach freuen können wie Kinder, dann wäre uns nicht zu helfen. Aber nicht wahr, es muß ja dieses Licht leuchten in der Finsternis (vgl. Joh 1,5) und muß Weihnachten jedes Jahr uns zum Trost, zur Rechtfertigung, Stärkung und Überwindung geschenkt sein, jedes Jahr neu er­füllen mit seliger Hoffnung, daß wir als Kinder des Vaters und unseres Herrn Jesu Christi und als Erben aller himmlischen Güter im Sterben der Zeit und der Zeit des Sterbens doch herzlich froh und dankbar bekennen: »Verwaiset sind die Kinder nicht mehr und vaterlos«, »drum freuet euch und prei­set, ihr Kinder, fern und nah! Der euch den Vater weiset, der heil’ge Christ ist da.« (Vgl. EKG 405,3 u. 4).

Amen.

Gehalten an Weihnachten 1942 in Iptingen.

Quelle: Paul Schempps Iptinger Jahre 1933-1943. Briefe und Predigten, Protokolle und Polemiken, hrsg. v. Matthias Morgenstern, Tübingen: TVT, 2000, S. 271-282.

Hier Schempps Predigt als pdf.

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